Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jakub Rákosník

 

Expert Cultures in Central Eastern Europe. The Internalization of Knowledge and the Transformation of Nation States since World War I. Edited by Martin Kohlrausch / Katrin Steffen / Stefan Wiederkehr. Osnabrück: fibre, 2010.  272 S. = Einzelveröffentlichungen des DHI Warschau, 23. ISBN: 978-3-938400-58-6.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1001461150/04

 

Der Sammelband befasst sich mit einer Thematik, die in den letzten Jahren im Fach Geschichte und den verwandten Sozialwissenschaften sehr populär wird. Das Studium der Technokratie und der Expertenkulturen bietet ein breites Feld nicht nur für empirische Forschungen, sondern auch für auf die „Meistererzählungen“ (master narratives) zur Modernitätsgeschichte. Die  Herausgeber selbst haben die Ziele des Buchs vielleicht zu bescheiden definiert: Erstens wollen sie zur Erkenntnis über die Beziehungen zwischen Staat, Experten und Gesellschaft in moderner Zeit beitragen, zweitens haben sie sich zum Ziel gesetzt, die Bedeutung Ostmitteleuropas in diesem Prozess hervorzuheben, die in den großen Darstellung der europäischen Geschichte oft vernachlässigt wird (S. 11). Die Forschung zu Expertenkulturen bietet jedoch weit mehreine neue Perspektive auf die ganze moderne Epoche. Vor fast einem Vierteljahrhundert brachte dies der Historiker Harold Perkin lakonisch auf den Punkt, als er schrieb:Das zwanzigste Jahrhundert ist nicht das Jahrhundert des gewöhnlichen Menschen, sondern des ungewöhnlichen und immer professionelleren Experten.Die Industriegesellschaft wird somit im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts von einerprofessionellen Gesellschaftersetzt, ohne Rücksicht darauf, zu welchem ideologischen Lager ein konkretes Land gehört.

Das gemeinsame und einigende Element des Sammelbandes ist die Aufgabe des Experten, eines beruflich qualifizieren Individuums, dessen Qualifikation von seinem Umfeld anerkannt wird:Experten benötigen immer weitere Experten, damit diese ihren Wert und den Grad der fachlichen Eignung bestimmen.(Eva Horn, S. 30) Und sie brauchen ebenfalls Anerkennung vonseiten der breiten Öffentlichkeit. Deshalb findet sich auch im Titel des Sammelbandes der BegriffExpertenkultur, um so die Abhängigkeit des Status der Träger von Expertenwissen vom äußeren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Umfeld, in dem sie wirken, zu betonen. Die technokratischen Tendenzen sind a priori weder links, noch rechts. ImZeitalter der Extreme, wie Eric Hobsbawm das kurze 20. Jahrhundert nannte, bot sich die Technokratie im Rahmen des Konflikts von Ideologien als eine der Alternativen in Bezug auf den klassischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts, den Faschismus und den Kommunismus an. Gleichzeitig aber verstanden es sämtliche erwähnten ideologischen Strömungen, die Leitung durch Experten in verschiedener Art und Weise an ihre Bedürfnisse anzupassen. Gerade darin ist eines der unzweifelhaften Positiva des Sammelbandes zu sehen: die Beschreibung des Funktionierens von Expertenkulturen in unterschiedlichen Phasen des 20. Jahrhunderts und im Rahmen diametral unterschiedlicher gesellschaftlicher Umfelder. Damit verbindet sich auch die gemeinsame Forschungsperspektive, die von den Herausgebern in der Einleitung betont wirdund diese besteht im Transnationalismus, also der Erforschung von Menschen und ihrer Beziehungsnetze, die sie schaffen und in deren Rahmen Gedanken und Informationen über den Kontinent hinweg ausgetauscht werden. Dieses Forschungsinteresse ankultureller Diffusion, das sich in der Zwischenkriegszeit deutlich anders als in der späteren Ära des Kalten Krieges gestaltete, ist als ein weiteres einigendes Element des gesamten Buches zu betrachten. Wie bereits gesagt, handelt es sich bei dem Buch um einen Sammelband, was auch gewisse Mängel mit sich bringt. Am Buch beteiligt waren fünfzehn Autoren, deren Stil sich unterscheidet und die sich partiellen Themen widmen, ohne miteinander verknüpft zu sein. Relativ am häufigsten vertreten sind Studien zu Polen (S. 4), zwei befassen sich mit der Tschechoslowakei, eine mit Ungarn. Die übrigen Studien konzentrieren sich auf den Transfer von Knowhow und Technologien bzw. widmen sich mehreren Staaten.

Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Der erste enthält die bereits erwähnten einleitenden Worte der Herausgeber, in denen die wesentlichen Begriffe und Forschungsvorhaben definiert werden. Daran schließt sich die eher theoretische Studie von Eva Horn zu den pathologischen Erscheinungen von Informationen durch Spionage und Geheimdienste an.

Die zweite Sektion trägt den Titel Technokratisches Denken und technologische Fachlichkeit. Hierzu gehören vier Studien. Kenneth Bertrams widmet sich der Herausbildung des organisierten Kapitalismus in der Zeit vor 1945, in dem der liberale freie Wettbewerb durch korporatistische Verhandlungen und Expertenmanagement ersetzt wurde. Diese Tendenz betrachtet er in Anknüpfung an Burnhams Buch Managerial Revolution (1941) als gemeinsames Merkmal von Stalinismus, Faschismus und reformiertem Liberalismus (New Deal). Stefan Rohdewald hat das technokratische Denken in Polen in der Pilsudski-Ära aufgearbeitet. Sein Hauptinteresse richtete sich auf die Person des Tadeusz Dzieduszycki und den Transfer des technokratischen Denkens aus der benachbarten Tschechoslowakei nach Polen. Der Tschechoslowakei sind auch die zwei folgenden Studien gewidmet: Elisabeth van Meer befasst sich mit der Technokratie in der Zwischenkriegszeit und Valentina Fava mit dem Transfer des Fordismus in die Praxis der Škoda-Werke, die sie mit der italienischen Firma Fiat vergleicht.

Der dritte Teil widmet sich den Expertennetzen zwischen Volkstreue und Internationalismus. Dagmara Jajeśniak-Quast und Ingo Loose richteten ihre Aufmerksamkeit auf Polen in der Zwischenkriegszeit. Roswitha Reinbothe bietet eine Übersicht über internationale wissenschaftliche Organisationen, in denen zwischen den beiden Weltkriegen Forscher aus Mittel- und Osteuropa aktiv waren. Den Haupt-Plotihres Aufsatzes stellt jedoch eine Analyse nationaler Animositäten dar, die sich im Rahmen solcher Expertengremien äußerten.

Der vierte Teil Eine neue Untersuchung des Eisernen Vorhangs: Experten zwischen Ost und West nach 1945 ist thematisch am kompaktesten. Christoph Mick widmet sich dem Wirken deutscher Wissenschaftler in der Nachkriegs-Sowjetunion, Pál Germuska dem Einfluss sowjetischer Berater in der ungarischen Rüstungsindustrie und Sari Autio-Sarasmo dem Technologietransfer aus Westdeutschland in die UdSSR. In der abschließenden Studie behandelt Małgorzata Mazurek Polen in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts und die Einflüsse des Verbraucherschutzes in Konfrontation zuerst mit dem Staatssozialismus und anschließend mit der Ideologie des Neoliberalismus, die sich nach 1989 nicht nur in Polen, sondern in höherem oder geringerem Maße in der gesamten untersuchten Region mit nur geringer Verspätung gegenüber den Ländern Westeuropas schnell durchsetzte.

Der Sammelband ist eindeutig eine gelungene und wichtige Publikation für jeden, der sich mit dieser Problematik auseinandersetzen möchte. Forschern am Beginn ihrer Laufbahn kann er darüber hinaus bei der Orientierung in der existierenden Literatur behilflich sein, denn die meisten Beiträge sind mit einem umfangreichen Zitateapparat versehen, in dem die wesentlichen historischen Werke zu Fragen von Technokratie und Expertenkulturen zu finden sind.

Jakub Rákosník, Prag

Zitierweise: Jakub Rákosník über: Expert Cultures in Central Eastern Europe. The Internalization of Knowledge and the Transformation of Nation States since World War I. Edited by Martin Kohlrausch / Katrin Steffen / Stefan Wiederkehr. Osnabrück: fibre, 2010. 272 S. = Einzelveröffentlichungen des DHI Warschau, 23. ISBN: 978-3-938400-58-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Rakosnik_Kohlrausch_Expert-Cultures.html (Datum des Seitenbesuchs)

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