Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Alexandra Oberländer

 

Robert Hornsby: Protest, Reform and Repression in Khrushchev’s Soviet Union. Cambridge [usw.]: Cambridge University Press, 2013. X, 313 S., 5 Tab. = New Studies in European History. ISBN: 978-1-107-03092-3.

Denkt man an Dissens in der Sowjetunion, so denkt man in der Regel an die sowjetische Menschenrechtsbewegung, die sich seit Mitte der sechziger Jahre formierte. Mit dem Gerichtsprozess gegen die Schriftsteller Andrej Sinjavskij und Julij Daniel habe die sowjetische Menschenrechtsbewegung ihren Einstand gegeben, indem sie in aller Öffentlichkeit anlässlich des Prozessauftaktes auf der Mokauer Gorkij-Straße protestierte, so eine gängige Lesart. Explizit diese Lesart des sowjetischen Dissenses ist es, gegen die sich Robert Hornsby wendet. Erstens will der britische Historiker den politischen Protest nicht erst unter Brežnev entdecken. Zweitens begreift er die Phase des Tauwetters nicht als eine, in der vornehmlich Intellektuelle, Literaten und andere Kunstschaffende sich eine Stimme verschafft hätten. Hornsby entdeckt in den sowjetischen fünfziger und sechziger Jahren durchaus eine Zeit des Dissenses, die ihre eigenen Charakteristika gehabt habe, allen voran den Protest der Arbeiter und Arbeiterinnen, die sich gleichermaßen wie die Intellektuellen zu Wort gemeldet hätten und zur Tat geschritten seien. Was war es, was Andersdenkende in den fünfziger und frühen sechziger Jahren anders denken ließ und vor allem, welches waren ihre Protestformen? Bei der Beantwortung dieser Fragen sind Hornsby vor allem zwei Inhalte zentrales Anliegen. Jenseits dessen, dass er den Dissens der fünfziger und frühen sechziger Jahre als eigenständiges Phänomen begreift, geht es ihm zweitens darum, die Vielfältigkeit des Dissenses hervorzuheben, der in den Fünfzigern und Sechzigern bunter gewesen sei als in den siebzigern. Diese Vielfalt zeigt sich für Hornsby in den vielen kleinen Splittergruppen, ja sogar manchmal terroristischen Zellen, die eine beachtliche Menge an Flugblättern hervor- und unter die sowjetische Bevölkerung gebracht hätten.

Hornsby betont die Proteste von Arbeitern und Arbeiterinnen, die gleichwohl einen anderen Inhalt gehabt hätten als die intellektuelle Auseinandersetzung mit und Kritik an der Sowjetunion. Ihnen sei es häufig (lediglich, so Hornsby bedauernd) um eine materielle und weniger um eine politische Verbesserung ihrer Lebenssituation gegangen. Ihre Proteste waren meist spontan, so Hornsby, unorganisiert, eruptiv und gewalttätig, während die Proteste der Intellektuellen geplant und ausdauernd gewesen seien und sich der Mittel des zivilen Ungehorsams bedient hätten. Er illustriert die behaupteten Unterschiede zwischen Arbeiterinnen- bzw. Arbeiter- und Intellektuellenprotesten weiterhin an den unterschiedlichen Zäsuren, die die beiden Bewegungen gehabt haben sollen. Während der Höhepunkt des Dissenses für die Intellektuellen das Jahr 1956 und die gleichzeitige Aufbruchsstimmung gewesen sei, die seit der nicht-geheimen Geheimrede Chruščevs geherrscht habe, sei der Wendepunkt für die Proteste in den Betrieben der Aufstand in Novočerkassk 1962 gewesen. Danach seien kaum noch nennenswerte Arbeiterinnen- und Arbeiterproteste vorgekommen, was vor allem der erfolgreichen sowjetischen Konsumpolitik zu verdanken gewesen sei. Die Intellektuellen hingegen, so Hornsby, deren Forderungen dezidiert politischer Natur gewesen seien, ließen trotz Wohnung und Autos nicht von ihrer fundamentaleren Kritik am Regime ab.

Weiterhin, so Hornsby, sei die Ära Brežnev mitnichten gleichzusetzen mit zunehmender Repression gegen Andersdenkende. Im Gegenteil, die Anfänge jener zunehmenden Repression lägen bereits in der Ära Chruščev, die laut Hornsby in zwei Perioden unterschiedlicher Politik gegen abweichende Meinungen zerfällt. Da sei zum einen die quasi-klassische Phase des Tauwetters, die jedoch nur relativ , nämlich bis Ende 1956/57 gewährt habe. Die keineswegs geheime Geheimrede Chruščevs auf dem XX. Parteitag 1956 und die daraus folgende massive Verunsicherung in Bevölkerung und Partei gleichermaßen sowie die Intervention in Ungarn im Herbst 1956 hätten jene Phase der Entspannung relativ schnell beendet. Obwohl Hornsby in seiner Studie eigentlich klar abgegrenzte Phasen des Protestes entdecken will, beschreibt er doch letztendlich vor allem Gleichzeitigkeiten. Darin liegt der Hauptgewinn dieses Buches, das sich eigentlich jeder Form der linearen Geschichtsschreibung entzieht und genau damit eine adäquate Geschichte des Protests zu liefern in der Lage ist. Die Situation um 1956 war mindestens so verworren wie die Kritiken der Andersdenkenden, die die Sowjetunion reformieren bis abschaffen wollten.

Jedoch schlägt sich die uneindeutige Gemengelage der Protestbewegung auch in Hornsbys Gliederung nieder, die streckenweise nicht so recht zu durchschauen ist. Vieles wirkt redundant, vor allem in den ersten vier Kapiteln, die allesamt um die Jahre 1956/57 kreisen. So schildert etwa das erste Kapitel die Auswirkung der ChruščevschenGeheimredeauf die Formierung Andersdenkender. Das zweite Kapitel, das die Folgen der Geheimrede für die lokalen Parteiebenen und Komsomolorganisationen, aus deren Reihen viele Andersdenkende kamen, zum Gegenstand hat, verweist allerdings zum Teil auf dieselben Beispiele. So ist etwa die Parteizelle am Thermotechnischen Institut in Moskau rund um Jurij Orlov zentrales Beispiel für Dissens im ersten Kapitel (S. 38 bis 41), um dann im zweiten Kapitel noch einmal ausführlich dargestellt zu werden (S. 62 bis 65). Diesmal allerdings dient das Beispiel zur Schilderung von Dissens unterhalb der Parteieliten. Besonders verwirrend in diesem Zusammenhang ist die explizite Nennung aller Beteiligten (Orlov, Arvalov, Nesterov und Šedrin) im ersten Kapitel, die dann im zweiten Kapitel nicht mehr namentlich erwähnt werden.

Ähnlich verwirrend gestaltet sich das Verhältnis von Kapitel drei und vier. Beide Kapitel widmen sich der massiven Repressionswelle, die auf den Aufstand in Ungarn im Herbst 1956 folgte und laut Hornsby das sehr kurze Tauwetter ein für allemal beendete. Im Mittelpunkt beider Kapitel stehen die 18 Monate nach dem Ungarnaufstand, in denen laut Hornsby so viele Dissidenten verhaftet wurden wie niemals wieder danach in der sowjetischen Geschichte (S. 134). Die Kampagne, in deren Folge sich der KGB zu jener Geheimpolizei entwickelte, die er dann in den Sechzigern und Siebzigern bleiben sollte, war für Hornsby zentral in der Wiederherstellung einer restriktiven und autoritären Sicherheitspolitik nach innen. Inhaltlich gibt es zwischen den beiden Kapiteln jedoch keine scharfe Trennung. In beiden stehen die 18 Monate nach dem Dezember 1956 im Mittelpunkt, beide Male wird die zunehmende Rolle des KGB betont, und wieder wird jedesmal mit denselben Beispielen operiert; diesmal sind es die Leningrader Untergrundgruppe um Revolt Pimenov und die Moskauer Gruppe um Lev Krasnopevcev.

Im zweiten Teil seines Buches schließlich widmet sich Hornsby den frühen sechziger Jahren, die in vielerlei Hinsichtausgeklügelter(S. 197) auf den Protest reagierten als die repressiven Endfünfziger. So sei es der Sowjetunion gelungen, durch ihre massive Konsumpolitik vor allem die Proteste in den Betrieben weitgehend zu stoppen. Gleichzeitig sei vor allem der Protest der Intellektuellen unversöhnlicher und härter geworden. Vor allem diejenigen, deren Hoffnungen auf substanzielle Veränderungen enttäuscht worden seien, hätten sogar über bewaffnete Optionen nachgedacht. Die Sicherheitsorgane hätten neue Verfahren entwickelt, Andersdenkende frühzeitig an politischen Aktivitäten zu hindern, indem sie etwaprophylaktisch‘ Gespräche mit Dissidenten führten und ihnen plastisch die Konsequenzen ihres Handelns vor Augen führten. Das Lager – im Stalinismus das Mittel der Wahl – war nun nur noch eine von mehreren Repressionsmethoden, die von profilaktika bis zur Zwangseinweisung in die Psychiatrie reichten. Im Fahrwasser Oleg Kharkordins, der in den neunziger Jahren erstmals davon sprach, dass die Sowjetunion der Chruščevzeit mehr soziale Kontrolle ausgeübt habe als der Stalinismus, interpretiert Hornsby die Zwangsweinweisungen als Resultat der post-Stalinschen Reformen, die auf den Abbau traditioneller Repression gesetzt hätten. Inwiefern die Psychiatrie als Strafe allerdings subtiler gewesen sein soll als das Lager, erklärt Hornsby nicht. Beim Strafkomplex übersieht Hornsby vor allem zwei Umstände: Der angeblich weniger offene Charakter der Repression wurde ganz offensichtlich von den Betroffenen selbst nicht so gesehen; sie empfanden die Zwangseinweisung undBehandlungin den Psychiatrien sogar als zerstörerischer als die Lagerhaft. Zum anderen übersieht Hornsby bei seiner Einordnung der Psychiatrie, die er aus sowjetischen Politiken und Bedingungen ableitet, den durchaus globalen Trend zur Psychiatrisierung vermeintlicher Straftäter in den sechziger und siebziger Jahren (bis heute).

Insgesamt hinterlässt das Buch den Eindruck, noch einmal die Geschichte des Dissenses der fünfziger Jahre und frühen sechziger Jahre vor Augen geführt bekommen zu haben. Da Hornsby genau dies wollte, zunächst also ein positives Ergebnis. Gleichwohl bleibt eine gewisse Enttäuschung nicht aus. Mit Vladimir Kozlov oder Samuel Baron setzt sich Hornsby kaum explizit auseinander, und obgleich er behauptet, die Geschichte des frühen Dissenses neu schreiben zu wollen, kommt die Leserin nicht umhin festzustellen, zu vieles bereits zu kennen. Dass der Dissens älter ist als die Menschenrechtsbewegung der sechziger Jahre, wissen wir bereits seit Längerem. Dass der Protest der Arbeiterinnen und Arbeiter bzw.Massen, wenn man so will, seit den frühen sechziger Jahren rapide zurückging, ebenfalls. Auf die unterschiedlichen Protestformen der beiden Bevölkerungsgruppen hat Kozlov bereits wiederholt hingewiesen. Entgegen der anderslautenden Ankündigung in der Einleitung konzentriert sich der Autor nahezu ausschließlich auf den Protest Intellektueller der Protest in den Betrieben bleibt in diesem Buch (wieder einmal) Randerscheinung. Für die Rezensentin überraschend war allerdings das quantitative Ausmaß der Repression Andersdenkender, das in der Tat unter Chruščev wesentlich ausgeprägter war als unter Brežnev. Dass trotzdem in der Dissidenten­bewegung (im Unterschied zur Arbeiterschaft) die Ära Chruščev mit Nostalgie erinnert wird, obwohl ihre Mitglieder in genau jener Phase einem höheren Risiko der Verhaftung ausgesetzt waren, bleibt auch nach der vorliegenden Arbeit ein Forschungsdesiderat. Man kann gespannt sein, wie dieser Widerspruch eines Tages aufgelöst wird.

Alexandra Oberländer, Bremen

Zitierweise: Alexandra Oberländer über: Robert Hornsby: Protest, Reform and Repression in Khrushchev’s Soviet Union. Cambridge [usw.]: Cambridge University Press, 2013. X, 313 S., 5 Tab. = New Studies in European History. ISBN: 978-1-107-03092-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Oberlaender_Hornsby_Protest_Reform_and_Repression.html (Datum des Seitenbesuchs)

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