Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Stephan Rindlisbacher

 

Béatrice von Hirschhausen: Phantomgrenzen. Räume und Akteure in der Zeit neu denken. Göttingen: Wallstein, 2015. 224 S. = Phantomgrenzen im östlichen Europa, 1. ISBN: 978-3-8353-1658-4.

Inhaltsverzeichnis:

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Der vorliegende Sammelband ist ein Produkt des interdisziplinären Verbundprojekts Phantomgrenzen in Ostmitteleuropa, um das sich ein Netzwerk von Historikern, Geographen und Kulturwissenschaftlern gruppiert. Neben Béatrice von Hirschhausen haben zu diesem Band Claudia Kraft, Hannes Grandits, Thomas Serrier und Dietmar Müller jeweils einen Artikel beigetragen. Am Editionsprojekt sind neben dem Centre Marc Bloch (CMB) in Berlin auch zahlreiche universitäre Einrichtungen in Deutschland, Polen, Frankreich und der Schweiz beteiligt. Der Sammelband ist als Auftakt einer Buchreihe zu den Phantomgrenzen im östlichen Europa gedacht, die künftig im Wallstein-Verlag erscheinen soll.

Der Ausgangspunkt dieses programmatischen Sammelbandes ist die Beobachtung, dass im östlichen Europa, etwa bei Wahlergebnissen oder bei der Wasserversorgung, frappierende Übereinstimmungen mit längst nicht mehr existierenden Grenzverläufen bestehen. Mit dem Konzept der „Phantomgrenzen“ wollen die Autoren des Bandes versuchen, die historische Bedingtheit regionaler Unterschiede aus einer neuen Perspektive heraus zu betrachten (S. 7). Ziel ist es aber nicht, bestimmte imperiale Nostalgien zu rationalisieren. Vielmehr wollen die Autoren problematisieren, wie sich bestimmte Zuschreibungen zu einer Region etablieren und sich anschließend reproduzieren bzw. auch wieder verschwinden (S. 19). „Phantomgrenzen“ werden dabei weder als unveränderliche Strukturen noch als rein diskursive Phänomene verstanden, sondern als Ergebnis komplexer Wechselwirkungen zwischen Raumimagination, Raumerfahrung und Gestaltung des Raumes (S. 9). Diese drei Ebenen lehnen sich eng an das Raumkonzept von Henri Lefebvre an. Demnach fügt sich ein Raum als Einheit durch die Wahrnehmung (le perçu), durch die Entwürfe (le conçu) bestimmter Akteure (Wissenschaftler oder Politiker) sowie durch Bilder und Symbole, welche die Bewohner oder Benutzer eines Raumes verwenden, (le vécu) zu einem sowohl komplexen als auch in stetem Wandel begriffenen Ganzen zusammen (Henri Lefebvre: La production de l’espace. Paris 2000, hier S. 46–57).

Der Ansatz der „Phantomgrenzen“ versteht sich als interdisziplinär. So soll bei der Analyse sowohl auf das Instrumentarium der postcolonial studies als auch des mental mapping zurückgegriffen werden. Ferner sollen auch die von Reinhard Koselleck geprägten Begriffe „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ dazu dienen, die longue durée bestimmter Raumkonstellationen „jenseits von Determinismus und Dekonstruktivismus“ zu deuten (S. 38).

Ein Beispiel zur Untersuchung einer „Phantomgrenze“ bietet Béatrice von Hirsch­hausen in ihrem Beitrag. Gestützt auf Statistiken weist die Autorin zu Beginn auf folgendes Phänomen hin: Während sich in den Jahren unmittelbar nach 1989 die Anzahl der Haushalte mit fließendem Wasser in ganz Rumänien auf etwa demselben niedrigen Stand befand, entwickelte sich seither ein Gefälle heraus, welches das Land an der ehemaligen ungarisch-rumänischen Grenze teilt. Dieses Phänomen hat in Rumänien in den letzten Jahren zu heftigen Polemiken geführt. Durch die Mikroanalyse zweier Dörfer diesseits und jenseits des Karpatenbogens versucht die Autorin, mithilfe der Konzepte von Lefebvre und Koselleck der Gefahr eines „Balkanismus“ auszuweichen. Sie betrachtet dabei die Praktiken, Normen und Institutionen in den beiden Dörfern nicht als Struktur, sondern in Hinblick auf den „Erfahrungsraum“ und den „Erwartungshorizont“ der beteiligten Akteure (S. 100). Dies führt sie zum Schluss, dass es im ehemals österreichisch-ungarischen Dorf die Vorstellung einer eigenen kulturellen Superiorität gebe, die die jeweiligen Akteure dazu veranlasse, im Bau eines Badezimmers etwas Normales zu sehen, in das es sich lohne zu investieren. Demgegenüber fehle eine solche Diskurstradition im untersuchten Dorf, das zum alten Königreich Rumänien gehört hat. Dort werde vornehmlich nicht in Badezimmer, sondern vielmehr in repräsentative Objekte wie Flachbildfernseher und Torbögen über der Hofeinfahrt investiert (S. 103–105). Nach dem langen theoretischen Vorlauf zur Methode und zu den Konzepten von Koselleck wirkt dieser Erklärungsansatz leicht unbefriedigend. Eine Karte soll die Versorgungslage mit fließendem Wasser im Jahr 2011 und die damit verbundene „Phantomgrenze“ illustrieren (S. 87). Allerdings wird auf dieser Karte auch deutlich, dass in der Dobrudscha, die ebenfalls zum alten Königreich Rumänien gehört hatte, anders als in der Walachei und Moldau die Versorgungslage der Haushalte mit fließendem Wasser 2011 auf einem ähnlichen Stand war wie in den ehemals österreichisch-ungarischen Gebieten. Diesen Umstand problematisiert die Autorin allerdings nicht.

Claudia Kraft fragt in ihrem Beitrag, inwiefern „Postsozialismus“ postkolonial sei. Im Zentrum stehen dabei die Wahrnehmung von postimperialen, postsozialistischen und postnationalistischen Vorstellungen sowie damit verbundene Praktiken und Diskurse nach 1989 (S. 167). Am Beispiel des östlichen Europa kann die Autorin einen der zentralen Gegenstände der postcolonial studies, nämlich die Peripherie-Zentrum-Beziehung, problematisieren. Seit dem 18. Jahrhundert sei das östliche Europa in seiner historischen Entwicklung eine Art „Binnenperipherie“ zwischen dem Machtzentrum Russland im „Osten“ sowie dem „Westen“ gewesen. Von beiden sei es beeinflusst worden und auf beide habe es zurückgewirkt. So können in dieser Region Peripherien betrachtet werden, die „fortschrittlicher“ erscheinen als ihre Zentren, oder Phänomene der Binnenkolonisation wie im österreichischen Galizien die Fälle der Polen und Ruthenen. (S. 170172). Indem man kulturelle Phänomene, ähnlich wie dies mit dem Ansatz gender möglich sei, durch ihre Relationalität bestimme, könne man die Gefahr einer Essentialisierung von bestimmten Begriffen vermeiden und sie so dekonstruieren; seien dies nun räumliche Verortungen wie der „Osten“ oder zeitliche Verortungen wie „ehemals sozialistisch“ oder „Transformation“ (S. 178). Indem die „Osteuropäer“ nur das aufholen sollen, was im „Westen“ schon besteht, wird ihnen ihre eigene agency abgesprochen. So legitimiere sich der „Westen“ selbst, indem er – seit dem Fall der sozialistischen Systeme im „Osten“ – sein Entwicklungsmodell als einzig mögliches deute. Die Autorin kommt zum Schluss, dass Beschreibungskategorien wie „Transformation“ und „Hochmoderne“ Produkte spezifischer historischer Konstellationen und keine objektiven Analysekategorien seien.

Auch Hannes Grandits nimmt in seinem Beitrag die epochalen Umwälzungen nach 1989 zum Ausgangspunkt seiner Analyse. Er will dem Problem nachgehen, wie „alte“ Grenzen, nachdem sie über längere Zeit an Bedeutung verloren haben, plötzlich für die Menschen wieder eine Rolle spielen können. Sein Erklärungsansatz hierfür ist, dass, wenn etablierte Wissensordnungen in eine Krise geraten, auch die damit verbundenen Raumordnungen neu interpretiert werden. Dies sei etwa in Jugoslawien in den achtziger Jahren der Fall gewesen. Mit Rückgriffen auf die „Geschichte“ würden lokale Akteure versuchen, neu zu etablierenden Grenzen gegen innen und außen Legitimität zu verschaffen (S. 135 und 141). Während auf internationaler Ebene beim Zusammenbruch der UdSSR oder Jugoslawiens das Prinzip uti possedetis galt (die Grenzen der Gliedstaaten sollten zu internationalen Grenzen werden), wurden diese vor Ort häufig in Frage gestellt. Als etwa in Jugoslawien die alte Raumordnung nicht mehr als passend wahrgenommen worden sei, hätten die (politischen) Akteure auf historische oder kulturelle Grenzen mit Hilfe von nostalgischen Inszenierungen – wie etwa im Fall des Kosovo-Mythos – zurückgegriffen. Am Fallbeispiel des Para-Staates der Krajina-Serben von 1991 bis 1995 kann Grandits zeigen, wie hier der Mythos der österreichischen Militärgrenze zum Osmanischen Reich, die bereits seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts keine Bedeutung mehr hatte, wiederauflebte und den Sonderstatus dieses Gebiets legitimieren sollte (S. 152–153).

Als Fazit zu diesem Sammelband lässt sich festhalten, dass er eine breite Palette von theoretischen Ansätzen zur Analyse von Grenzen, Territorien und Räumen bereitstellt. Die Autoren und Autorinnen halten zwar interdisziplinäre Ansätze hoch, vielfach bleiben sie aber bei historischen Konzepten hängen. Schließlich könnte man sich auch die Frage stellen, ob man die Kategorie der „Phantomgrenzen“ nur auf Fälle im östlichen Europa anwenden will – wie dies die Herausgeber der geplanten Reihe beabsichtigen – oder ob diese nicht auch ein Erkenntnispotenzial für Fallbeispiele aus dem westlichen Europa böte, etwa im Falle der „Phantomgrenze“ zwischen Nord- und Süditalien, die auch 150 Jahre nach der Gründung des Nationalstaats weiterhin die politische Debatte des Landes mitbestimmt.

Stephan Rindlisbacher, Bern

Zitierweise: Stephan Rindlisbacher über: Béatrice von Hirschhausen: Phantomgrenzen. Räume und Akteure in der Zeit neu denken. Göttingen: Wallstein, 2015. 224 S. = Phantomgrenzen im östlichen Europa, 1. ISBN: 978-3-8353-1658-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Rindlisbacher_von_Hirschhausen_Phantomgrenzen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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