Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Lutz Prieß

 

Arbeitskräfte als Kriegsbeute. Der Fall Ost- und Südosteuropa 1939–1945. Hrsg. von Karsten Linne / Florian Dierl. Berlin: Metropol, 2011. 318 S., 4 Tab. ISBN: 978-3-86331-054-7.

Inhaltsverzeichnis:

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Der vorliegende Sammelband markiert einen wichtigen Schritt im Forschungsprozess zur Geschichte der Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Die bisherigen Studien zur Lage der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen drängten dazu, die Strukturen und Mechanismen der millionenfachen Rekrutierung von ausländischen Arbeitskräften für die deutsche Kriegs- und Rüstungswirtschaft zwischen 1933 und 1945 systematisch zu analysieren.

Den Herausgebern war sicher bewusst, dass die Ergebnisse der hier aus einem Workshop hervorgegangen Forschungsbeiträge in absehbarer Zeit durch umfassendere Einzelstudienabgelöst‘ werden würden. Doch bis 2010/2011 gab es nur wenige Spezialisten, die sich den Fragen des Wechselverhältnisses von Arbeitskräfteerfassung, Volkstumspolitik, Arbeiterrekrutierung und Arbeitseinsatz in den besetzten Gebieten und im Deutschen Reich widmeten.

Einleitend skizziert Dietmar G. Maier die frühzeitige Einbeziehung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (der Autor spricht immer nur von derReichsanstalt) in die nationalsozialistische Mobilisierung der Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft. Ihre Eingliederung in das Reichsarbeitsministerium sowie die 1942 erfolgte Unterstellung unter den Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz (GBA) waren mit folgenreichen strukturellen Umgestaltungen verbunden. Wenn die Zahl von rund 2500 Mitarbeitern der deutschen Arbeitsverwaltung in den besetzten Gebieten Europas genannt wird, darunter 24 Führungskräfte namentlich, dann zeugt das von der engen Verflechtung der deutschen Behörden mit der im Verlaufe des Krieges sich radikalisierenden Besatzungspolitik.

Von der anfänglich propagandistisch aufwendig begleitetenAusländeranwerbungbis zur Anwendung von Zwang zur Rekrutierung vonFremdarbeiternwaren die Arbeitsbehörden alsTeil der Zivil- oder Militärverwaltungin den annektierten Gebieten an der Ausbeutung der menschlichen Ressourcen beteiligt. Dafür liefern die nachfolgenden Beiträge über die Tätigkeit der deutschen Arbeitsverwaltungen differenzierte Studien, so imProtektorat Böhmen und Mähren(Steffen Becker), in Oberschlesien (Ryszard Kaczmarek), im Distrikt Krakau (Mario Wenzel), im Reichsgau Wartheland (Karsten Linne), im Distrikt Radom (Robert Seidel), imUnabhängigen Staat Kroatien(Christian Schölzel), in Serbien (Zoran Janjetović) , in den baltischen Generalbezirken des Reichskommissariats Ostland (Tilman Plath) sowie in der Ukraine (Herwig Baum).

Das Wirken der deutschen Arbeitsbehörden während der deutschen Besetzung im zivil verwalteten Generalkommissariat Weißruthenien und dem unter Militärverwaltung (Rückwärtiges Heeresgebiet Mitte, später rückwärtige Armeegebiete) stehenden Landesteil ist in diesem Sammelband nicht behandelt. Die Herausgeber verzichteten hier auf einen Hinweis zu den Forschungen von Christian Gerlach über die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland (obwohl in der Auswahlbiografie enthalten).

S. Becker trägt dazu bei, den oftmals unterbelichteten Arbeitseinsatz tschechischer Arbeiter aus demProtektorat Böhmen und Mährenfür das Deutsche Reich aufzuhellen. Hier wurde der Übergang vonAnwerbung(seit März 1939), zu Druck und systematischem Zwang zur Arbeit für den Feind schon frühzeitig in Gang gesetzt.

In vier regionalthematischen Beiträgen wird Polen als Modellfall behandelt. In Ostoberschlesien hatte die deutsche Arbeitsverwaltung einen nicht geringen Anteil an Inklusion und Exklusion von Reichsdeutschen, Volksdeutschen und Polen nach rassistischen Vorgaben in die nationalsozialistischeVolksgemeinschaft. Die meisten Polen, Juden, Ostarbeiter und Kriegsgefangene standen außerhalb derVolksgemeinschaft“, und so wurden sie auch von den Arbeitsbehörden behandelt.

ImReichsgau Warthelandbeförderten Volkstumspolitik und Arbeiterrekrutierung dieEntpolinisierungundEntjudungdes Wartegaus mit dem Ziel derGermanisierung. K. Linne bescheinigt in seiner Analyse der deutschen Arbeitsverwaltung, besonders anpassungsfähig, kompromissorientiert und flexibel bei der Selektierung, Rekrutierung und Verschickung von Arbeitskräften in dieUmsiedlungsmaschineriegewesen zu sein.

Schon wenige Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen wurden – wie beispielsweise in der zweiten Septemberwoche im Distrikt Radom – von deutschen Beamten Arbeitsämter eingerichtet. Im Distrikt Radom diente die schnelle Erfassung der Arbeitskräfte dem Zweck der Ausbeutung in der örtlichen Schwer- und Rüstungsindustrie und als Arbeitskräftereserve für die Verschickung ins Reich. Die begrenzte Bereitschaft, sichfreiwilligzur Arbeit in der Fremde zu melden, führte schon 1940 zu drastischen Maßnahmen. Zwangsrekrutierungen, vor allem aus den Reihen der Landbevölkerung, gehörten fortan zur Tagesordnung.

Auch die deutsche Arbeitsverwaltung im Distrikt Krakau brauchte keine lange Vorbereitungszeit, um bereits am 18. September 1939 in Krakau und wenige Tage später in weiteren Orten ihre Tätigkeit vor Ort aufzunehmen. Ab 1940 war sie für den Arbeitseinsatz der jüdischen Bevölkerung zuständig. Die deutsche Arbeitsverwaltung setzte vor allem die Pflicht- und Zwangsarbeit jüdischer Menschen für zivile Behörden, Wehrmacht, Polizei und in kriegswichtigen Betrieben durch. M. Wenzel liefert bedrückende Beispiele für die aktive Beteiligung der Arbeitsverwaltung am Judenmord.

In den baltischen Generalbezirken sollte dieArbeitseinsatzpolitikdurch die Zivilverwaltung realisiert werden. Aber Interessenkonflikte zwischen derLandeseigenen Verwaltung, örtlichen Wehrwirtschaftsbehörden, Ostgesellschaften der Wehrmacht und der Polizei behinderten eine effektive Rekrutierung von Arbeitskräften. Die rassistische geprägte Hierarchisierung führte dennoch auch in den baltischen Territorien zur Vernichtung der Juden und dem Zwangsarbeitereinsatz der slawischen Bevölkerung.

Die Ukraine war dasHauptrekrutierungsgebietfür nach Deutschland deportierte Zwangsarbeiter. Deutsche Militär- und Zivilverwaltungen zwangen unzählige Einheimische aber auch zur Zwangsarbeit vor Ort. Das Fazit von H. Baum über die deutschen Akteure der Zwangsarbeiterrekrutierung lautet, dass diese stark genug gewesen seien,die in der Ukraine vorhanden Arbeitskräfte rücksichtslos zu mobilisieren.

Kroatien alsVerbündeterdes Deutschen Reiches sollte neben dem Arbeitseinsatz von Kriegsgefangenen überwiegend freiwillig angeworbene Zivilarbeiter zum Arbeits­einsatz nach Deutschland verpflichten. C. Schölzel analysiert, wie einheimische und deutsche Behörden zum Teil parallel oder konkurrierend agierten.

Im besetzten Serbien regulierte die deutsche Militärverwaltung die Rekrutierung von Kriegsgefangenen, Juden und Roma als Zwangsarbeiter für die Wehrmacht und deutsche Dienststellen. Der Generalbevollmächtigte für die Wirtschaft in Serbien war ab Mitte 1941 zuständig für die Entsendungfreiwilligerserbischer Arbeitskräfte ins Deutsche Reich. In Serbien selbst wurde das Prinzip derPflichtarbeitdurchgesetzt. Die oftmals auch gewaltsam durchgesetzte Zwangs- und Pflichtarbeit führte zu verstärktem Widerstand gegen das Besatzungsregime.

Alle Autoren sind Kenner der länderspezifische Historiografie, aber es ist noch nicht gängige Praxis, auch einheimische Experten zu Wort kommen zu lassen wie Ryszard Kaczmarek und Zoran Janjetović.

Lutz Prieß, Berlin

Zitierweise: Lutz Prieß über: Arbeitskräfte als Kriegsbeute. Der Fall Ost- und Südosteuropa 1939–1945. Hrsg. von Karsten Linne / Florian Dierl. Berlin: Metropol, 2011. 318 S., 4 Tab. ISBN: 978-3-86331-054-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Priess_Linne_Arbeitskraefte_als_Kriegsbeute.html (Datum des Seitenbesuchs)

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