Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Manuela Putz

 

Samizdat, Tamizdat and Beyond. Transnational Media During and After Socialism. Ed. by Friederike Kind-Kovács / Jessie Labov. New York, Oxford: Berg­hahn, 2013. XIII, 366 S., 6 Abb. = Studies in Contemporary European History 13. ISBN: 978-0-85745-585-7.

Inhaltsverzeichnis:

http://scans.hebis.de/30/38/58/30385855_toc.pdf

 

Als Forschungsfelder, die schwer auszusprechen sind, hat der Slawist Peter Steiner Sam­izdat und Tamizdat in einem Sonderband von Poetics Today einmal humorvoll bezeichnet. Damit gemeint war die illegale Herstellung und Zirkulation von Literatur im sogenannten Selbstverlag (Samizdat) in Osteuropa, sowie die Publikation von dort stammenden unzensierten Texten im Westen, dem Dortverlag (Tamizdat). Anhand dieser aufs engste miteinander verbundenen medialen Spiegelungsphänomene werden im von Friederike Kind-Kovács und Jessie Labov herausgegebenen Sammelband Vorstellungen eines während des Kalten Krieges hermetisch getrennten Europas kritisch beleuchtet. Vielfältige transnationale Kommunikationsnetzwerke und Transferwege werden aufgezeigt, die die unterschiedlichen Welten miteinander verbunden und den Austausch von Ideen und Informationen durch den Eisernen Vorhang ermöglicht haben. Sowohl die Inhalte der Schrift- und Tondokumente als auch ihre Ästhetik und Materialität, sowie vor allem die Szenen, in denen die Werke hergestellt und verbreitet wurden, dienen als Prismen, um Fragen nach dem Wesen der Kommunikation über Systemgrenzen hinweg zu beantworten: Nach Transfer- und Rezeptionsprozessen, aber auch nach Motivationen, Selbstverständnis und Identität(en) der Akteurinnen und Akteure. Das übergeordnete Thema der Grenzüberschreitung – angefangen von realen Staats- und Systemgrenzen bis hin zur Überwindung von Genregrenzen und ästhetischen Paradigmata – steht inhaltlich im Mittelpunkt der einzelnen Beiträge und diente darüber hinaus den Herausgeberinnen des Bandes als Leitmotiv.

Zu lange hatte man im Zuge der Systemkonkurrenz und der damit verbundenen bipolaren Weltsicht den Selbstverlag vorrangig als rein politisches Phänomen angesehen. Sam­izdat als kulturelle Praxis zu definieren ist ein Ergebnis der jüngeren Forschung. Um diesen Paradigmenwechsel zu unterstreichen und sich darin zu verorten, präsentieren die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung neben einem Überblick über die Entwicklung der Forschungsdiskussion eine über Ausschlusskriterien breit gefasste Definition von Sam­izdat/Tamizdat. Diese werden als transnationale Kommunikationsprozesse begriffen und stellen kollaborative Praktiken des Transfers und der Übersetzung dar. Auch wird nach ihrem Erbe und ihrer Relevanz für die Gegenwart und für außereuropäische Regionen gefragt.

Die einzelnen Beiträge zielen daher darauf ab, die Umstände auszuloten, unter denen sich die Bedeutung der Texte außerhalb ihres ursprünglichen Kontextes veränderte oder gar verlor. Welche Mechanismen waren dafür verantwortlich, dass bei der Rezeption Raum für Umdeutungen und Neuinterpretationen geschaffen wird? Welche Akteure waren an diesen Prozessen beteiligt? Welche Interessen standen hinter den einzelnen Akteursgruppen und welche Wirkung erzeugten Ästhetik und Performanz der einzelnen Medien?

Auf die Einleitung folgen vier Themenabschnitte. Die Beiträge der ersten drei Teile sind gemäß den bereits angeführten Fragestellungen inhaltlich eng verbunden und beziehen sich vorrangig auf Interaktionsprozesse zwischen osteuropäischen Kulturschaffenden und Andersdenkenden sowie Emigranten- und Unterstützerkreisen im westlichen Ausland in einer Zeitspanne seit den fünfziger Jahren bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Im vierten und letzten Abschnitt wird schließlich mit einem Potpourri an inhaltlich äußerst heterogenen Aufsätzen eine Brücke in das digitale Zeitalter geschlagen. Wenn Henrike Schmidts Fragen nach der Eignung des Samizdatbegriffs als Analysekategorie am Beispiel des RuNet noch eng verbunden mit dem Kernthema sind, zeigen Martin Halas Untersuchungen über die Blogosphäre in China oder jene von Daniel Gilfillan zur Zusammenarbeit zwischen dem österreichischen Kunstradio und Radio Belgrad – wenngleich erhellend – eher die Grenzen der Übertragbarkeit eines kulturellen Phänomens in gänzlich andere historische Bedingungen auf.

Übergeordnete Thesen sind vor allem in den drei ersten Teilen erkennbar. So geht aus den Beiträgen, die sich mit der Zirkulation von Texten und den daran beteiligten personellen Netzwerken für unterschiedliche osteuropäische Länder beschäftigen, hervor, wie maßgeblich einzelne Vermittlerpersönlichkeiten für das Funktionieren des Austauschs waren und wie sehr deren persönliche Überzeugungen die Szenen geprägt haben. Dass die einzelnen Motivationen nicht unbedingt politischen Charakters, sondern oft individueller Natur waren, zeigt Ann Komaromi am Beispiel des vom Slawistenehepaar Proffer in den USA gegründeten Ardis-Verlags. Der apolitischen Eigenwahrnehmung der Verleger, die sich mit ihren amateurhaften Veröffentlichungen moderner russischer Literatur als Geschenkgeber und Kulturvermittler für eine intellektuelle Leserschaft begriffen, stand die politische Lesart ihrer Tätigkeit durch die sowjetischen Behörden gegenüber. Inwieweit es in der Informationsvermittlung gerade während der Entspannungspolitik in den siebziger Jahren zu Interessenskonflikten zwischen verschiedenen Akteursgruppen kam, zeigt Lars Frederik Stöcker anhand der Analyse von Netzwerken, die illegale Literatur und für die Vervielfältigung erforderliches technisches Gerät zwischen Schweden und Polen über die Ostsee schmuggelten. So bestand nicht nur eine Arbeitsteilung zwischen lokalen Akteuren in beiden Ländern und gut etablierten Zirkeln in westlichen Emigrationszentren, sondern es gab deutliche Unterschiede in der Wahrnehmung dieser Zirkel durch die westliche Öffentlichkeit beziehungsweise westliche Regierungen. Was den Ideenaustausch innerhalb osteuropäischer Szenen betrifft, waren es abermals hoch motivierte Mediatoren, die aus dem Exil Verständigungs- und Übersetzungsprozesse in Gang hielten. Am Beispiel der Redaktionstätigkeit der unlängst verstorbenen Schriftstellerin Natalia Gorbanevskaya zeigt Karolina Zioło-Pużuk, wie über die beiden Exilzeitschriften Kultura und Kontinent eine polnisch-russische Zusammenarbeit und Verständigung initiiert wurde, die auf die Leserschaft in den Ursprungsländern rückwirken konnte. In diesen grenzüberschreitenden Informationsaustauschprozessen griffen verschiedene Medien ineinander. Friederike Kind-Kovács macht dies in ihrer Analyse anhand der westlichen Radiostation Radio Free Europe deutlich. Während der Sender anfangs vorrangig in Osteuropa informierte, entwickelte er sich in den siebziger Jahren mit seinen Programmpunkten, in denen Samizdat verlesen wurde, zu einer Art Archiv- und Dokumentationsstelle, die dazu beitrug, in der westlichen wissenschaftlichen community den Mythos vom Samizdat als Fenster in das verborgene „wahrhaftige Osteuropa“ zu generieren.

Es sind die unterschiedlichen, mit dem Mythos der Authentizität und Wahrhaftigkeit versehenen Narrative des Samizdat, die von den Beiträgern und Beiträgerinnen im zweiten Abschnitt zu Rumänien, der Tschechoslowakei und Polen untersucht werden. Cristina Petrescu widerlegt den lang verbreiteten Diskurs, dass das Fehlen illegal geschmuggelter Publikationen auf die Abwesenheit oppositioneller Kreise in Rumänien zurückzuführen ist. Muriel Blaive zeigt überzeugend, dass sich mit Hilfe von Samizdat­literatur, ihrer ungenauen Wiedergabe und Rezeption ein Diskurs vom unverhältnismäßigen Leiden der tschechoslowakischen Bevölkerung im Stalinismus entwickeln konnte, der trotz der Heterogenität der einzelnen Akteursgruppen und ihrer divergierenden Weltsichten sowohl für den Westen, als auch für die tschechoslowakische Bevölkerung und einzelne Emigrantengenerationen der eigenen Legitimation diente. Die Wiedergeburt des Diskurses um Zivilgesellschaft in den siebziger Jahren, der zumeist mit der von Adam Michnik und seiner in Paris gehaltenen Vorlesung zum Neuen Evolutionismus in Verbindung gebracht wurde, war laut Agnes Arndt das Ergebnis eines Kommunikationsprozesses, in dem sich transnationale Intellektuellenkreise darum bemühten, eine gemeinsame Sprache zu finden und Zukunftsvisionen für Europa zu entwickeln.

Im Fokus des sehr gelungenen dritten Abschnittes stehen bisher wenig untersuchte Medien des Samizdat, ihre ästhetischen Aspekte und Funktionen. Damit rücken alternative Szenen und künstlerischer Underground ins Licht, die leider nur selten mit dem Sam­izdatbegriff in Verbindung gebracht werden. Brian A. Horne analysiert das in der Sowjetunion beliebte Genre der Autorenlieder und somit Musik, die an der Grenzen der Illegalität angesiedelt war. Er macht deutlich, wie sehr das Herstellungsverfahren die Ästhetik des Mediums beeinflusste und sich Störgeräusche, indem sie Authentizität vorgaben, positiv auf die Rezeption auswirkten und als Symbol dafür gewertet wurden, einer weitläufigen, konspirativ agierenden Gemeinschaft von Hörern anzugehören. Selbstverortung und Vergemeinschaftung sind ebenfalls Gegenstand der Beiträge von Valentina Parisi und Alice Lovejoy. Mit der im Tamizdat herausgegebenen Kunstzeitschrift A-Ja schufen die Verleger nicht nur eine Plattform für die Präsentation von Werken einzelner non-konformer Künstler, die in der Sowjetunion verboten waren, sondern auch einen Referenzrahmen, der es ihnen ermöglichte, sich in der internationalen Kunstszene zu verorten und anschließend zu integrieren. Ähnliche Funktionen übernahmen Videoproduktionen aus der Tschechoslowakei und dem englischen Exil. Die ästhetischen Eigenschaften des Mediums implizierten personelle Nähe und Teilhabe und suggerierten eine Überwindung der geographischen Zersplitterung oppositioneller Kreise über Staatsgrenzen hinweg.

Mit ihrem Sammelband ist es Friederike Kind-Kovács und Jessie Labov auf eindrucksvolle Weise gelungen, den bisherigen Textkanon zu erweitern und mit der Meistererzählung des Samizdat als antikommunistischem und prowestlichem Sprachrohr zu brechen. Sie rücken das der Osteuropahistorie zugerechnete und mit dem Beigeschmack des Angestaubten behaftete Thema in einen breiten interdisziplinären Zusammenhang und zeigen, dass Samizdat/Tamizdat weit mehr war, als ein „Spionageroman“ (Komaromi). Doch auch wenn Barbara Falk und Jacques Rupnik in ihren Beiträgen zeigen konnten, dass von heutigen Regimekritikern außerhalb Europas den Zeichensystemen und Ideen des (ost)europäischen Dissens durchaus Bedeutung beigemessen wird, kann man bezweifeln, ob eine derartig weitläufige Erweiterung des Verständnisses von Samizdat uneingeschränkt Sinn macht. Denn selbst auf den (ost)europäischen Samizdat reduziert, bleiben viele Forschungsdesiderata bestehen. Viel zu wenig erfährt man über den biographischen Hintergrund einzelner Protagonistinnen und Protagonisten, über die mit ihrer Tätigkeit verbundenen Vorstellungen und die Beweggründe dafür, sich in den einzelnen transnationalen Netzwerken, die sich übrigens nicht auf Emigrantenkreise beschränkten, zu engagieren. Auch werden weiterhin Szenen Andersdenkender an den Peripherien vernachlässigt. Selbst über die Inhalte von seit Jahrzehnten publiziert vorliegenden Textproduktionen ist bisher viel zu wenig gesagt. All das jedoch ist nicht den Herausgeberinnen anzulasten. Diese haben sich vielmehr darum bemüht, dass Samizdat, wie Thomas Lindenberger in seinem Vorwort schreibt, als gesamteuropäisches Kulturgut wahrgenommen werden kann. Dieses harrt nun nicht nur weiterer Studien, sondern auch der Vernetzung der einzelnen Archive unter Wahrnehmung der Chancen, die die digitalen Geisteswissenschaften verheißen.

Manuela Putz, Bremen

Zitierweise: Manuela Putz über: JGO_Rezensionen IOS online, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Putz_Kind-Kovacs_Samizdat_Tamizdat_and_beyond.html (Datum des Seitenbesuchs)

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