Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Julia Obertreis

 

Steven E. Harris: Communism on Tomorrow Street. Mass Housing and Everyday Life After Stalin. Washington, D.C.: Woodrow Wilson Center Press, 2013. XX, 394 S., 15 Abb., 17 Tab. ISBN: 978-1-4214-0566-7.

Eine Danksagung, die über acht Seiten geht, lässt nichts Gutes ahnen. Kann sich da jemand prinzipiell nicht kurz fassen? Doch obwohl das vorliegende Buch auch in seinem Hauptteil ausführlich und für ein amerikanisches Erstlingswerk erstaunlich umfangreich ist, handelt es sich doch – um dies vorwegzunehmen – um einen gut lesbaren und vor allem substantiellen Beitrag sowohl zur Geschichte des Wohnens in der Sowjetunion als auch zur Geschichte der Chruščev-Ära.

Es geht um den Massenwohnungsbau und die berühmt-berüchtigte сhruščevka – Letzteres ein umgangssprachlich im Russischen fest etablierter Begriff, den der Autor synonym verwendet mit der für eine Familie vorgesehenen separaten Wohnung im Plattenneubau, der aber heute auch und sogar vorrangig für die aus der Chruščev-Zeit stammenden Platten-Wohnbauten selbst verwendet wird. Steven Harris untersucht diese Phänomene als Metapher für die Entstalinisierung: der Umzug aus der in der Stalinzeit dominierenden Kommunalwohnung in die separate Wohnung war ein Massenerlebnis des „Tauwetters“. Er fragt vor allem nach den kleinen Leuten, den „ordinary residents“, und ihrem Umgang mit der höchst willkommenen Veränderung der Wohnsituation, und möchte damit der bisher in der Forschung vorherrschenden Konzentration auf die Mitglieder der kulturellen Intelligenzija als Rezipienten und Akteure des „Tauwetters“ etwas entgegensetzen. Dabei kann er sich auf eine breite Quellenbasis stützen, die von Materialien aus verschiedenen zentralen Archiven und dem Petersburger Stadtarchiv über eine ganze Reihe von Fachzeitschriften und Zeitungen sowie demographischen Statistiken bis zu ausgewählten Memoiren reicht. Es ist einer der Vorzüge des vorliegenden Buches, viele „schöne“, d.h. eingängige und auch unterhaltsame Quellen zu präsentieren; stellenweise wirkt es allerdings auch beinahe quellenverliebt.

Die Studie behandelt das Thema breit und umfassend. Neben dem staatlichen untersucht Harris den genossenschaftlichen und privaten Hausbau und geht zudem auf das illegale Besetzen von Grundstücken und Wohnungen ein. Sein Augenmerk liegt auch auf dem Inneren der Wohnungen, wobei er Vorgaben zur Wohnungseinrichtung und -ausstattung und deren Umsetzbarkeit beleuchtet. Neben Sozial-, Politik- und Wirtschaftsgeschichte wird so auch die Geschichte des Konsums zum Thema, allerdings mit wenig überraschenden Ergebnissen, wie etwa, dass man trotz aller Anstrengungen mit dem Westen nicht gleichziehen konnte.

Die Diskussionen um die neuen Wohnungen wurden im sowjetischen Russland – auf dieses beschränkt sich die Arbeit – breiter und lebhafter geführt als man vielleicht vermutet hätte. Der propagandistisch gern inszenierte Einzug in die neue Wohnung, der von vielen als Glücksmoment erlebt wurde, wich häufig schnell der Ernüchterung über Konstruktions- und Baumängel des neuen Heims wie zu wenig Stauraum, Hellhörigkeit oder feuchte Wände aufgrund schlecht verlegter Abwasserrohre. Die Wohnpolitik orientierte sich nach wie vor an den in der frühen sowjetischen Zeit etablierten Verteilungsnormen, wobei nur die Wohn-, nicht die Nutzräume in das Kalkül einbezogen wurden, so dass die Bewohner der Neubauten sich mit relativ großen Zimmern und winzigen Küchen und Fluren arrangieren mussten. Dieser Umstand sowie die hauptsächlich Kostengründen geschuldete geringe Gesamtgröße der Wohnungen waren Gegenstand der Diskussionen auf Treffen von Bürgern mit Architekten, wo letztere für all die Unzulänglichkeiten, die sie meist nicht zu verantworten hatten, zur Rede gestellt wurden. Chruščevs Herabstufung der Architekten zugunsten von Ingenieuren und Bauverantwortlichen hatte demnach laut Harris eine populistische Komponente.

Der Verfasser arbeitet eine Bandbreite von Kommunikationskanälen zwischen Bevölkerung und Regime heraus, die durch den Massenwohnungsbau entstanden, und zu denen neben den inzwischen in der Forschung häufig ausgewerteten Eingaben auch Kommentarbücher zu Möbelausstellungen oder besagte Bewohner-Experten-Treffen gehörten. Die von Chruščev als Schritt zum Kommunismus hin inszenierte Wohnungsbaukampagne wurde von den Bürgern umfunktioniert, wenn sie über die genannten Kanäle ihre Unzufriedenheit ausdrückten und Stellung zu verschiedenen Planungs- und Baufragen nahmen. Diesen Prozess bezeichnet Harris als Politisierung der Wohnungsfrage. Die Bewohner kritisierten sehr offen und suchten nach Schuldigen. In ihrem Umgang mit der neuen Wohnsituation bildeten sie eine neue übergreifende Identität, einen sozialen Zusammenhalt als „new residents“ aus. Ihre Kritik an den Missständen stand aber nicht per se im Gegensatz zur großen ideologischen Vision des Aufbaus des Kommunismus. Einige Bürger bedienten sich gar der staatlichen Rhetorik vom „kommunistischen Lebensstil“, um ihren Anliegen Gewicht zu verleihen.

Auch an anderer Stelle handelten die Bürger nicht im Widerspruch zur staatlichen Ideologie, sondern eigentlich in deren Auftrag: beim Einzug in Neubausiedlungen waren in der Regel die geplanten Infrastrukturen wie geteerte Straßen oder Kindergärten noch nicht vorhanden. Über sumpfige Wege ging es hinein in die gerade eben erst oder noch nicht einmal komplett fertiggestellten Neubauten. Die neuen Bewohner wurden in dieser Situation laut Harris insofern aktiv, als sie Gemeinschaften bildeten, die kollektiv das neue Leben verwalten und kontrollieren sollten. Es ist richtig, dass dies der politischen Leitlinie Chruščevs entsprach, wonach Bürger staatliche Funktionen übernehmen sollten und daher Institutionen wie Kameradschaftsgerichte und družiny, die sich nun auch in den Neubauvierteln bildeten, gefördert wurden. Allerdings hätte man hier noch stärker auf die Erziehungsmission Chruščevs eingehen können.

Von der offiziellen Ideologie abweichend wurden die Verlautbarungen der Bürger allerdings dann, wenn sie soziale Unterschiede durch die Gegenüberstellung der privilegierten Stadtzentren und der marginalisierten Außenbezirke hervorhoben. Konfliktpotential, das Harris erstmalig herausarbeitet, lag zudem in der privilegierten Stellung der Genossenschaften, die in Stadtzentren bauen wollten und andere von Baugrundstücken verdrängten; hier kam es vor allem zu Konflikten mit privaten Hausbauern. In anderen Fällen besetzten Leute Wohnungen oder Grundstücke und setzten ihren Anspruch darauf dann mit Klagen und zivilem Ungehorsam durch. Dies zeigt deutlich, dass sich die Stellung des Individuums auch im rechtlichen Sinne gegenüber dem Stalinismus stark geändert hatte.

Letztlich bescheinigt Harris dem Massenwohnungsbau in einem insgesamt etwas schwachen Fazit, Chruščevs Regime gestützt zu haben, denn die gewöhnlichen Bürger hätten nun am Sozialismus in neuartiger Weise partizipieren können, nicht nur durch den Luxus einer separaten Wohnung, sondern auch durch die Diskussion der Probleme damit. Der Frage, wie die Unzufriedenheit mit den Mängeln der Plattenbauten sich längerfristig auswirkte, weicht der Autor hier eher aus, und tatsächlich wird man von hier keine Linie zum Zerfall der Sowjetunion ziehen können. Was im Schlussteil allerdings fehlt, ist eine bilanzierende Einordnung der Ergebnisse der Studie in die größeren Diskussionsstränge der zurzeit lebendigen Forschung zur Entstalinisierung. Auch hätte man sich hier eine Stellungnahme etwa zu der spannenden Frage gewünscht, wie das Maß an sozialer Kontrolle in den Neubauvierteln – auch im Vergleich zur Kommunalwohnung – zu bewerten ist.

Insgesamt handelt es sich jedoch um eine gründlich recherchierte, detaillierte und umfassende Studie, die uns die Beteiligung der Bevölkerung am Massenwohnungsbau in Zeiten des politischen Wandels der Chruščev-Zeit differenziert vor Augen führt.

Julia Obertreis, Erlangen

Zitierweise: Julia Obertreis über: Steven E. Harris: Communism on Tomorrow Street. Mass Housing and Everyday Life After Stalin. Washington, D.C.: Woodrow Wilson Center Press, 2013. XX, 394 S., 15 Abb., 17 Tab. ISBN: 978-1-4214-0566-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Obertreis_Harris_Communism_on_Tomorrow_Street.html (Datum des Seitenbesuchs)

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