Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Oliver Reisner

 

Vera Tolz: Russias Own Orient. The Politics of Identity and Oriental Studies in the Late Imperial and Early Soviet Periods. Oxford: Oxford University Press, 2011. IX, 203 S., 6 Abb. = Oxford Studies in Modern European History. ISBN: 978-0-19-959444-3.

Der „russische Orient“ in Gestalt von Politik und Diskurs über die nichtslavischen Peripherien im Osten wie im Süden des Zarenreichs, hat im letzten Jahrzehnt in der Geschichtsforschung wachsende Aufmerksamkeit gefunden. Nachdem die Geschichte der Eroberung und herrschaftlichen Durchdringung sowie der literarischen Verarbeitung in der russischen Literatur bereits umfassend gewürdigt worden ist, wendet sich Vera Tolz in ihrer jüngsten Monographie der bisher vernachlässigten zarischen Erforschung Asiens in St. Petersburg zwischen Wissenschaft und Politik zu.

Die Autorin untersucht die wissenschaftliche Wahrnehmung des „Ostens“ (Vostok) und der nichtslavischen Völker im Zarenreich während der politischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und wissenschaftlichen Achsenzeit zwischen 1880 und 1930 in Europa. Tolz konzentriert sich auf die „neue Schule von Orientwissenschaftlern“ an der Fakultät für Orientsprachen der Petersburger Universität. Sie bevorzugt dabei die Bezeichnung „Orientologists“ vor dem der Orientalisten, um negative Konnotationen des Begriffs im Gefolge von Edward Saids Buch „Orientalism“ (1973) zu vermeiden. Diese Schule hat sich in den 1890er Jahren um den Arabistikprofessor der Fakultät für Orientsprachen der Petersburger Universität, Baron Viktor Romanovič Rozen (18491908), gebildet. Zu dieser Gruppe von Schülern gehörten der Islamwissenschaftler und Zentralasienspezialist Vasilij Vladimirovič Bartol’d (18691930), der Kaukasiologe und Linguist Nikolaj Jakovlevič Marr (18641934), der Indien- und Buddhismusexperte Sergeej Fedorovič Ol’denburg (18631934) und Fedor Ippolitovič Ščerbackoj (18661942), ein Spezialist in indischer Philosophie. Von den vorrevolutionären bis zu den sowjetischen Orientstudien haben diese „Rozen-Schüler“ mit ihren Studien, Methoden und Forschungsansätzen maßgeblichen Einfluss weit über die Grenzen ihrer Fachdisziplin hinaus ausgeübt.

In sechs Kapiteln arbeitet Tolz die gemeinsamen Auffassungen und Konzepte hauptsächlich anhand der Forschungstexte und Vorträge heraus, die sie v.a. im Archiv der Russländischen Akademie der Wissenschaften aufgefunden hat. Nach der Einführung in die Geschichte der russländischen Orientforschung beschäftigt sich Tolz mit den widerstreitenden Identitätskonstruktionen von Nation, Imperium und regionaler Integration. Im zweiten Kapitel wendet sie sich der Kritik dieser Gruppe an den in Westeuropa vorherrschenden Wahrnehmungsmustern von „Ost“ und „West“ zu. Das dritte Kapitel thematisiert die Frage von Macht und Wissen im Zarenreich; im vierten Kapitel geht es um die Kritik der europäischen Orientforschung aus der Sicht der Orientologen, und im fünften um das Verhältnis der imperialen Gelehrten zu den Minderheitennationalismen am Vorabend der Februarrevolution. Im sechsten und letzten Kapitel fragt die Autorin nach der Imagination von Minderheiten als Nationen in der frühen Sowjetunion im Rahmen der sowjetischen Nationalitätenpolitik der 1920er Jahre. Hiermit schließt sie dann an die jüngsten einschlägigen Forschungen von Francine Hirsch und Terry Martin zur Nationalitätenpolitik in der frühen Sowjetunion an.

Vera Tolz argumentiert, dass weniger pragmatische Interessen, um z.B. qualifiziertes Personal für die imperiale Bürokratie auszubilden, die zarischen Regierung zur Einrichtung der Orientstudien veranlasste als vielmehr der Wunsch, es auch in den Wissenschaften den europäischen Großmächten gleichzutun. Der russländische „Orientalismus“ sei somit ein spezielles Produkt der Verwestlichung des Zarenreichs gewesen, was von der zarischen Verwaltung und den Wissenschaftlern, von denen viele aus Westeuropa stammten, gleichermaßen angestrebt worden sei.

Intendiert als Imitation der europäischen Orientalistik, bot dies den russländischen Orientalisten die Gelegenheit zur innovativen Anverwandlung an den eigenen Kontext. Im Unterschied zu ihren westeuropäischen Kollegen jedoch akzeptierten sie Vertreter einheimischer Völker des Zarenreichs von Beginn an nicht nur als Forschungsobjekte, sondern – begünstigt durch die Einstellungen der intelligencija zum Volk – teilweise auch als gleichwertige Kollegen in Ausbildung und Forschung. Dieser Blickwinkel erlaubte es, sich kritisch mit europäischen Vorbildern, v.a. der ebenfalls weniger politischen Interessen folgenden deutschen Orientalistik, auseinanderzusetzen und eigenständige Forschungsansätze zu entwickeln.

In transnationaler Perspektive verfolgt die Autorin die Auseinandersetzung der russischen Orientforschung mit neuen Ansätzen in der dominanten deutschen Orientalistik (Marchand), die wesentlich akademischer als beispielsweise die eher anwendungsbezogene Forschung in Großbritannien und Frankreich war. So habe der Islamwissenschaftler Rozen versucht, die Erforschung des Islams von christlichen Vorannahmen (z.B. dem Islam als Degeneration des Christentums) zu befreien versucht. Auch hätten sie die Konzentration auf die Rekonstruktion romantisierter Urtexte wie in der Erforschung des Buddhismus oder des Sanskrit zugunsten einer Erforschung der Religionspraxis überwunden, die im Zarenreich anzutreffen waren und gemeinsam mit den Forschungssubjekten untersucht wurden.

Die wissenschaftlichen Konzepte dieser Gruppe waren auf die Förderung und Entwicklung dieser Kulturen in einem multikulturellen Zarenreich ausgerichtet. Ihre Mitglieder boten somit ein alternatives Integrationskonzept. Sie formulierten gleichzeitig auch die Ansätze der sowjetischen Nationalitätenpolitik vor. Ausgehend von der ersten Revolution von 1905 verstanden die staatstragenden, eher liberalen „Orientologen“ Russland als offene und dynamische Gesamtheit, indem sie diese Völker zu Nationen erhoben. Führende Nationalisten aus den Peripherien studierten oder kooperierten mit den Orientologen in Petersburg, deren wesentlicher Schlüssel zum Nationalismusverständnis auf praktizierter Religion und gelebter Kultur (Ethnizität) gründete. Damit grenzten sie sich auch vom konservativen Konzept des Eurasianismus ab, welches ebenfalls in dieser Periode formuliert wurde und Russland als geschlossenen und von Europa separierten eigenständigen Kulturraum propagierte. Die Petersburger Orientalisten sahen Russland nicht antagonistisch zu Europa. Allerdings waren sie auch in der Öffentlichkeit eher marginalisiert.

Die Enkeltochter des Philologen Dimitrij Lichačev hat mit diesem Buch ihre früheren Studien zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik bei russischen Akademikern während der Revolution (Russian Academicians and the Revolution. Combining Professionalism and Politics. Houndsmills 1997) sowie zu Fragen der russischen Identität (Russia. Inventing the Nation Series. London 2001) erkenntnisreich kombiniert und in beeindruckender Weise ein wissenschaftliches Milieu oder, um mit Ludwik Fleck zu sprechen, ein „Denkkollektiv“ vorgestellt. Verständlicherweise nimmt sie in ihrer Studie eher eine zentrale, Petersburger Perspektive ein. Ob allerdings wissenschaftliche Sozialisation und Interaktion zwischen russischen und nicht-russischen Gelehrten wie Studenten als Integrationsbasis ausreichte, mag für das reaktionäre Zarenreich bezweifelt werden. Die Orient-Fakultät bot nämlich auch eine Nische zur Entwicklung von Minderheitennationalismen im späten Zarenreich. Mit der bolschewistischen Revolution wurden ihre Konzepte eher nachgefragt, um die Peripherien in den neu geordneten Staatsverband einzubinden. Den Forschungs- und Lehralltag, genauso wie die Wechselbeziehungen zu Forschern und Forschungen an der Peripherie, nimmt die Autorin weniger in den Blick. Diese bilden immer noch ein Desiderat der Forschung. Insgesamt stellt diese Studie eine Bereicherung für die Debatte um das Zarenreich als Imperium, hier mit Fokus auf dem Wissenschaftsbetrieb, dar. Sie ist mit knapp 200 Seiten außerordentlich gut und anregend zu lesen.

Oliver Reisner, Tbilisi

Zitierweise: Oliver Reisner über: Vera Tolz: Russia’s Own Orient. The Politics of Identity and Oriental Studies in the Late Imperial and Early Soviet Periods. Oxford: Oxford University Press, 2011. IX, 203 S., 6 Abb. = Oxford Studies in Modern European History. ISBN:  978-0-19-959444-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Reisner_Tolz_Russia_s_Own_Orient.html (Datum des Seitenbesuchs)

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