Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Alexandra Oberländer, Bremen

 

Timothy Johnston: Being Soviet: Identity, Rumour, and Everyday Life under Stalin 19391953. Oxford 2011. LII, 240 S. ISBN: 978-0-19-960403-6.

Wie lebte es sich in den Jahren zwischen dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und Stalins Tod 1953 in den sowjetischen Hafenstädten Archangelsk und Murmansk? Wie gestaltete sich das Alltagsleben der sowjetischen Bevölkerung zwischen den Ausläufern der Terrorwellen, den Wirren des Großen Vaterländischen Krieges und der Nachkriegszeit? Und welcher Art waren die Begegnungen zwischen sowjetischen Bürgerinnen und Bürgern und Vertretern der alliierten Mächte, die sich an den Hafenmolen in Murmansk oder Archangelsk trafen? Timothy Johnston verfolgt in seiner Monographie im Grunde zwei Stränge. Er analysiert einerseits das stalinistische System, seine Logik und Sprache und untersucht andererseits die Haltungen, die die Bevölkerung zum sowjetischen Regime einnahm. Bestimmt wird sein Erkenntnisinteresse vor allem in Abgrenzung zur bisherigen Forschung über den Stalinismus, die er in zwei entscheidenden Punkten revidieren möchte: Zum einen geht es ihm darum zu zeigen, dass ethnische Russen sowjetische Patrioten sein konnten. Hier argumentiert Johnston überzeugend, dass „sowjetisch sein“ (being soviet) zu einer weit verbreiteten Art der Identität wurde und dass der sowjetische Patriotismus der Kriegsjahre mitnichten lediglich ein versteckter russischer Nationalismus gewesen sei. Die Erfahrungen des Krieges und des Sieges über NS-Deutschland sowie die Gefahr eines internationalen nuklearen Krieges seit 1945 hätten internationale Angelegenheiten sowie die „Offizielle Sowjetische Identität“ (the Official Soviet Identity) zu etwas gemacht, wofür sich „jeder Bewohner der UdSSR interessierte“ (S. xxv).

Zum zweiten will Johnston weder eine Geschichte der Subjektivitäten schreiben, noch möchte er der in der Stalinismusforschung weit verbreiteten Dichotomie von Anpassung und Widerstand verfallen. Laut Johnston lebten Sowjetbürger und -bürgerinnen in einem Zustand des Halbglaubens in Bezug auf das stalinistische Regime: Weder glaubten sie die offizielle Ideologie, noch glaubten sie sie nicht. Vielmehr schlägt Johnston vor, die Verhaltensweisen der sowjetischen Bevölkerung analog zu dem zu denken, was Stephen Kotkin als „little tactics of the habitat“ bezeichnet hat (S. xxxii). Solche Strategien erstrecken sich laut Johnston auf unterschiedliche Bereiche des Lebens.

Eine solche Strategie des Umgangs war die der Bricolage. Angelehnt an das Konzept Michel de Certeaus will Johnston die Kreativität sowjetischer Bürger und Bürgerinnen betonen, die etwa in der Lage gewesen seien, die Sprache des stalinistischen Systems weiterzuentwickeln. Zu solch produktiven Praktiken gehören für Johnston vor allem Klatsch und Tratsch, die in der Sowjetunion allgegenwärtig gewesen seien. Gerüchte lieferten für viele Sowjetbürger und -bürgerinnen notwendige Informationen, die halfen, sich in der sowjetischen Welt zurecht zu finden. Besonders virulent etwa waren Gerüchte während des Zweiten Weltkrieges, als große Teile der sowjetischen Bevölkerung auf die Eröffnung der Zweiten Front im Westen durch die Alliierten warteten. Die sowjetische Bevölkerung zeigte sich irritiert vom Zögern der Alliierten, eine solche Front zu eröffnen, und fühlte sich von den Alliierten betrogen und alleine gelassen. Es begannen Gerüchte über die Alliierten zu kursieren, die deren Kriegsbereitschaft insgesamt in Frage stellten. Laut Johnston war es die Zurückhaltung des sowjetischen Regimes selbst, die die Entstehung einer Gerüchte-und Klatschkultur beförderte. Die Bevölkerung fühlte sich aufgerufen, sich selbst einen Reim auf die Geschehnisse zu machen, da kaum Informationen in die sowjetische Presse gelangten.

Wiederaneignung (reappropriation) sei eine weitere Strategie gewesen, sich die Sprache der offiziellen sowjetischen Ideologie in einer Art und Weise zu eigen zu machen, wie sie eigentlich nicht vorgesehen war. Eines der wenigen Beispiele für eine solche Strategie, das Johnston liefert, ist die Friedenskampagne der Sowjetunion im Jahre 1950, die sich für die Abschaffung von Nuklearwaffen einsetzte. Auf Treffen, die der Diskussion dieser Friedenskampagne dienten, meldeten sich viele Menschen zu Wort, die aus eher individuellen Gründen gegen die Nutzung von Atomwaffen und gegen Kriege im Allgemeinen argumentierten. Viele dieser Gründe, wie etwa die Sorgen einer Mutter, sie würde ihren Sohn verlieren, passten nicht zur offiziellen Rhetorik der Sowjetunion, die sich als gerechte Kämpferin und weniger als glühende Pazifistin gerierte. Eine dritte Variante der „little tactics of habitat“ ist schließlich die Strategie der Vermeidung (avoidance). Zu ihnen gehören das Blaumachen, der Arbeitsplatzwechsel oder aber blat. Auch solche Praktiken begreift Johnston nicht als offenen Widerstand gegen das sowjetische Regime. Stattdessen verhalfen solche Vermeidungsstrategien zu kleinen Fluchten aus dem Alltag.

Eingebettet in diese theoretischen Überlegungen entwickelt Johnston schließlich sein Narrativ von der sowjetischen Bevölkerung als eigenständiger kreativer Größe, die sich durchaus ihre Freiräume der Interpretation und des Verhaltens zu schaffen in der Lage war. Jene Dynamiken nachzuzeichnen gelingt ihm besonders gut im dritten Kapitel, das der Stationierung alliierter Soldaten in Murmansk und Archangel’sk gewidmet ist. Vor allem auf Grundlage regionaler Archivbestände wie des Internationalen Klubs fängt Johnston die Atmosphäre in jenen Hafenstädten mitten im Zweiten Weltkrieg ein, die zu Drehscheiben internationaler Begegnungen wurden. Auch wenn die alliierten Schiffsmannschaften sich nicht frei in Murmansk oder Archangel’sk bewegen durften, so herrschte doch genug Kreativität auf beiden Seiten, um Kontakte zwischen sowjetischer Bevölkerung und Alliierten auch auf alltäglicher Basis möglich zu machen. Faszinierend sind in diesem Zusammenhang die Reaktionen der sowjetischen Bevölkerung auf alliierte Hilfsprodukte, die von Schokolade bis zu Panzern reichten. Sowjetische Bürger und Bürgerinnen begrüßten diese Hilfslieferungen in der Regel. Jedoch sorgte die oft als mangelhaft empfundene Qualität der Produkte wiederum für Unmut; etwa bei Panzerlieferungen und damit den Erfolgsaussichten für eine Zweite Front. Der Eindruck, die Sowjetunion würde die Last des Zweiten Weltkrieges alleine schultern, blieb trotz alliierter Hilfslieferungen vorherrschend.

Die Geschichten und Gerüchte, die Timothy Johnston zutage fördert, sind durchaus faszinierend. Allerdings gelingt es ihm zu selten, sie überzeugend in sein theoretisches Konzept der „little tactics of the habitat“ einzuflechten. Die eigentliche Durchführung seines Arguments im Hauptteil des Buches fällt leider hinter die ambitionierte Einleitung zurück. Auch wenn dieses Buch beileibe nicht das „speaking bolshevik“ zu ersetzen in der Lage ist, ein Beitrag zur Alltagskultur der Sowjetunion von 1939 bis 1953 ist es allemal.

Alexandra Oberländer, Bremen

Zitierweise: Alexandra Oberländer, Bremen über: Timothy Johnston: Being Soviet: Identity, Rumour, and Everyday Life under Stalin 1939–1953. Oxford 2011. LII, 240 S. ISBN: 978-0-19-960403-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Oberlaender_Johnston_Being_soviet.html (Datum des Seitenbesuchs)

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