Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Maximilian Immo Rebitschek

 

Wendy Z. Goldman: Inventing the Enemy. Denunciation and Terror in Stalins Russia. Cambridge [etc.]: Cambridge University Press, 2011, X, 320 S. ISBN: 978-0-521-14562-6.

Mit „Inventing the Enemy“ widmet sich eine weitere Studie den Massenverfolgungen in der Sowjetunion der dreißiger Jahre. Wendy Goldmans „Mikrogeschichte des Terrors“ steckt dafür allerdings ein übersichtliches Untersuchungsfeld ab.

In den Moskauer Fabrikhallen und den fabrikeigenen Parteiorganisationen geht die Autorin der „politischen Kultur der Angst“ nach. Es ist die (Un)Logik öffentlichen und zwischenmenschlichen Verhaltens, die Goldman ihren Überlegungen über den Terror zugrundelegt. Wie trugen Fabrikarbeiter und Spezialisten als reguläre Parteimitglieder zu den Verhaftungswellen der dreißiger Jahre bei? Wie wirkten Denunziation, offener Terror und auch Solidarität im Alltag ineinander, und wie wurde dieses Verhalten durch die Feindrhetorik der Parteiführung mitgeprägt?

Die stenographischen Berichte dieser Parteigremien und die zahlreichen Fabrik- und Gewerkschaftszeitungen bilden die hauptsächliche Quellenbasis. Dabei ist es Wendy Goldmans Anspruch zum einen, das Forschungsparadigma zum Großen Terror durch einen weiteren Blick ‚von unten‘ zu bereichern. Zum anderen versucht sie, die Ambivalenz dieser Erfahrungshorizonte in einer Alltagsgeschichte des Terrors zusammenzufassen.

Die politische Kultur der Angst ist für Goldman vor allem ein sprachliches Phänomen. Die Parteiführung habe eine Sprachkultur in Bewegung gehalten, in der das Enttarnen von Feinden zur alltäglichen Kommunikationsform anwachsen konnte. Wendy Goldman demonstriert beispielhaft die Konjunkturen dieser Begriffsbildungen und ordnet Schlagworte wie „Schädling“ und „Rechtsabweichler“ den jeweiligen Entwicklungsphasen der politischen Kommunikation zu.

Der Schlüssel zum Verständnis ihrer Studie liegt in der Nutzbarmachung dieses Kanons für den alltäglichen Gebrauch. Fortwährend hätten sich Parteimitglieder diese Terminologie angeeignet, um Missstände und Konflikte in ihrem sozialen Umfeld zu beschreiben. Wendy Goldman nimmt dafür Familien, Freundschaften und die Berufswelt der Parteimitglieder in den Blick. Eindrucksvoll rekonstruiert sie die fatalen Mechanismen, mit denen soziale Bande zur Bedrohung wurden.

Dass Neid, Karrierismus oder Selbstschutz eine entscheidende Rolle dabei spielten, wenn belastende Berichte über Angehörige oder Kollegen zustande kamen, ist kein allzu überraschender Befund. Die Autorin macht sich allerdings die Mühe und setzt die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte in Beruf, Familie und Freundschaft zu einem Muster des Existenzkampfs zusammen und hält damit die sich wiederholenden Abläufe und Mechanismen der Verfolgung fest.

Ein zentraler Baustein waren die zajavlenija. Die Hoffnung, mit solchen Denunziationsberichten eine Carte blanche zur eigenen Sicherheit zu erhalten, bestimmte nicht selten das Denken und Handeln der Parteimitglieder. Zugleich wusste der NKVD sich dieser Berichte im entscheidenden Fall zu bedienen. Spitzte sich das politische Klima vor einem großen Schauprozess zu, geriet der Bericht zur Zeitbombe – auch für den Verfasser.

Die eigentliche Aneignung der Wachsamkeits- und Vernichtungsrhetorik weist Wendy Goldman eindrücklich in den Parteisitzungen und Fabrikzeitungen nach. Vor allem auf den Sitzungen steigerten sich die Mitglieder gegenseitig in einen Furor der Anschuldigungen. Diese Dynamik wurde dann vor allem durch die Zeitungen mitgetragen. Deren Rolle als Einpeitscher und Multiplikatoren wird zwar im Buch berücksichtigt, aber leider nicht weiter vertieft. Denn auch wenn einzelne Redakteure selbst in die Mühlen gerieten, so bleibt der Blick in die Redaktion leider aus.

Die eigentliche Schlüsselinstanz blieb das Ministerium des Inneren. Diese Behörde konnte die Dynamik der Anschuldigungen unvermittelt abbremsen und anheizen. Verhaftungen schufen Tatsachen, an denen sich die Parteigremien und Zeitungen mit ihren Beurteilungen abarbeiteten. Hatte man bei einem Parteimitglied auf den Ausschluss verzichtet, so beschwor dessen Verhaftung eine plötzliche Welle der Entrüstung über mangelnde Wachsamkeit. Jede noch so entfernte, aber zweifelhafte Verwandtschaft wurde erst durch die Vorarbeit des Innenministeriums zum Thema der Parteileitungen: Das NKVD hatte das eigentliche Netz der Verwicklungen erst gespannt.

Die Illustration dieses Zusammenspiels ist Wendy Goldmans eigentlicher Wurf. Auf der einen Seite lieferte die Parteiführung in Moskau austauschbare Sprachmuster und Feindbilder – und damit einen Baukasten zur alltäglichen Stigmatisierung. Auf der anderen Seite entwickelte das NKVD eigene Zielgruppen und dynamisierte damit den alltäglichen Wahn aus Angst und Enthusiasmus. Vor allem erhielt der Wahn durch ihn erst seine oft tödliche Konsequenz. So befand das Komitee das Verhalten einer zuvor denunzierten Genossin für verachtenswert. Doch im Zuge der nationalen Operationen des Innenministeriums festigte erst ihr polnischer Hintergrund den Verdacht des Verrats.

Goldman ortet die „small motors“ des Terrors und ergründet die Dynamik sprachlicher Aufrüstung im Parteialltag. Das eigentlich faszinierende Zusammenspiel mit den ‚großen Motoren‘ (sprich: NKVD) lässt sie in ihrem Resümee leider untergehen. Obwohl sie die Bedeutung zentral gesteuerter Vernichtungsstrategien ständig präsent hält, beharrt Goldman auf einer Geschichte der Säuberungen, die „sich selbst fütterten“. Damit zieht sich die Autorin (vernünftigerweise) auf den Erkenntnishorizont ihrer Quellen zurück. Allerdings schwächt sie so zugleich gewonnene Erkenntnisse unnötig ab.

Für ihre Alltagsgeschichte verblüfft die Autorin einerseits mit präzisen Ansichten einer Gesellschaft in Angst. Alle sozialen Bereiche waren vom Duktus der Wachsamkeit geprägt. Wendy Goldman dokumentiert, wie private Rückzugsräume immer kleiner, soziale Bindungen immer schwächer wurden. Im Kontext der ohnehin erschütternden Vorgeschichte von Bürgerkrieg und Kollektivierung, spinnt sie das Bild der sowjetischen Familie als tragische Schicksalsgemeinschaft.

Andererseits werden die eigentlich zentralen Fragen gerade zu dieser Geschichte nicht gestellt. Fünf Prozent der während des „Großen Terrors“ verhafteten Personen waren Frauen (eine auch im Buch häufig hervorgehobene Tatsache). Anstatt hier eine genderspezifische Dimension des Terrors zu vermuten, werden lediglich weibliche Einzelschicksale illustriert. Ganz beiläufig bemerkt die Autorin, dass Frauen bevorzugt leichtere Strafen erhielten, weil die Partei sie für politisch rückständiger und weniger verantwortlich für ihre Handlungen eingeschätzt habe. Hier wäre der Punkt gewesen, an dem sie mit ihrem Material hätte ansetzen können.

Zudem gibt sich die ganze „Geschichte ohne Helden“ ständigen Wiederholungen hin. Für die Suche nach den zwischenmenschlichen Antrieben in jener Zeit werden Beispiele für Entfremdung und Verrat aneinandergereiht – nur um festzustellen, dass es keine moralisch einwandfreie Überlebensstrategie gab.

„Inventing the Enemy“ gelingt es, die Paranoia zwischen den Institutionen – in Alltag und Sprache – festzuhalten. Die Geschichte der Entfremdung, so oft in Memoiren geschildert, gewinnt durch Wendy Goldman einen neuen Zugang. Dieser schließt die Dynamik alltäglicher Konflikte für die Gesamtdimension des Terrors mit ein. Motive und Schicksale zahlreicher Betroffener können so noch besser kontextualisiert werden. Unglücklicherweise verschwimmt am Ende die so präzise entworfene politische Kultur der Angst als Analysekategorie.

Maximilian Immo Rebitschek, Jena

Zitierweise: Maximilian Immo Rebitschek über: Wendy Z. Goldman: Inventing the Enemy. Denunciation and Terror in Stalin’s Russia. Cambridge [etc.]: Cambridge University Press, 2011, X, 320 S. ISBN: 978-0-521-14562-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Rebitschek_Goldman_Inventing_the_Enemy.html (Datum des Seitenbesuchs)

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