Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 8 (2018), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Konstantin Rapp

 

Posle grozy. 1812 god v istoričeskoj pamjati Rossii i Evropy. Sbornik statej. Pod red. D. A. Sdvižkova (pri učastii Gido Chausmanna). Vstup. st. D. A. Sdvižkova. Moskva: Kučkovo pole, 2015. 383 S., 15 Abb. ISBN: 978-5-9950-0537-7.

Inhaltsverzeichnis:

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Infolge der napoleonischen Invasion bildete sich in Russland ein Narrativ heraus, in dem einerseits die Vorstellung von der ständigen Gefahr aus dem Westen und andererseits die Logik ihrer Überwindung formuliert wurde: Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten und der kriegstechnischen Überlegenheit des Westens werde Russland schließlich einen geistig-moralischen Sieg erringen und den Westen im messianischen Sinne retten. Dieses Narrativ, so die Grundthese des slavistischen Teilprojekts der interdisziplinären DFG-Forschergruppe 875 Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen, das 2011–2013 an der Universität Freiburg arbeitete, wird in Russland insbesondere in Krisensituationen aktiviert und zeichnet sich durch große Variabilität aus.

Die Tradierung des skizzierten Narrativs im gesamteuropäischen Kontext und die Mechanismen der Formung der kollektiven Erinnerung an die Epoche von 1812 in Russland und Europa standen im Mittelpunkt der internationalen Konferenz Posle grozy. 1812 god v istoričeskoj pamjati Rossii i Evropy (Nach dem Sturm. Das Jahr 1812 im historischen Gedächtnis von Russland und Europa), die anlässlich des 200-jährigen Jubiläums des „Vaterländischen Krieges“ vom 28. bis 30. Mai 2012 am Deutschen Historischen Institut in Moskau unter Mitarbeit von Guido Hausmann (Freiburg) organisiert wurde.

Der vorliegende Konferenzband bietet zwölf ausgewählte Beiträge, die in drei thematische Einheiten unterteilt sind. Der erste Teil Russland umfasst Beiträge, die einen Einblick in die Mechanismen der diskursiven Konstruktion des russischen Narrativs über den „Vaterländischen Krieg“ im 19. und 20. Jahrhundert gewähren.

Am Beispiel der Heroisierung der Figur des Fürsten Petr Ivanovič Bagration (1765–1812) zeigt Sean Pollock (USA), dass die Bereitschaft, für das Vaterland zu sterben, sowie der Kult des gefallenen Soldaten zu den Kerneigenschaften des russischen Narrativs über den „Vaterländischen Krieg“ avanciert seien. Somit sei ein Typus des nationalen russischen Helden konstruiert worden, der noch im 20. Jahrhundert für die patriotische Mobilmachung während des „Großen Vaterländischen Krieges“ eine wichtige Rolle gespielt habe.

Die heroische Erfahrung des Jahres 1812 habe sich als hilfreich erwiesen, um das Trauma des Krimkrieges 40 Jahre später zu verarbeiten. Am Beispiel des Gedenkens an die Epoche von 1812 in den Jahren 1853–1856 arbeitet Marina Fedotova (St. Petersburg) heraus, dass durch den Krimkrieg nicht nur die archetypische Vorstellung von der ständigen Konfrontation zwischen Russland und Europa verschärft, sondern auch die religiös-messianische Idee des russischen „heiligen Krieges“ gegen den Westen aktualisiert worden sei. Die diskursive Verknüpfung der Jahre 1812 und 1855 in der russischen zeitgenössischen Publizistik und den literarischen Texten habe dazu gedient, die krisenhafte Gegenwart zugunsten der heroischen Vergangenheit auszublenden und die Aufgabe von Sevastopol’ analog zur Schlacht von Borodino durch die Vorstellung vom moralischen Sieg der russischen Armee zu verarbeiten.

Tat’jana Saburova (Omsk) betont die Rolle der Ego-Dokumente bei der Tradierung der Erinnerung an den Krieg, die das Gedächtnis der Generationen widerspiegeln würden. Gerade anhand von Memoiren verschiedener Generationen lasse sich die Formung der Erinnerung auf der individuellen Ebene und der Übergang der kollektiven Kriegserfahrung aus dem kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis verfolgen. Anhand der Memoirenquellen lasse sich außerdem belegen, dass die allmähliche Umdeutung des „Vaterländischen Krieges“ von einer „Katastrophe“ hin zu einem „großen Triumph“ unter anderem auf staatliche Lenkung zurückzuführen sei.

Die Erinnerung an den „Vaterländischen Krieg“ wurde in großem Maße über das Medium des Visuellen geformt, wie Julija Žerdeva (Samara) in ihrem Beitrag über die visuellen Repräsentationen der Epoche von 1812 in Russland während des Ersten Weltkriegs zeigt. Das Zensurverbot für authentische Fotoaufnahmen von der Front habe die Hinwendung zu visuellen Repräsentationen vergangener Kriege begünstigt, die bereits durch die großen Jubiläen von 1912–1913 aktualisiert worden seien. Besonders populär seien russische Volksbilderbögen (lubki) mit Recken sowie die Karikaturen auf Napoleon gewesen, die jetzt gegen Wilhelm II. gerichtet wurden. Ähnlich wie im Jubiläumsjahr 1912 habe die symbolische Verknüpfung des „Vaterländischen Krieges“ mit der Gegenwart einen Versuch der offiziellen staatlichen Propaganda dargestellt, die Nation ‚um den Thron‘ herum zu einen sowie die Idee eines alle Gesellschaftsschichten umfassenden „Volkskrieges“ zu transportieren.

Die Beiträge im zweiten thematischen Abschnitt Imperium beleuchten den „Vaterländischen Krieg“ aus den nationalen Perspektiven der später ausgeschiedenen Teile des Russischen Imperiums.

Anders als in Russland habe die Auseinandersetzung mit dem Krieg von 1812 in Schweden und Finnland vor allem im historiographischen Diskurs stattgefunden. Johan­na Wassholm (Finnland) zeigt, dass der Krieg von 1812 in Schweden vor allem im Zusammenhang mit dem Verlust Finnlands an Russland 1809 sowie mit dem Bündnis Jean-Baptiste Jules Bernadottes (1763–1844) mit Alexander I. im Jahr 1812 verknüpft worden sei. Bernadottes „Politik der Neutralität“ und sein Entschluss, Finnland nicht zurückzuerobern, seien bis in die jüngsten historiographischen Debatten als Basis für eine friedliche Entwicklung Schwedens diskutiert worden. In Finnland sei die Hinwendung zum Jahr 1812 vor allem durch eine Auseinandersetzung mit dem Mythos über die Entstehung des finnischen Staates 1809 im Rahmen des Russischen Imperiums angeregt worden.

Natalija Filatova (Moskau) macht mit ihrer Analyse des Gedenkens an die napoleonischen Kriege in Polen deutlich, dass die zeitgenössische Sicht auf den Krieg von 1812 vor allem von den Hoffnungen Polens auf Unabhängigkeit geprägt gewesen sei, wobei Napoleon als Befreier und das Russische Imperium als Feind imaginiert worden seien. Eine Analyse von Zeitungsberichten und literarischen Texten lasse den universellen Charakter von Eigen- und Feindbildern erkennen, die mit Hilfe fester Symbole konstruiert wurden und in Abhängigkeit vom jeweiligen politischen Kontext umgepolt oder später reaktiviert werden konnten.

Dass die Tradierung von Kriegserfahrung im dialektischen Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen erfolge, betont Margarita Fabrikant (Belarus) in ihrem Überblick über das Bild des Krieges von 1812 in Belarus. Hier sei das Jahr 1812 zu einem „unbequemen Ereignis“ avanciert. Im historiographischen Diskurs fungiere Belarus weniger als Subjekt, sondern vielmehr als „Ressource“ für europäische Kriege oder als „Raum“, der Ereignissen „Historizität“ und „globale Relevanz“ verleihe, wobei die Akteure, z.B. die belarussische šljachta oder das Volk, äußerst vage beschrieben würden. Die signifikante Marginalisierung der Thematik des Jahres 1812 lasse auf verschiedene Strategien des Umgangs mit Geschichte schließen, zu denen auch die Ausblendung problematischer oder „gefährlicher“ Ereignisse gerade durch die Betonung ihrer Nichtaktualität für die Gegenwart gehöre.

Im dritten Teil wird der „Vaterländische Krieg“ unter dem Titel Europa in die gesamteuropäische Tradition des Gedenkens an die napoleonischen Kriege eingebettet.

Denis Sdvižkov (Moskau) untersucht die Formung der kollektiven Erinnerung an den Krieg von 1812 im Kontext der Bildung der „Heiligen Allianz“ und macht anhand des Gedenkens in Russland und Preußen die gegenseitige Bedingtheit und tiefe Verflechtung der europäischen und der russischen Erinnerungstradition deutlich. Es seien vor allem der gesamteuropäische christliche Diskurs der commemoratio sowie die Ideologeme des „russischen Krieges für Europa“ und des russischen Opfers für Europa“, durch die Russland sich in den Erinnerungsdiskurs des neuen Europas integriert habe.

Im anschließenden Beitrag zeigt Thomas Stamm-Kuhlmann (Greifswald), wie das Gedenken an die Jahre 1813–1814 im 20. Jahrhundert reaktiviert und dazu funktionalisiert worden sei, die Gründung der DDR und das Bündnis mit der Sowjetunion ideologisch zu legitimieren.

Eine wichtige Rolle bei der Tradierung der Erinnerung an den Krieg von 1812 kommt auch den Ego-Dokumenten von Augenzeugen zu, die als subjektive Zeugnisse stets im Spannungsverhältnis zum historiographischen Diskurs und dem kollektiven Gedächtnis zu sehen sind. Am Beispiel des Manuskripts des preußischen Arztes Anton Wilhelm Nordhof (1779–1825), das ein kritisches Bild von Moskau im Jahr 1812 bietet, macht Claus Scharf (Mainz) deutlich, dass sich gerade neu entdeckte individuelle Zeugnisse als hilfreich erweisen können, die im kulturellen Gedächtnis und in der Historiographie verfestigten Stereotype kritisch zu hinterfragen.

Anhand des 1827–1830 entstandenen Bilderzyklus des Militärmalers Christian Wilhelm von Faber du Faur (1780–1857) zeigt Wolfgang Mährle (Stuttgart), wie die individuelle Erfahrung eines württembergischen Kriegsteilnehmers über das Medium des Visuellen die kollektive Erinnerung mitprägt habe.

Die Rolle der offiziellen Historiographie bei der Konstruktion der nationalen Geschichte wird von Yves-Marie Rocher (Paris) am Beispiel des „Dépôt de la Guerre“, eines Instituts für die Sammlung von Militärdokumenten des französischen Kriegsministeriums, untersucht. Die Sammelstelle sei von Napoleon für die Vorbereitung auf den Russland-Feldzug und für propagandistische Kriegsberichte genutzt worden. In der Zeit der zweiten Restauration sei das Dépôt zum Zentrum der Erforschung des Russland-Feldzugs avanciert, indem es um Einsendung von Memoiren von Veteranen gebeten und seine Materialien wiederum Historikern und Memoiristen zur Verfügung gestellt habe. Dies wiederum lasse sich als Schritt zur Hinterfragung traditioneller Narrative und zur Konstruktion der nationalen Erinnerung an die napoleonischen Kriege betrachten.

Eine ungewöhnliche Perspektive auf den russischen Krieg von 1812 durch das Prisma des englischen historischen Romans, der das britische Narrativ über die napoleonischen Kriege mitprägte, bietet Lars Peters (Berlin). Gerade literarische Geschichtsdarstellungen erweisen sich bei der Formung der nationalen Erinnerung als besonders wirkungsmächtig, indem sie ausgewählte Ereignisse im Spannungsfeld zwischen Fakt und Fiktion verarbeiten und als Kontrastfolie für eigene Identitätsdiskurse nutzen.

Abschließend lässt sich sagen, dass der facettenreiche Konferenzband des Deutschen Historischen Instituts gerade durch die europäische Kontextualisierung des „Vaterländischen Krieges“ neue Forschungsperspektiven eröffnet und das konstruktivistische Verständnis der Geschichte vertieft. Zugleich wird deutlich, dass der Einblick in die Mechanismen der Formung des kollektiven Gedächtnisses nicht immer zur kritischen Hinterfragung von Ideologemen führt. So spricht der Herausgeber Denis Sdvižkov im einleitenden Kapitel in Anlehnung an Ju. M. Lotman vom Krieg als „Dialog“ oder „Interaktion in verschiedenen Formen“ („interakcija v raznych formach“, S. 10). Ein solcher radikal konstruktivistischer Ansatz reduziert den Krieg auf ein semiotisches Transferphänomen, sodass die allgemeinmenschliche Tragik des Krieges ausgeblendet und dessen traditionelle Heroisierung in Russland nicht hinterfragt werden. Auffallend ist auch, dass die jüngste Gedenktradition im Jahr 2012, wie sie ursprünglich auf der Konferenz thematisiert wurde und in den Beiträgen von Johanna Wassholm und Margarita Fabrikant spannend beleuchtet wird, in Bezug auf Russland nicht erwähnt wird. Der Beitrag der Freiburger Forschergruppe, die ebenfalls an der Konferenz teilnahm und das 200-jährige Jubiläum des Krieges von 1812 in Russland analysierte, wurde trotz fristgerechter Einreichung nicht publiziert. Die Auswahl der Beiträge spiegelt die Logik des eingangs skizzierten traditionellen russischen Narrativs über den „Vaterländischen Krieg“ wider. Die programmatische Hinwendung zur erfolgreichen Kampagne von 1813–14 lässt eine gewisse Nostalgie und die Sehnsucht der Herausgeber nach einem starken Russland erkennen und soll gerade in der heutigen politisch schwierigen Zeit betonen, dass Russland und Europa kulturell verbunden sind und Europa ohne Russland nicht denkbar ist.

Konstantin Rapp, Freiburg i. Br.

Zitierweise: Konstantin Rapp über: Posle grozy. 1812 god v istoričeskoj pamjati Rossii i Evropy. Sbornik statej. Pod red. D. A. Sdvižkova (pri učastii Gido Chausmanna). Vstup. st. D. A. Sdvižkova. Moskva: Kučkovo pole, 2015. 383 S., 15 Abb. ISBN: 978-5-9950-0537-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Rapp_Sdvizkov_Posle_grozy.html (Datum des Seitenbesuchs)

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