Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Andreas Renner

 

Valerij T. Stigneev: Vek fotografii, 1894–1994. Očerki istorii otečestvennoj fotografii. [Ein Jahrhundert Fotografie, 1894–1994. Überblick über die Geschichte der russischen Fotografie]. Moskva: LKI, 2007. 392 S., Abb. ISBN: 978-5-382-00051-0.

Im deutschen Fernleihverkehr bieten nur sechs Bibliotheken ein Exemplar dieser inzwischen in der fünften Auflage vorliegenden Monographie an. Sicher ist Russisch keine gängige Wissenschaftssprachedoch in Zeiten dervisuellen Wendehätte das Buch eine größere Aufmerksamkeit verdient. Immerhin nimmt es erstmals die gesamte sowjetische Epoche aus fotohistorischer Perspektive in den Blick. Zusammen mit Elena Barchatovas monumentaler Abhandlung zur Fotokunst der Zarenzeit (Russkaja svetopis. Pervyj vek fotoiskusstva 18391914. S.-Peterburg, 2009) liegt nun ein aktueller Überblick zur gesamten russländisch-sowjetischen Fotogeschichte vor. Eine Gesamtdarstellungum das vorwegzunehmenersetzen beide nicht. Zwar hat Stigneev sein Buch breiter angelegter als seine Petersburger Kollegin, doch zu Recht betont er schon im Untertitel das Skizzenhafte; im Mittelpunkt des Buches stehen Fotografien und Fotografen, Ausstellungen sowie berufliche bzw. politische Vereinigungen. Drei Bereiche finden besondere Beachtung: der Fotojournalismus, die Kriegsfotografie und die künstlerische Fotografie. Anders als viele westliche Darstellungen betreibt Stigneev jedoch keine erneute Werkschau prominenter Fotografen wie Aleksandr Rodčenkoer untersucht vielmehr Fotografie als Massenphänomen am Beispiel von Berufsfotografen wie von Amateuren. Auch von der erdrückend-deskriptiven Technikgeschichte sowjetischer Provenienz finden sich in Stigneevs Darstellung keine Spuren mehrviel mehr Raum gibt er den Techniken fotografischer Praxis, den Fragen von Sujet und Stil, der Inszenierung und Instrumentalisierung fotografischer Bilder. Hier wird die Doppelqualifikation des Autors als renommierter Fotograf und promovierter Historiker sichtbar. Dennoch vermisst man, neben einer kultur- oder sozialgeschichtlichen Reflexion über das Medium, Informationen über andere als die genannten Anwendungs- und Wirkungsbereiche der Fotografie. Beispielweise war sie für ganz unterschiedliche Wissenschaften ein Mittel, Erkenntnisse zu gewinnen und zu visualisieren. Auch ihre Bedeutung für die sowjetische Propaganda (sowie die Eingriffe der Zensur) behandelt Stigneev zu kursorisch. Letztlich legt er mehr Wert auf Fotografien als wirkungsmächtige und manipulierbare Bilder als auf die mit Hilfe dieser Artefakte (re)produzierten mentalen Bilder und deren Wirkungsmacht.

Das Buch schlägt einen Bogen von 1894 bis 1994, wobei das Enddatum, die Gründung des Verbandes der russländischen Fotokünstler, willkürlich wirkt gegenüber der Gründung der Russischen Fotografischen Gesellschaft im Jahr 1894. Letztere stellte in der Tat einen Einschnitt in der Vereins- und Pressegeschichte der organisierten Fotografie des Zarenreichs dar. Ob ihre Gründung epochale Bedeutung besaß, ist eine andere Frage; ihr hätte Stigneev leicht ausweichen können, hätte er sein Buch als sowjetische Fotografiegeschichte konzipiert. Die Kapitel über das Zarenreich und die postsowjetische Zeit fallen mit zwanzig bzw. sieben Seiten ohnehin viel zu knapp aus. Trotzdem bleibt es ein Verdienst, auf das Fortwirken biographischer wie stilistisch-thematischer Traditionen über die beiden Epochengrenzen von 1917 und 1991 hinzuweisen. Die sechzehn Kapitel sind chronologisch, jedoch nicht chronistisch angeordnet und in fünf thematische Blöcke gegliedert. Im ersten Teil mit dem Schwerpunkt auf den 1920er Jahren zeichnet Stigneev ein Panorama teils miteinander konkurrierender, teils sich überlagernder Richtungen: die ästhetische Schule der Zarenzeit und ausländische Einflüsse, die ‚linke‘ Avantgarde und der sich professionalisierende Fotojournalismus, sowie die von oben geförderte Amateurbewegung am Ende der Dekade. Es war eine Zeit polemischer Auseinandersetzungen, aber auch des Pluralismus; die vorrevolutionäre Fotografie fand Beifall sogar noch in der neuen Staatlichen Akademie der Kunstwissenschaften. In den 1930er-Jahren (Teil II) verschärfte sich der Richtungsstreit. Doch galt zunächst die journalistische Fotoreportage über den sozialistischen Aufbau als maßstabsetzend, so setzte sich auch in der Fotografie ab der Mitte des Jahrzehnts das Paradigma des Sozialistischen Realismus als verpflichtend durch. Neben der Propagierung positiver Helden und ihrer Arbeitsleistungen bedeutete dieses neue Ideal eine (Wieder-)Aufwertung von Motiven, die von Avantgardefotografen als vorrevolutionär und kitschig abgelehnt worden waren wie Landschafts-, Natur- oder Familienfotografien. Zugleich zeigt Stigneev, dass nicht nur manche Impulse der Avantgardefotografen, sondern auch sie selbst im Fotojournalismus der Stalinzeit weiterlebten. Auch der „Große Vaterländische Krieg“ (Teil III) bot hierfür einen Rahmen. Sicher zielten die propagandistischen Vorgaben eindeutig auf die Mobilisierung der Bevölkerung und die Stärkung ihrer Kriegs- und Opferbereitschaft, aber die Umsetzung vor Ort hing von schnellen Entscheidungen und persönlichem Talent ab. Stigneev gibt einen Überblick über unterschiedliche Themen (Helden, Leiden, Feinde) – eine Phaseneinteilung wäre hier hilfreich gewesen. Ebenso hätten sowjetische Fotografinnen nicht nur in diesem Kapitel mehr als eine beiläufige Erwähnung verdient. In den beiden Abschnitten zur Nachkriegszeit fasst Stigneev zunächst die erneut aufflammende Diskussion über die schwierige Grenze zwischen dokumentarischer und künstlerischer Fotografie zusammen (Teil IV). In diese Zeit fiel der „Höhepunkt“ (S. 231) des Fotojournalismus als Vorzeigeform der sowjetischen Fotografie insgesamt, einschließlich der Fotokunst. Gleichwohl übersieht Stigneev auch andere Bereiche nicht, wie die von ihm „naive Fotografie“ genannte Produktion etwa von Propagandabildern oder Ansichtskarten. Eine Verknüpfung mit der aktuellen Erforschung des Tourismus und seinen fotografischen Praktiken unterbleibt indes. Von der „naiven“ unterscheidet Stigneev die „schöpferische“ Fotografie der zweiten Jahrhunderthälfte (Teil V), die nicht zuletzt in engagierten Fotozirkeln ein Forum für Austausch und Selbstdarstellung fand. Dort entstanden während der Brežnev-Zeit neue Ausdrucksformen jenseits der tonangebenden Fotoreportage. Diese Stilrichtungen profitierten dann von den neuen Freiheiten der Perestrojka-Zeit und gerieten zugleich unter den neuen Druck der Marktkonformität.

Stigneev ist ein informierter und detaillierter Querschnitt durch die sowjetische Fotogeschichte gelungen, den man öfter zur Hand nehmen wird. Sicher wirkt an manchen Stellen die Schwerpunktsetzung aus geschichtswissenschaftlicher Sicht eigenwillig: Warum gibt er ausführliche biographische Informationen über einigermaßen prominente Fotografen der 1920er bis 1940er Jahre – nicht aber zu den weitaus weniger bekannten Fotografen der Nachkriegszeit? Warum findet die (lange Zeit einzige) Fotozeitschrift „Sovetskoe Foto“ eine geradezu ausschließliche Beachtung – nicht aber die in ihrer Massenwirkung viel einflussreicheren illustrierten Zeitschriften wie „Ogonëk“? Warum schließlich findet sich im illustrierten Anhang ein weiterer Querschnitt durch die Fotografiegeschichte, auf den im Text nicht einmal verwiesen wird, während man andererseits analysierte Fotografien in diesem Anhang vergeblich sucht? Solche Fragen schmälern den Lektüregewinn jedoch keineswegs; viel störender ist die schlechte Bindung des Buches, die es schon während der Erstlektüre auseinanderfallen lässt. Das Fazit kann gleichwohl nur eine klare Kaufempfehlung sein.

Andreas Renner, Tübingen/Heidelberg

Zitierweise: Andreas Renner über: Valerij T. Stigneev: Vek fotografii, 1894–1994. Očerki istorii otečestvennoj fotografii. [Ein Jahrhundert Fotografie, 1894–1994. Überblick über die Geschichte der russischen Fotografie.] Moskva: LKI, 2007. 392 S., Abb. ISBN: 978-5-382-00051-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Renner_Stigneev_Vek_fotografii.html (Datum des Seitenbesuchs)

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