Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Alexandra Oberländer

 

Hunger and Scarcity under State-Socialism. Ed. by Matthias Middell / Felix Wemheuer. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2012. 383 S., Tab. = Global History and International Studies, 3. ISBN: 978-3-86583-224-5.

Inhaltsverzeichnis:

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Der Umstand, dass Hungerkatastrophen im 20. Jahrhundert als eigentlich vermeidbar gelten, macht sie zu einem moralischen Problem. So leitet der Herausgeber Matthias Middell den vorliegenden Sammelband zu Hunger und Mangel im Staatssozialismus ein (S. 13). Jenes moralische Problem wiegt bei der Beschäftigung mit dem Staatssozialismus insofern schwerer, als diese Staaten sich damit schmückten, Hunger und Elend ein Ende bereiten zu wollen. Die geographische Breite der Beiträge reicht von der DDR über Tschechien und Polen in die Sowjetunion und bis nach China. Noch existierende Staatssozialismen wie Nordkorea oder Kuba oder aber diverse sozialistische Experimente auf dem afrikanischen Kontinent finden keine Berücksichtigung. Der Sammelband vereint einige Aufsätze, die bereits in einem deutschsprachigen Sammelband von Matthias Middell und Felix Wemheuer im Jahre 2011 erschienen sind, während andere Artikel fehlen. Ergänzt wurde die englischsprachige Version um Beiträge von Olga Velikanova, Martin Franc, Felix Wemheuer, sowie einen kommentierenden Beitrag von Thomas P. Bernstein.

In den meisten der vorliegenden Beiträge wird das von Middell angesprochene moralische Problem auf die eine oder andere Weise kommentiert. Die Rolle des Staates als – wenn man so will – Produzent einer Hungerkrise wird von allen Autoren und Autorinnen betont. Gleichwohl vermeidet der vorliegende Sammelband die in der Vergangenheit gerne reproduzierten, simplifizierenden Qualifizierungen von vor allem stalinistischer Hungerpolitik als Genozid (Holodomor) oder sonstiger bewusster ethnischer oder sozialer Säuberung missliebiger „Elemente“. Die meisten Beiträge geben sich Mühe, die oft chaotischen Entscheidungen sowie die Kontexte der Hungerkatastrophen zu beleuchten. Die Aufsätze von Wendy Goldman und Donald Filtzer weisen darauf hin, dass die sowjetischen Opfer keineswegs vornehmlich aus der ideologisch vermeintlich unsicheren Landbevölkerung bestanden, sondern dass vor allem die Arbeiter und Arbeiterinnen unter dem Hunger der dreißiger Jahre und der Nachkriegsjahre gelitten haben. Stephen Wheatcroft kommt zum Ergebnis, dass Stalin während der Hungerkatastrophe der frühen dreißiger Jahre Fahrlässigkeit vorgeworfen werden könne, sicherlich aber nicht absichtsvolles und bösartiges Handeln. Auf diesem Kontinuum der Einschätzungen rangieren die Artikel von Olaf Mertelsmann über Mangelernährung in Estland, die „vom stalinistischen Staat nicht beabsichtigt, aber doch ein Ergebnis der [wirtschaftlichen] Reformen“ gewesen sei, bis hin zu Alice Weinrebs Untersuchung der DDR-Schulspeisungen. Weinreb verhandelt diese als Ausweis dafür, dass sich die DDR explizit für die Ernährung ihrer Bevölkerung interessierte und Ernährung als wohlfahrtsstaatliches und nicht etwa als disziplinarisches Instrument einsetzte.

Das unterscheidet die DDR in ihrer Gründungsphase sowohl von der Sowjetunion in den frühen 1920ern als auch von den Anfängen der Volksrepublik China. Hier wie dort wurden Ernährung und Hunger, Lebensmittel- und andere Berechtigungsscheine als soziale Disziplinierungsmaßnahmen eingesetzt, die allerdings ihrerseits wiederum auf eine längere Geschichte verweisen können als die sozialistischen Experimente. So weist etwa Klaus Mühlhahn in seinem Beitrag zu China darauf hin, dass eine staatliche Politik des Hungers in China durchaus älter ist und nicht erst mit der 1949 gegründeten Volksrepublik begonnen hatte. Und Olga Velikanova erinnert in ihrem Artikel zur frühen Sowjetunion daran, dass der Hunger im Jahr 1917 als maßgeblicher Faktor dafür verantwortlich war, dass zumeist Frauen in den Brotschlangen revoltierten und damit wesentlich die Februarrevolution initiierten.

Die Rolle der Frauen in Hungerkatastrophen beleuchten diverse Artikel, ohne sich des Themas allerdings explizit anzunehmen. Gerade im Hinblick auf die aktuell emsig geführten Debatten (bislang noch mehrheitlich in der Soziologie und Anthropologie) zu „care“ und Reproduktionsarbeit ist dieser Umstand zu bedauern. Immerhin waren es doch vor allem die Frauen, die unmittelbar für die Ernährung ihrer Familien zuständig waren. So schildert Donna Harsch in ihrem Beitrag zur SBZ, unter welchen Bedingungen Frauen bis zum Rande der Erschöpfung die knappen Lebensmittel organisierten und im Rahmen der Lebensmittelversorgung doch mit der schlechtesten Kategorie und damit den wenigsten Kalorien versorgt wurden. Auch Donald Filtzer erläutert in seinem Beitrag die Reproduktionsarbeit der Familien, wo in der Nachkriegssowjetunion Eltern für ihre Kinder hungerten und damit ihre eigene Leistungsfähigkeit untergruben.

Ein weiterer gemeinsamer Nenner aller Beiträge ist die Betonung, dass die Konzentration planwirtschaftlicher Ökonomie auf die Herstellung von Produktions- statt von Konsumtionsgütern mitverantwortlich gewesen sei für diverse Hungersnöte, die in diesem Band besprochen werden. Dieser Hinweis findet sich ebenso häufig wie ein Klassiker des Marxismus-Leninismus: Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen. Nicht zuletzt die häufige Nennung dieser beiden vermeintlich kategorialen Voraussetzungen des Staatssozialismus hätten mehr als nur den überblicksartigen Beitrag von Felix Wemheuer zu Ideologiefragen wünschenswert erscheinen lassen. Wie Alice Weinreb in ihrem lesenswerten Aufsatz zu den Schulspeisungen in der DDR anmerkt, ist es der Geschichtswissenschaft bislang immer sehr leicht gefallen, das sozialistische Experiment als solches für Hungerkatastrophen verantwortlich zu machen. Der Automatismus selbst jedoch, den Staat in die Verantwortung zu nehmen, wird in nur wenigen Artikeln explizit hinterfragt. An dieser Stelle schieden sich denn auch die Erklärungsansätze in diesem Buch. Bei Robert Kindler ist der Hunger Teil einer staatlichen Politik, die außer Kontrolle gerät. Die Massenflucht der kasachischen Nomaden nach der Kollektivierung der 1930er Jahre war einerseits kaum mehr zu stoppen und stürzte das Land ins Chaos und scheint andererseits doch Resultate produziert zu haben, die die sowjetische Politik billigend in Kauf nahm. Olaf Mertelsmann zeigt sich verwundert darüber, wie schnell die sozialistische Planwirtschaft in der Lage war, in einem Überproduktionsgebiet Mangel herzustellen. In seinem Fallbeispiel Estland geschah dies innerhalb von einem Jahr. Wendy Goldman hingegen betont das Ausmaß der Unzufriedenheit in der sowjetischen Arbeiter- und Arbeiterinnenschaft und legt überzeugend dar, als wie systemdestabilisierend der Hunger der frühen 1930er Jahre vom Regime selbst verstanden wurde. Leider findet sich in diesem Sammelband kein Aufsatz, der sich noch einmal explizit dem Verhalten der Bauern in Hungerkrisen widmen würde.

Insgesamt liefert der Band einen differenzierten Blick auf den Hunger im Staatssozialismus. Gleichwohl merkt man dem Band an, dass er sich nur allmählich von den lange herrschenden Fragen im Fach – etwa nach der Allmacht des stalinistischen Systems – lösen kann. Gleichwohl erschließen manche der Autoren und Autorinnen neue Themen und Fragen, die Lust machen auf mehr. Besonders Weinrebs Studie muss an dieser Stelle noch einmal genannt werden, ist sie doch die einzige, die explizit den Vergleich mit den kapitalistischen, westlichen Staaten gesucht hat. Nicht nur Vergleiche mit dem Westen, sondern insgesamt mehr komparative Ansätze hätten dem Band gutgetan. Zwar versuchten Wheatcroft und Thomas P. Bernstein genau jenen vergleichenden Anspruch am Ende des Bandes noch einzulösen, doch wirkten diese Vergleiche weniger organisch als der in Weinrebs Beitrag.

Alexandra Oberländer, Bremen

Zitierweise: Alexandra Oberländer über: Hunger and Scarcity under State-Socialism. Ed. by Matthias Middell / Felix Wemheuer. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2012. 383 S., Tab. = Global History and International Studies, 3. ISBN: 978-3-86583-224-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Oberlaender_Middell_Hunger_and_Scarcity.html (Datum des Seitenbesuchs)

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