Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Julia Richers

 

Mark Bassin / Christopher Ely / Melissa K. Stockdale (eds.): Space, Place, and Power in Modern Russia. Essays in the New Spatial History. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2010. IX, 268 S., 5 Abb. ISBN: 978-0-87580-425-5.

Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zu Ehren von Abbott (Tom) Gleason zurück, die unter dem TitelPolitics, Space, and Power in Modern Russian Historyim Jahre 2006 an der Brown University stattfand. Von den damals 16 Beiträgen wurden zehn für die Publikation ausgewählt, die sich spezifisch mit räumlichen Fragen auseinandersetzten und als Beispiele für die New Spatial History gelten können. Was damit gemeint ist, halten die Herausgeber in ihrer Einleitung fest. Für sie fungiert die historische Raumforschungas a new lens through which to understand Russian history(S. 3). Voraussetzung sei jedoch, dassRaumals Analysekategorie und als Perspektive auch tatsächlich ernst genommen werde. Bislang sei Raum weitgehend als physisch-geographische Konstante betrachtet worden, als Container, in dem sich historische Ereignisse abspielten. Dem steht ein neueres Raumverständnis gegenüber, dasin Anlehnung an Vordenker wie Henri Lefebvredie soziale Konstruiertheit von Räumen hervorhebt. Ähnlich wie gender sind Räume nicht einfach, sondern sie werden gemacht.

In ihren Ausführungen präsentieren die Herausgeber die semantische Vielschichtigkeit des neuen Raumbegriffs. Für sie entstehen Räume in der Beziehung zwischen Menschen oder in den Köpfen als fiktive Landschaften oder in Diskursen als locus einer imagined community. Gleichzeitig betonen sie, dass dieses relationale Verständnis dienatürlichenGegebenheiten des geographischen Raumes nicht negiert:along with its objectivity, there is also a critical subjectivity to the spatial and geographical dimension(S. 7). Die New Spatial History widmet sich diesem Zusammenspiel von physischem und imaginiertem Raum. Sie sucht nach den Verbindungen zwischen geographischen Gegebenheiten, Raumschaffung und Raumerfahrung. Sie untersucht die kulturellen Topographien,die imaginären Landschaften und Erinnerungsorte einer Gesellschaft oder Gruppe. In vielen Punkten ähnelt dieses Raumverständnis mit seinengeographies of identity(S. 11) dem KonzeptLebenswelt. Raum und Raumwahrnehmung ist eine Frage des eigenen Weltverständnisses und Horizonts.

Die semantische Vielschichtigkeit des neuen Raumbegriffs spiegelt sich in der inhaltlichen Spannbreite der Sammelbandbeiträge. Geordnet wurden sie entlang dreier Achsen: Der erste Abschnitt trägt den TitelGeopolitical Constructions of Spaceund enthält zwei, weitgehend diskursanalytische Beiträge der Herausgeber. Melissa K. Stockdale untersucht in ihrem Artikel, wie sich die Begriffe Vaterland (otečestvo) und Mutter Heimat (rodina) je nach politischer Wetterlage abgewechselten. Bis zum Ersten Weltkrieg schienen die beiden noch synonym verwendet worden zu sein, unter dem Internationalismus der Bol’ševiki verschwanden beide für kurze Zeit aus dem politischen Vokabular, tauchten aber unter Stalin, mit einer deutlichen Favorisierung des emotional gefärbten Begriffs rodina, wieder auf.

Mark Bassin widmet sich in seinem Beitrag dem spezifischen Raumverständnis der Eurasier, da gerade sie als ein mustergültiges Beispiel dafür gelten können, wie geographischer Raum und Landschaft mitnationaler Identität“ in Verbindung gebracht werden. Naturräumliche Besonderheiten deseurasischen Raumswie etwa Größe, Weite und Klima brachten, so das Credo, eine spezifischeeurasische Zivilisationhervor. Es wurde eine eigene Philosophie der Raumentwicklung (mestorazvitie) ausgearbeitet, die eine eklektische Mischung ausGeoanthropologieundBiogeographiedarstellte. Der russische Raum wurde dabei in sieben naturhistorischeBiomeoder estestvennoistoričeskie zony (Vasilij Dokučaev) unterteilt, die zusammen jenen eurasischen Containerraum, jene abgeschlossene, holistische Welt in sich (mir v sebe), ausmachten. In diesem Geodeterminismus spiegelte sich eine ganze Weltsicht, eineGeosophie(Petr Savickij), die nicht weniger als eine geopolitische und kulturtopographische Neuvermessung des Horizonts Russlands beinhaltete.

Der zweite Abschnitt trägt den TitelPlace, Space, and Powerund widmet sich spezifischen Orten, wo (Staats-)Macht verhandelt wurde. In seinem Beitrag über die frühneuzeitliche Verbindungsstraße Petersburg-Moskau untersucht John Randolph die Selbst- und Fremdwahrnehmung der jamščiki, der Fuhrleute und Betreiber der Zwischenstationen, die eine eigenständige Gruppe mit staatlichen Privilegien und Pflichten waren. Aufgrund ihrer Relevanz für die Aufrechterhaltung der Hauptschlagader des Imperiums gelang es den jamščiki immer wieder, ihre Rechte erfolgreich gegen den Adel durchzusetzen, Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen zu fordern.

Richard Stites analysiert in seinem posthum publizierten Beitrag den Ballsaal und die Tanzfläche als Ort mit einer eigenen Grammatik der soziopolitischen Disziplinierung. Während die Tanzfläche im frühen 18. Jahrhundert noch weitgehend einem Paradeplatz glich, wo Körperkontrolle und militärischer Drill an erster Stelle standen, entwickelte sich nach 1812 die Tanzfläche zunehmend auch zu einem Ortnationaler Identität(S. 100, 111), indem westliche Tänze vermehrt durch osteuropäische Volkstänze ergänzt oder ersetzt wurden. Gleichzeitig galt die Beherrschung von Tänzen wie der Mazurka als Ausdruck von Männlichkeit.

Die letzten beiden Studien dieses Abschnitts beschäftigen sich mit Fragen von Zentrum-Peripherie, imperialer Raumausdehnung und ideologischer Kolonisierung. Patricia Herlihy analysiert den 1873 verfassten und 1876 erstmals veröffentlichten Reisebericht „Turkistan des amerikanischen Konsulatsangestellten Eugene Schuyler. Es war der erste westliche Bericht über diese Region, der für rund ein Jahrhundert eine beachtliche Wirkung auf das mental mapping von Zentralasien hatte. Gleichermaßen fasziniert von der russischen mission civilisatrice und den Kulturen deswahren Orientgenoss Schuyler auf beiden Seiten Respekt und Anerkennung. Aufklärerisch-paternalistisch machte er auf Missstände wie etwa den Sklavenhandel, Gewalt und Korruption unermüdlich aufmerksam: Nicht mitbullets, sondern mitbulletins(S. 135) hatte er, so die kühne These, einen entscheidenden Einfluss auf die zarische Politik in Zentralasien.

Ebenfalls vom Gedanken einer spatial colonization (S. 145) beseelt, waren vier Jahrzehnte später die bolschewistischen Aktivisten der Agitationszüge und -boote. Weit entfernt vom neuen Machtzentrum Moskau hatten sie die Aufgabe, die peripheren Regionen für die Revolutionsziele zu begeistern. Dabei entpuppten sich die Agitationsvehikel als äußerst erfolgreiches Kommunikationsmittel, das eine neuartige Form von civic space (S. 142), einen liminalen Raum, hervorbrachte, wo Agitatoren mit der lokalen Bevölkerung debattierten und so entweder im direkten Kontakt oder über dieBeschwerdeboxenvon ihren Wünschen, Sorgen und Missständen erfuhren. Trotz ihrer Erfolge wurden die Agitationszüge und -boote 1921/22 wegen der verheerenden Hungersnöte in den ländlichen Regionen eingestellt. Damit gab man eine quasi-basisdemokratische Kommunikation zwischen Zentrum und Peripherie zu Gunsten einer top-down-Propaganda auf. Das Stimmungsbarometer wurde fortan nicht mehr über eine face-to-face-Interaktion mit der lokalen Bevölkerung, sondern über die Geheimberichte der OGPU ermittelt.

Der dritte und letzte Abschnitt trägt den TitelPlace, Identity, and Memoryund behandelt umkämpfte Erinnerungsorte, konkurrenzierende Sinnstiftungsangebote und die symbolische Neubesetzung historischer Orte. Im ersten Beitrag dieses Abschnitts zeigt Christopher Ely auf sehr überzeugende Weise, wiedie Straßeim St. Petersburg der 1860er und 1870er Jahre ein Experimentierfeld für zivile street action (S. 167) wurde. Unter Nikolaj I. noch strikt reglementiert und kontrolliert, entwickelten sich unter Alexander II. die Straßen der Hauptstadt zu einem neuen locus der öffentlichen Meinungsäußerung. Zu den neuartigen Erscheinungen gehörten Protestmärsche unzufriedener Universitätsstudenten und als Trauermärsche getarnte politische Demonstrationszüge. Die Behörden duldeten diese Neubesetzung des städtischen Raumes, obschon mit wachsendem Unbehagen. Mit der Ermordung des Zaren 1881 fand die Toleranzpolitik jedoch ein jähes Ende.

Sergei Zhuk widmet sich in seinem Beitrag über die Ausbreitung der evangelischenStundistenin der Südukraine ebenfalls einer konfliktreichen Neubesetzung historischer Orte. Mit Entsetzen beobachteten russisch-orthodoxe Bischöfe, wie der evangelische Kirchenbauim deutschen Stilnicht nur die sakrale orthodoxe Landschaft in der südlichen Dnjeprregion, sondern auch die russisch-ukrainische Einheit empfindlich störte. In der Tat gingen die Stundisten mit ihrem bewusstunrussischenErscheinungsbild und das wachsende ukrainische Nationalbewusstsein eine explosive Verbindung ein, die schließlich im Jahre 1894 zum Verbot stundistischer Aktivitäten führte. Cathy Frierson beschreibt in ihrem Beitrag den schwierigen, selektiven Prozess postsowjetischer Identitätsfindung der Stadt Vologda. Während sich die Stadt gerne an ihre reichhaltige vorrevolutionäre Geschichte als religiöses Zentrum und als sacred city (S. 222) erinnert, gelten die Massengräber ermordeterKulakenkinderaus dem Jahre 1930 hingegen bis heute als Tabu.

Im letzten Artikel des Bandes zeigt Lisa Kirschenbaum am Beispiel Leningrad/St. Petersburg, dass sich Umbenennungen von Straßennamen nicht immer widerstandslos umsetzen ließen, besonders dann, wenn die Stadtbevölkerung keine gemeinsamen oder persönlichen Bezüge zum Namen herstellen konnten. So war der Nevskij Prospekt nach der Russischen Revolution inProspekt des 25. Oktoberumbenannt worden, erhielt jedoch 1944 auf Druck der Bevölkerung wieder seinen alten Namen, ebenso auch der Palastplatz. Umbenennungen waren dann erst wieder Ende der 1980er Jahre möglich, zuerst außerhalb des Stadtzentrums, dann auch vereinzelt innerhalb. Doch erst mit dem Sieg der Liberalen im April 1990 kam es zu einer umfangreichen Umbenennung von Plätzen und Straßen. Im Sommer 1991 erhielt Leningrad schließlich wieder den alten Namen St. Petersburg zurück, doch da viele mit dem alten sowjetischen Namen nicht nur die Sowjetmacht, sondern vor allem die Leningrader Blockade verbanden, trug die Stadt an Jahrestagen wieder kurzfristig die BezeichnungHeldenstadt Leningrad(gorod-geroj).

Der Sammelband vereint eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Beiträge, die sich alle mit der räumlichen Dimension historischer Lebenswelten auseinandersetzen. Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Zugänge feststellen: In den Beiträgen zu Zentralasien, Eurasien und demVaterlandstand das mental mapping und die kulturelle Codierung einer (imaginierten) Großregion im Zentrum. Der Ausgangspunkt der anderen Beiträge war stets ein konkreter topographischer Ort, der mit Bedeutung aufgeladen wurde, so etwa die Straße, der Ballsaal, die Kirche oder das Agitationsvehikel. Im Vordergrund standen raumgreifende Praktiken, wie das Aushandeln von Raumnutzung oder der Kampf um ein bestimmtes Bedeutungsmonopol. Besonders spannend erscheinen jene Fallbeispiele, wo es zu einem Zusammenspiel vonobenunduntenkam. Ein Fazit, das sich daraus ziehen lässt: (Sozialer) Raum muss stets ausgehandelt werden, soll er nicht zu einem Gefängnis oder zu einer gesellschaftlichen Sackgasse werden. Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie in der Tat den naturräumlichen Containerraum überwinden und die soziale Konstruiertheit vonRauman einer faszinierenden Vielzahl von Beispielen exemplarisch untersuchen.

Viele raumtheoretische Erkenntnisse des Sammelbandes sind jedoch nicht ganz neu; auch das Fach Osteuropäische Geschichte hat den spatial turn bereits vor einigen Jahren für sich entdeckt und rezipiert. Folglich wäre wünschenswert gewesen, wenn die Herausgeber und Autoren in ihren Beiträgen noch expliziter kenntlich gemacht hätten, was neu an der propagierten New Spatial History ist. Denn jedes historische Ereignis hat ein setting, eine räumliche Dimension. Es gibt keine raumlose Forschung im Vakuum, sieht man einmal von der Weltraumforschung ab.

Julia Richers, Bern

Zitierweise: Julia Richers über: Mark Bassin / Christopher Ely / Melissa K. Stockdale (eds.): Space, Place, and Power in Modern Russia. Essays in the New Spatial History. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2010. IX, 268 S., 5 Abb. ISBN: 978-0-87580-425-5, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Richers_Bassin_Space_Place_and_Power.html (Datum des Seitenbesuchs)

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