Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 8 (2018), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Tilman Plath

 

Die baltischen Länder und Europa in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Norbert Angermann / Karsten Brüggemann / Inna Põltsam-Jürjo. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2015. 416 S., Tab. = Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, 26. ISBN: 978-3-412-50269-0.

Inhaltsverzeichnis:

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Der Sammelband geht auf eine Tagung der Baltischen Historischen Kommission von 2009 in Göttingen zurück und versammelt insgesamt recht heterogene Aufsätze, die im Wesentlichen chronologisch angeordnet sind.

Lohnenswert zu lesen ist der Band im Einzelnen, da es sich bei den Autoren durchweg um Experten ihres Faches handelt und somit Einblicke in zum Teil laufende Forschungen vermittelt werden. In der Gesamtschau regt der Band, nicht zuletzt durch den vorangestellten Aufsatz von Erwin Oberländer zur Reflektion über die Rolle der Baltischen Länder innerhalb Europas in der Epoche der Frühen Neuzeit an. Dabei konstatiert Oberländer grundsätzlich eine Art des „Zurückbleibens“ der Region gegenüber den Entwicklungen in Westeuropa, was vor allem die soziale und wirtschaftliche Ebene betrifft, und greift in diesem Zusammenhang den Begriff des „Hineinragens ständisch gebundener Strukturen“ von Werner Conze auf. Ein gewisser Widerspruch dazu wird aus literaturwissenschaftlicher Sicht von Martin Klöker formuliert, der zur Verortung der deutschsprachigen Literatur im Baltikum während der Frühen Neuzeit ein koloniales Erklärungsmodell mit Deutschland als Zentrum und dem Baltikum als Peripherie ablehnt und eher für ein Modell plädiert, das von einem gleichberechtigten Nebeneinander von deutschen Literaturen in verschiedenen Regionen mit wechselseitigen Beziehungsverhältnissen ausgeht. Ungeachtet dieser Frage der Verortung dieser Region innerhalb der europäischen Entwicklung hält der Band insgesamt an der Verwendung des Epochenbegriffs Frühe Neuzeit mit Hinblick auf diese Region fest, nicht zuletzt auch, da zum einen westeuropäische Modernisierungstendenzen durch die schwedische Herrschaft oder die kurländischen Herzöge auch hierhin ihren Weg fanden, und zum anderen, weil auch aus politischer Sicht die Zusammenfassung dieser Jahrhunderte zwischen dem Zusammenbruch Altlivlands und der Etablierung der russischen Herrschaft in der Region sinnvoll erscheint. Jedoch ist damit auch ein weiteres Problem der Einbettung in den europäischen Kontext benannt, das auch von den Herausgebern und Oberländer thematisiert wird, und zwar das der Periodisierung. Was den Beginn dieser Epoche betrifft, so scheint in der Tat das Jahr 1561 als Zäsur wichtiger zu sein als die Jahrhundertwende um 1500. Dennoch wird die Agoniephase der altlivländischen Herrschaftsstruktur in den Jahrzehnten vor 1561 in mehrere Aufsätzen behandelt, welche nebenbei bemerkt gut aufeinander abgestimmt sind und sich hervorragend ergänzen. Zudem wird in diesen Beiträgen sehr überzeugend die überregionale Dimension der Ereignisse herausgestellt, beispielsweise durch die Ausführungen von Marina Bessudnova zu den Beziehungen zwischen Novgorod, Moskau und Livland. Die Beziehung zum östlichen Nachbarn wird im anschließenden Aufsatz von Anti Selart noch fortgeführt, der durch die Konzentration auf die Person Johann Blankenfelds zudem auch eine perfekte Überleitung zu den ebenfalls personengeschichtlich um das Erzbistum Riga kreisenden Aufsätzen von Stefan Hartmann und Madis Maasing darstellt.

Wie sehr die Region auch personell anhand von Netzwerken im nordosteuropäischen Kontext eingebettet war, wird vor allem in den Aufsätzen von Ivar Leimus zu den Münzbeziehungen Livlands im 16. Jahrhundert, von Dirk-Gerd Erpenbeck über die Glasmacher und von Viktor Zacharov zu den baltischen Kaufleuten in Russland während des 18. Jahrhunderts deutlich. Allerdings ist insbesondere der Aufsatz von Erpenbeck allzu sehr um Vollständigkeit bemüht, so dass für diejenigen, die sich nicht ausgerechnet mit Glasmacherei im Baltikum im 18. Jahrhundert interessieren, die summarische Auflistung von Namen und Orten nur bedingt Erkenntnisgewinn bereithält.

Die überregionale Dimension wird auch in den beiden sich ebenfalls gut ergänzenden Aufsätzen zum Herzogtum Kurland und Semgallen thematisiert. Während Volker Keller dabei sehr quellennah die Anfänge der diplomatischen Beziehungen zwischen den ungleichen Partnern England und Kurland untersucht, konstatiert Andreas Fül­berth trotz vieler Forschungsleistungen zur kurländisch-niederländischen Beziehungsgeschichte einige Desiderata.

Als regionale Mikrostudien zu verstehen sind die Arbeiten von Inna Põltsam-Jürjo zu Neu-Pernau, von Lea Kõiv zur schwedischen Kirchenpolitk in Reval und von Enn Küng zur Tätigkeit des Kaufmanns Jacob Porteus in Narva. Insbesondere diese Aufsätze bilden einen idealen Gegensatz zu den allgemeinen Überlegungen Oberländers, da sie einen sehr dichten Einblick in das konkrete Leben einzelner Personen vermitteln. Wie die genannten Ortschaften jedoch deutlich machen, liegt insgesamt in dem Band ein gewisser Schwerpunkt auf den heute estnischen Raum, was sicherlich mit dem wissenschaftlichen Profil der Herausgeber zusammenhängt, aber vielleicht auch auf den Stellenwert der Frühen Neuzeitforschung in Lettland zurückzuführen ist. Der einzige lettische Beiträger, Gvido Straube, entwirft ein eher knappes Bild zu der aus seiner Sicht noch nicht hinreichend erforschten Gegenreformation in Livland unter polnischer Herrschaft und ihrem Scheitern. Ebenfalls etwas für sich stehen die letzten beiden Aufsätze von Bogusłav Dybaś und Mati Laur, die sich beide mit herausragenden Persönlichkeiten beschäftigen. Dybaś beschäftigt sich mit der umstrittenen Figur Johann Reinhold Pattkuls und der „Kapitulation“ gegenüber August dem Starken von 1699 und Laur widmet sich der Reformpolitik des Generalgouverneurs George von Browne im Sinne einer „guten Policey“. Beiden gemeinsam ist die Thematik der Privilegien der Ritterschaften gegenüber der überregionalen Zentralgewalt und das Verhältnis der Stadt Riga zum Adel innerhalb der Region. Das Thema des Widerspruchs zwischen Adelsprivilegien und unifizierender Zentralgewalt war auch und ganz besonders während des 19. Jahrhunderts äußerst aktuell, womit deutlich wird, dass anders als der Zeitraum zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Wende vom 18. zum 19. Jh. weniger als starke Zäsur in der Geschichte der Baltischen Länder in Erscheinung tritt.

In den Ausführungen von Dybaś wird beiläufig ein Aspekt genannt, der insgesamt stärker Berücksichtigung hätte finden können; und zwar hielt man es in den Überlegungen bezüglich der „Kapitulation“ für ratsam, an der Grenze zwischen dem polnischen Livland und dem damals noch schwedischen Livland festzuhalten, was zeigt, dass das heutige Lettgallen in dieser Epoche nicht mehr Teil der „Baltischen Länder“ war – ein nicht unwesentliches Ergebnis dieser Epoche! Die Zusammengehörigkeit der anderen zum Teil politisch gesehen doch recht heterogen verwalteten Gebiete als „Baltische Länder“ wird an keiner Stelle des Bandes angezweifelt, aber auch nicht umfassend erläutert. Dass die Regionalgeschichte Lettgallens in diesem Band als Teil der polnischen Geschichte aus dem Blickwinkel ‚verschwindet‘, mag auch daran liegen, dass man in diesem Band wenig vom Leben der Esten und Letten erfährt. Es handelt sich, sicherlich aufgrund der Quellenlage, um eine Geschichte der Baltischen Länder in der Frühen Neuzeit praktisch ohne Esten und Letten, was eigentlich schade ist, an dem großen wissenschaftlichen Wert der einzelnen Aufsätze allerdings nichts ändert.

Besonders gelungen sind die gut aufeinander abgestimmten Themenkomplexe, wie der zu den diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen des alten Livlands vor 1561 in den Texten von Bessudnova, Selart, Hartmann und Maasing, oder der kleine Teil zu Kurland, sowie drittens die enggeführten Regionalstudien von Põltsam-Jürjo, Kõiv, Küng. Problematischer zu lesen sind die faktographischen Auflistungen von Personen- und Ortsnamen in den Texten von Leimus, Erpenbeck und Zacharov. Gewissermaßen für sich stehen die Aufsätze von Straube, Dybaś und Laur. Alle zusammen liefern sie im Kontext der von Oberländer eingangs aufgeworfenen Fragen zur Verortung der Region im Europa der Frühen Neuzeit neue Denkanstöße. Diese bleiben allerdings notgedrungen innerhalb ihrer Disziplinen, die eher traditionell von diplomatie-, wirtschafts- oder politikgeschichtlichen Fragen bestimmt sind. Kulturgeschichtliche Fragestellungen finden sich kaum.

Tilman Plath, Greifwald

Zitierweise: Tilman Plath über: Die baltischen Länder und Europa in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Norbert Angermann / Karsten Brüggemann / Inna Põltsam-Jürjo. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2015. 416 S., Tab. = Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, 26. ISBN: 978-3-412-50118-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Plath_Angermann_Die_baltischen_Laender.html (Datum des Seitenbesuchs)

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