Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Andreas Renner

 

Michael Schippan: Die Aufklärung in Russland im 18. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz, 2012. 493 S., 2 Abb., Kte. = Wolfenbütteler Forschungen, 131. ISBN: 978-3-447-06626-6.

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts erreichte als erste der großen neuzeitlichen Geistesströmungen auch das Zarenreich. Dieser vielschichtige Vorgang ist mal als grundlegend für dieÖffnungRusslands nach Westeuropa gedeutet worden, mal als Beleg für die unverändert rückständige, bloß rezipierende Rolle des Landes, mal am Beispiel herausragender Personen und Texte untersucht worden. Aus allen Perspektiven kam den Reformherrschern Peter I. und Katharina II. die schrittmachende Initiative zu, während Vordenker vom Format eines Hume, Voltaire oder Kant im Russischen Reich nicht zu finden waren. In den letzten Jahrzehnten haben sich die meisten Forschungen aus den schematischen Vorgaben befreit, die Aufklärung nur als obrigkeitliche Veranstaltung oder als Defizit erkennen ließen. Auch der strenge sowjetische Idealtypus von Aufklärung als Opposition gegen Leibeigenschaft, Autokratie und Orthodoxie hat seine Verbindlichkeit verloren. Die Aufklärung in Russland erscheint jetzt wie die in anderen Ländern als buntes Mosaik von Reformprojekten gesamtstaatlicher und lokaler Reichweite, von Diskursen über Landwirtschaft und Legalität, Körperpflege und Kriegsvermeidung, von Optimismus und Utilitarismus im Umgang mit Mensch, Gesellschaft und Natur. Diese Vielfalt aufgeklärten Denkens und Handelns zu analysieren und in einer Monografie wieder deutend zusammenzuführen, ist ein mehr als überfälliges Anliegen der historischen Russlandforschung. Dem Berliner Historiker Michael Schippan gebührt das Verdienst, erstmals solch eine Gesamtdarstellung in Angriff genommen zu haben, die Russland in eine Reihe mit so gut erforschten Zentren der Aufklärung in Frankreich, den deutschen Ländern oder Schottland  stellt. Die Studie beeindruckt durch ihr profundes Überblicks- und Detailwissen; sie folgt aus jahrzehntelangen Forschungen des Verfassers und zieht zugleich eine späte Bilanz der Hallenser Aufklärungsforschung um Eduard Winter.

Schippan geht sein Thema in drei großen Schritten an. Am Anfang steht die Abgrenzung der Epoche und ihrer wesentlichen Merkmale. Als Kernzeit der Aufklärung bestimmt er die letzten drei, vier Jahrzehnte des 18. sowie die ersten Jahre des 19. Jahrhunderts, also ungefähr die Regierungszeit der Zarin Katharina II. und dieliberalen‘ Jahre ihres Enkels und Nachfolgers Alexander I. Diese Eingrenzung leuchtet ein, akzeptiert man die damals gewollte und sozialgeschichtlich mögliche Verflechtung mit den großen Diskursen der gesamteuropäischen Aufklärung als Epochenmerkmal. Die weichenstellende Funktion der Frühaufklärung seit der Regierungszeit Peters I. gerät damit keineswegs aus dem Blick; Schippan behandelt sie nicht weniger sorgfältig als die Katharinä­ische Epoche. Etwas zu kurz kommt hingegen die Wirkungsgeschichte der Aufklärung im 19. Jahrhundert; die Zäsur der Napoleonischen Kriege und derReaktion‘ unter Zar Nikolaus I. ist so stark gezeichnet, dass die Aufklärung weniger als Epoche denn als Episode erscheint. Der zweite Hauptteil umreißt eine Geographie der Aufklärung. Im Mittelpunkt stehen hier die beiden Hauptstädte des Zarenreichs: Petersburg, dasPalmyra des Nordensmit seiner einzigartigen Konzentration von Wissen und Macht, sowie Moskau, wo sich die Kritikfreudigkeit der Aufklärung mit adeligen und kirchlichen Bildungstraditionen verband und von einer gewissen Regierungsferne profitierte. Hinzu kommt ein Kapitel über Provinzstädte wie Tver oder Archangelsk, während die Güter des Landadels als potenzielle Orte praktizierter Vernunft nicht berücksichtigt werden. Im abschließenden, dritten Teil untersucht Schippan zentrale Debatten der Aufklärung. Er spannt den Bogen von klassischen Aufklärungsthemen (über Ökonomie, Religion oder Friedensordnungen) zu wenig erforschten Bereichen wie den Anfängen der Sinologie. Eine Begründung für diese Auswahl liefert er nicht. Warum bleiben die Diskurse der Naturforschung und die über Bildung (für manche gleichbedeutend mit Aufklärung) unerwähnt und die vielfältigen Reiseberichte und Ratgeber als Massenphänomene in der kleinen lesehungrigen Elite unberücksichtigt?

Jedes der drei Großkapitel überzeugt im Detail. Schippan verzichtet auf eine Auflistung von mehr oder weniger prominenten Vordenkern sowie auf den Versuch, die Aufklärung in Russland an einem europäischen Vorbild zu messen oder gar diesem gegenüberzustellen. Das Leitmotiv seiner Geschichte bildet vielmehr die Entflechtung von Impulsen aus dem Ausland, deren Aufnahme und Umwandlung im Zarenreich und die, wenn auch ungleich schwächere, Rückwirkung innerhalb der (trans)europäischen Aufklärungsöffentlichkeit, wie sie 1765 immerhin die berühmte Preisfrage der Freien Ökonomischen Gesellschaft nach dem ökonomischen Nutzen der Leibeigenschaft hervorrief. Manche der behandelten Themen, wie das Verhältnis von Aufklärung und orthodoxem Christentum, fanden weder bei den westeuropäischen Zeitgenossen noch bei den nachfolgenden Historikern besondere Beachtung. Auch die Skizze Schippans zu dem exzeptionellen Leibeigenschaftskritiker Radiščev im Kontext des zeitgenössischen Sklavereidiskurses setzt neue Akzente. Andererseits blendet er Themen wie die von Ingrid Schierle umfassend erforschte Sprachgeschichte oder die von Martin Dinges analysierte Sozialdisziplinierung sogar aus dem Literaturverzeichnis aus. Überhaupt bleiben die Schattenseiten der Aufklärung, ihre Neigung zur besserwissenden Bevormundung, im Dunkeln; nur gelegentlich, etwa am Beispiel der Wirtschaftspolitik, blitzt auf, dass die apostrophierte Vernunftherrschaft keineswegs nach jedermanns Geschmack war.

Schippan behandelt Aufklärung pragmatisch als ein Themenbündel, das in jeder beteiligten Großregion anders geknüpft und mit unterschiedlichen Projekten verknüpft war. Aufklärung konnte viele, aber nirgends alle ihre Facetten zeigen; auch ohne Verfassungspläne und Philosophenwälzer konnten sich Zeitgenossen im Zarenreich als aufgeklärt verstehen. Den zentralen Strang und den weichenstellenden Beitrag der Aufklärung zur Geschichte Russlands sieht Schippan in der Europäisierung des Landes, die er wiederum als politisches Projekt von oben versteht. So konsequent wie konventionell stehen daher die beiden Reformzaren des 18. Jahrhunderts und ihre Innovationen im Mittelpunkt der Darstellung. Mehrere Kapitel fassen deren Politik nicht besser zusammen als die zahlreichen Überblicksdarstellungen der letzten Jahre. Am Rand bleiben dagegen die aktuell besonders erforschten Themen wie die Infrastruktur der Aufklärung (die Öffentlichkeiten der Journale und Bücher, der Salons und Theater, der gelehrten Zirkel und geheimen Gesellschaften) oder die Wissensgeschichte. Auf welche Begriffe wurden die Vorstellungen von der Erkennbarkeit und Manipulierbarkeit der Welt und ihrer Bewohner gebracht, mit welchen Nuancen, Forderungen und Lebensweisen wurde dieses Programm der Aufklärung im Alltag des Zarenreichs verknüpft? Welche Aussagen lassen sich überhaupt zur Ideenwirkungsgeschichte jenseits der Haupt- und Staatsaktionen machen? Dass Schippan solche Fragen nicht stellt, ist aus seiner Perspektive konsequent. In der Einleitung ist Aufklärung rein etymologisch als Untersuchungsgegenstand umrissennicht als kultur- und sozialgeschichtliches Phänomen konzipiert. Der entsprechende internationale Forschungsstand wird ohne Selbstverortung referiert. Daher bietet dieses kluge und materialgesättigte Buch zahlreiche Einblicke in die Epoche der Aufklärung in Russland, aber keinen Gesamtüberblick.

Andreas Renner, München

Zitierweise: Andreas Renner über: Michael Schippan: Die Aufklärung in Russland im 18. Jahrhundert. Wiesbaden: Harrassowitz, 2012. 493 S., 2 Abb., Kte. = Wolfenbütteler Forschungen, 131. ISBN: 978-3-447-06626-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Renner_Schippan_Die_Aufklaerung_in_Russland.html (Datum des Seitenbesuchs)

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