Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jakub Rákosník

 

Kenneth M. Pinnow: Lost to the Collective. Suicide and the Promise of Soviet Socialism, 1921–1929. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2010. XI, 276 S. ISBN: 978-0-8014-4766-2.

Die Monographie des amerikanischen Historikers Kenneth Pinnow ist den sogenannten post-revisionistischen Trends der Sowjetunion-Historiographie zuzuordnen, die sich kritisch gegen die Theorie des Totalitarismus wenden. Gleichzeitig versucht sie, eine Auslegungsalternative auch gegenüber der Generation von Revisionisten (Sheila Fitzpatrick u. a.) anzubieten. Während sich die Revisionisten vor allem auf das Studium der Alltagspraxis der normalen Menschen und der von der Sprache der Ideologie maskierten Gruppeninteressen konzentrierten, bemühen sich die Post-Revisionisten um die Wiedereinführung der Kategorie der „Macht“ bei der Analyse des Sowjetregimes, ohne jedoch wieder in das traditionelle Schema der Theorie des Totalitarismus zurückzufallen, das von einem einseitigen Einwirken des allmächtigen totalitären Regimes auf die indoktrinierte und atomisierte Masse der Bürger ausgeht. Die Post-Revisionisten verstehen die Ideologie ebenfalls nicht nur als Vorwand für die Geltendmachung von Gruppeninteressen, sondern sie betonen auch, dass die Ideologie konstitutiv sei für die Formulierung dieser Interessen. (Zum Begriff „Post-Revisionismus“ siehe David Lloyd Hoffmann: Stalinism: The Essential Readings, S. 5–6.)

Pinnow bekennt sich konzeptionell vor allem zu zwei bedeutenden Autoren. Die Hauptinspiration bietet ihm Michel Foucault, vor allem seine späten Arbeiten zum Begriff „Governmentalität“ (siehe Michel Foucault: The Birth of Biopolitics. Lectures at the Collège de France 1978–1979. Basingstoke 2008). „Governmentalität“ verbindet bei Foucault semantisch „Herrschen“ und „Denkmodi“ (Mentalität). Dieser Begriff umfasst besondere Arten des Denkens und Techniken der Administrative, die im 17. und 18. Jahrhundert in Europa aufkamen. Die liberalen Demokratien sind ebenso wie das Sowjetregime und einzelne Ausprägungen des Faschismus nur Varianten dieser Technologie des Herrschens und keine gegensätzlichen Systeme, als die sie die Theorie des Totalitarismus betrachtete. Deshalb macht Pinnow darauf aufmerksam, dass das Phänomen des Selbstmords primär als Problem einer Regierung verstanden werden muss, die das Ziel hat, die Bevölkerung nach bestimmten Konzeptionen zu formieren, die als wissenschaftlich gelten. Der Selbstmord transformiert sich hier von einem bloßen partiellen Thema zu einem Instrument des Verständnisses für das Funktionieren des Sowjetsystems als Ganzen.

Die zweite Inspirationsquelle ist die heute schon klassische Arbeit Steven Kotkins zu Magnitogorsk. In Anknüpfung an ihn definiert Pinnow auch den Begriff der „Macht“, die nicht nur Restriktion und Beschränkung bedeutet, sonder auch neue Bedingungen schafft. Sie ist zwar repressiv, schafft jedoch neue Aktionsmöglichkeiten.

Das Sowjetregime hatte eine starke normative Dimension. Sowjetische Forscher und Politiker betrachteten den Selbstmord im Kontext ihres breiteren Interesses an einer Transformation der Gesellschaft durch rationale, wissenschaftliche Praktiken. Ihr Ziel bestand in der Erreichung einer rationalen (von den Erkenntnissen der Wissenschaft geleiteten) Praxis, wie ihn das aufklärerische Denken der modernen Epoche in die Wiege gelegt hat. Deshalb verwendet Pinnow auch zur Bezeichnung des bolschewistischen Systems die Wendung „soviet social science state“. Das Hauptaugenmerk liegt darauf, wie die Regeln in der Konfrontation mit dem Alltag der Bevölkerung umgesetzt wurden, weniger mit Blick darauf, was die Parteidirektiven verboten, zu betrachten, sondern darauf, was sie möglich machten, sei es absichtlich oder unabsichtlich. (Steven Kotkin: Magnetic Mountain – Stalinism as a Civilization. Berkeley 1995, S. 22. Übrigens schöpft auch Kotkin ähnlich wie Pinnow seinen Stoff stark aus Foucault.) Der Selbstmord ist somit mehr als nur ein persönliches existenzielles Drama. Er ist eine höchst politische Frage, und eine Staatsmacht, die sich auf die Erkenntnis der Sozialwissenschaften stützt, muss sich mit dieser Erscheinung auseinandersetzen bzw. sie beherrschen. Jeder einzelne Selbstmord schien den sowjetischen Wissenschaftlern zu bestätigen, dass die Revolution, die die Schaffung eines neuen Menschen bedeutete, noch nicht beendet war. Die Identifizierung von Selbstmordtendenzen wurde so im Sowjetsystem zu einer höchst politischen Frage, sprichwörtlich ein Kampf der Revolution gegen die Konterrevolution, für die ein Symptom auch das Überdauern von Selbstmordtendenzen bei einigen Individuen war. Ebendies bedeutet jenes kreative Potenzial der Macht, bei dem durch Definition des Individuums und seiner Stellung in der Gesellschaft die Staatsmacht nicht nur bestimmte Einschränkungen, sondern auch neue Bedingungen des menschlichen Handelns schafft. Pinnow interessiert nicht, ob die Bolschewiki in ihrer Betrachtung des Selbstmords recht hatten oder nicht. Er geht konsequent im Einklang mit Foucaults Worten aus dem oben zitierten Werk aus Vorträgen zur Biopolitik vor: Bedeutung hat nur die Bestimmung eines Regimes von Wahrheitsäußerungen, das es ermöglichte, gewisse Dinge als wahr auszusprechen bzw. von ihnen zu behaupten, sie seien wahr.

„Lost to the Collective“ kann als sehr gelungenes historisches Werk aus Sicht der Quellenbasis (sehr umfangreich wurden hier Archivdokumente und Texte vor allem aus der damaligen Fachpresse genutzt) und auch des Stils angesehen werden. Das Buch besteht aus einer umfangreichen theoretischen Einleitung und fünf Kapiteln. Im ersten und zweiten machte es darauf aufmerksam, dass es sehr vereinfachend ist, von einer ausschließlichen Beeinflussung der sowjetischen Bolschewiki durch den Marxismus auszugehen. Es zeigt, inwieweit in diesem Gefilde auch weitere Gedankenströmungen reflektiert wurden (vor allem Durkheims These von der steigenden Selbstmordrate als Folge einer schwächeren Systemintegration). Das dritte Kapitel untersucht die Spannung zwischen der sozioökonomischen Erklärung der Motive von Selbstmorden einerseits und der Argumentation andererseits, wonach selbstmörderisches Handeln Erklärungsansätze aus der physischen Anthropologie und aus physiologischen Defekten unterstützt. Das vierte Kapitel konzentriert sich auf die Formierung der Kategorien einer Bevölkerungsstatistik in der UdSSR. Das fünfte Kapitel widmet sich einer Betrachtung des Selbstmords im speziellen Umfeld der Roten Armee. Es ist nur schade, dass der Autor an der Schwelle der Stalinschen zweiten Revolution an der Wende der zwanziger und der dreißiger Jahre stehengeblieben ist und nur einen kurzen Kommentar zu den Unterschieden beider Phasen der bolschewistischen Transformation der Gesellschaft zwischen den beiden Kriegen abgegeben hat.

Zu erwähnen ist, dass es große Verständnisschwierigkeiten geben kann, wenn man Pinnow ohne Reflexion seiner Foucaultschen Ansätze liest. Ähnlich wie Foucaults Studium des 17. und 18. Jahrhunderts vor allem das Verständnis der Praxis liberaler Demokratien unserer Gegenwart vermitteln sollte, ist auch dieses Buch bemüht, eine Diagnose der heutigen Gesellschaft abzugeben. In seinem Autoreferat zum Buch bemerkte Pinnow in dieser Richtung: „Eine ganze Reihe von uns glaubt an die Macht der Wissenschaft, dass diese einmal die dunklen Mängel der menschlichen Natürlichkeit überwindet, was größere Möglichkeiten einer Kontrolle des eigenen Schicksals verspricht. Durch die Erkenntnis der Erfahrungen aus der Sowjetunion, die ein einzigartiger Ausdruck solcher Anforderungen und Sehnsüchte sind, breitet das Buch „Lost to the Collective“ vor uns wesentliche Fragen aus; nicht nur, ob eine solche Kontrolle möglich, sondern auch, ob sie überhaupt wünschenswert ist.“ (Zitiert nach: www.rorotoko.com/index.php/article/kenneth_pinnow_interview_lost_collective_suicide_promise_soviet_socialism/P1/. [4. April 2011].)

Jakub Rákosník, Prag

Zitierweise: Jakub Rákosník über: Kenneth M. Pinnow: Lost to the Collective. Suicide and the Promise of Soviet Socialism, 1921–1929. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2010. XI, 276 S. ISBN: 978-0-8014-4766-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Rakosnik_Pinnow_Lost_to_the_Collective.html (Datum des Seitenbesuchs)

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