Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Andreas Renner

 

Ilya Vinkovetsky: Russian America. An Overseas Colony of a Continental Empire, 1801-1867. Oxford: Oxford University Press, 2011. 258 S., Ill. ISBN: 978-0-19-539128-2.

Dass Zar Alexander II. im Jahr 1867 die russischen Eroberungen in Nordwestamerika, das spätere Alaska, für 7,2 Millionen Golddollar an die USA verkaufte, ist den Historikern des späten Zarenreichs in der Regel eine Anekdote wert. Augenfällig fügte sich der geordnete Rückzug aus dieser einzigen Überseekolonie Russlands in die Außenpolitik der Zurückhaltung ein, die Petersburg nach dem verlorenen Krimkrieg und unter dem Primat einer finanziellen Konsolidierung verfolgte. Diesen Zusammenhang betont auch der kanadische Historiker Vinkovetsky in seiner Geschichte Russisch-Amerikas – doch ausschlaggebend sind für ihn andere Faktoren: Mit der Gründung von Vladivostok 1860 sei die Bedeutung der fernen, militärisch ohnehin kaum zu verteidigenden Kolonie für die russische Pazifikpolitik entscheidend geschmälert worden. Obwohl Vinkovetsky die amerikanischen Besitztümer des Zarenreichs für „a neglected outpost of an overstretched empire“ (S. 91) hält, will er gerade nicht die Geschichte der russischen Amerikakolonie von ihrem Ende her schreiben und als gescheitertes Experiment abtun. Für die Initiatoren dieses kolonialen Projekts sei dieses auch 1867 noch ökonomisch profitabel gewesen, doch in politischer Hinsicht stellte Russisch-Amerika von vornherein mehr einen Brückenkopf im ostasiatisch-nordpazifischen Raum als auf dem amerikanischen Kontinent dar. Daher galt die Aufgabe der Kolonie in Petersburg auch nicht als Rückschlag, sondern angesichts der ‚Öffnung‘ Chinas seit den 1830er Jahren als überfällige Entscheidung, die man sich gern von der amerikanischen Regierung vergolden ließ.

Die Untersuchung gliedert sich in zwei Teile. Der Verfasser skizziert zunächst ein koloniales System, in dessen Mitte seit dem frühen 19. Jahrhundert die „Russländisch-Amerikanische Gesellschaft“ stand – eine Aktiengesellschaft durchaus nach dem Vorbild der britischen Ostindien-Kompanie. Sie war ein obrigkeitlich protegierter Zusammenschluss russischer Kaufleute, die sich das lukrative Monopol auf den Handel vor allem mit Seeotterfellen sicherten und zu diesem Zweck die indigene Bevölkerung in unterschiedliche Abhängigkeiten zwangen, zugleich aber auch deren Territorien im Namen des Zaren in Besitz nahmen. Die Gesellschaft, so Vinkovetsky, machte ihren Profit als „contractor“ (S. 66) des Imperiums – der Staat sparte seinerseits Kosten und politische Verantwortung. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts drängten adelige Anteilszeichner die Kaufleute innerhalb der Gesellschaft zurück, während in der Kolonie selbst staatliche Vertreter – auf für das Zarenreich einzigartige Weise verkörpert durch Marineoffiziere – an Einfluss gewannen. Nach der weitgehenden Ausrottung des Seeotters stieg die Kompanie in der Mitte des Jahrhunderts erfolgreich in den Teehandel über chinesische Häfen ein.

Im zweiten Teil des Buches analysiert der Verfasser das Verhältnis zwischen russischen Eroberern und indigener Bevölkerung. Russisch-Amerika war keine Siedlungskolonie – die Kolonisatoren waren nicht nur auf die überlegenen Jagdkünste der Kolonisierten angewiesen, sondern generell auf ihre Arbeitskraft in der Form von Waren und Dienstleistungen aller Art. Die kleine russische Kolonie befand sich fernab der russischen Grenzen in einer prekären Lage – nicht nur war sie wirtschaftlich vom Mutterland kaum zu versorgen, sie war auch militärisch verwundbar. Und dies galt nicht nur für die britische und US-amerikanische Konkurrenz im Nordpazifik, sondern ebenso für den hartnäckigen Widerstand etwa des Tlingit-Volks, der unmittelbar hinter den Palisaden der Hauptstadt Novoarchangel’sk auf der Insel Sitka begann. Den russischen Eindringlingen gelang es allerdings, diese Konfliktlage durch ein ganzes Bündel von Maßnahmen zu entschärfen: Diese reichten von Geiselnahmen über Patenschaften und Eheschließungen, über Geschäftsbeziehungen und die Kooptation lokaler Eliten für Verwaltungsaufgaben bis hin zur Missionierung. Letztere wirkte sogar über die Aufgabe der Kolonie hinaus – noch heute bekennen sich viele Indigene in Alaska zum orthodoxen Christentum.

Während des Kalten Krieges war die Erinnerung an die Präsenz von Russen in Alaska immer wieder Anlass für Bedrohungsvorstellungen, aber nur selten Gegenstand von historischen Untersuchungen. Vinkovetsky schließt daher mit seiner Studie eine Forschungslücke. Doch seine These von der Sonderstellung der amerikanischen Kolonie im imperialen Gefüge des Zarenreichs und dem Bruch mit der bisherigen Expansionspolitik in Eurasien konzentriert sich auf das Offensichtliche. Ebenso wichtig wäre es gewesen, systematisch das Fortwirken von imperialen Mustern aus der kontinentalen Expansion des Zarenreichs nachzuzeichnen, insbesondere der kolonialen Strukturen, wie sie in Sibirien oder später in Turkestan entstanden. Darüber hinaus betont die Studie zu einseitig die Bemühungen der russischen Kolonisatoren um Herrschaftsstabilisierung – ihr negativer Einfluss auf die indigene Bevölkerung (durch Gewalt, Alkohol, Epidemien) findet eine vergleichsweise marginale Beachtung. Hier wäre ein Vergleich mit dem schleichenden Genozid unter der sibirischen Urbevölkerung angebracht gewesen. Des Weiteren fällt auf, dass Vinkovetsky zwar die Akkulturation der indigenen Bevölkerung an die russische Kultur als eine langfristige Folge des Kolonialismus analysiert, aber den gegenläufigen Prozess nicht beachtet, also die Rückwirkung der Kolonisierten auf die Kolonisatoren selbst oder auch auf die Gesellschaft oder den wissenschaftlichen Diskurs im europäischen Russland. Diese „postkolonialistische“ Frage, die über die Zäsur von 1867 hinaus zielt, stellt der Verfasser durchaus; er beantwortet sie indes meist mit vagen Verweisen auf „Russians thinking about Alaska“ (S. 10). Nur an zwei Stellen, die zu den spannendsten des Buches gehören, spürt er diesem Phänomen nach: Zum einen in einem Exkurs über die kreoly – eine ständische Kategorie, die im Zarenreich nur in Russisch-Amerika eingeführt wurde und die zahlreichen (dort geborenen) Nachkommen von Russen und indigenen Frauen bezeichnete. Zum anderen in einigen Bemerkungen zum russischen Leibeigenschafts- und Sklavereidiskurs der 1850er und 1860er Jahre, in dessen Kontext auch die Rechtslage der indigenen Bevölkerung in Russisch-Amerika scharf kritisiert wurde. Ein Kapitel zu diesen Facetten des zarischen Überseekolonialismus hätte aus einer lesenswerten Studie ein Standardwerk gemacht.

Andreas Renner, Tübingen / Köln

Zitierweise: Andreas Renner über: Ilya Vinkovetsky: Russian America. An Overseas Colony of a Continental Empire, 1801-1867. Oxford: Oxford University Press, 2011. 258 S., Ill. ISBN: 978-0-19-539128-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Renner_Vinkovetsky_Russian_America.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2012 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Andreas Renner. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.