Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 2 Rezensionen online

Verfasst von: Alexandra Oberländer

 

Miriam Dobson: Khrushchev’s Cold Summer: Gulag Returnees, Crime, and the Fate of Reform after Stalin. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2009. VIII, 264 S., Abb. ISBN: 978-0-8014-4757-0.

Die Amnestien für Lagerhäftlinge, die bereits unmittelbar nach Stalins Tod im März 1953 erlassen wurden, hatten mannigfache Konsequenzen für die sowjetische Gesellschaft. Die Brisanz der Amnestien und die Probleme, die mit der Freilassung von vier Millionen Häftlingen innerhalb von fünf Jahren einhergingen, sind das Thema in Miriam Dobsons herausragendem Buch über die Rückkehrer aus dem Gulag. Als Chru­ščev 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU sogar die Rehabilitierung stalinistischer Op­fer in Aussicht stellte, ergab sich eine Reihe von heiklen Fragen für die Partei. Wer eigentlich waren die Opfer stalinistischer Repression? Waren „kriminelle“ Lager­insassen auch Opfer oder doch nur die „politischen“ Häftlinge? Und wenn die Partei nun in aller (Halb-)Öffentlichkeit eingestand, dass all diese Menschen unschuldig Jahre ihres Lebens in Lagern gefristet hatten, wer war dafür verantwortlich? Allein Stalin, er und sein kleiner Machtzirkel oder doch die Kommunistische Partei in ihrer Gesamtheit?

Über acht Kapitel spannt Miriam Dobson ihre überaus gelungene Erzählung, die sich vor allem auf Petitionen und Briefe als Quellen stützt. Mit diesen persönlichen Dokumenten von Sowjetbürgerinnen und ‑bürgern sowie ehemals Inhaftierten zeichnet Dobson auf eindrückliche Weise nach, wie wenig der Tod Stalins von Teilen der sowjetischen Gesellschaft als Erlösung, sondern vielmehr als Bedrohung empfunden wurde. Statt Erleichterung herrschte über den Tod Stalins Trauer, die mit der Absetzung Berijas und der Entlassung der ehemaligen „Volksfeinde“ aus den Lagern im Laufe des Jahres 1953 in eine moral panic (S. 16) umschlug. Die steigenden Kriminalitätsraten seit 1953 sorgten jenseits der Verunsicherung durch Stalins Tod für offen feindselige Stimmungen gegen die Rückkehrer. Nachdem die Beteiligten an der angeblichen jüdischen „Ärzteverschwörung“ 1953 entlassen worden waren, schickten viele sowjetische Bürgerinnen und Bürger dem Zentralkomitee unverhohlen antisemitische Briefe. Obwohl manche ehemalige Häftlinge aus den Arbeitslagern sogar rehabilitiert wurden und somit eigentlich als vollwertige Mitglieder der sowjetischen Gesellschaft zu gelten hatten, nahm diese die Rückkehrer keineswegs bereitwillig auf. Im Gegenteil: Ungeachtet dessen, dass doch beinahe jede sowjetische Familie in den dreißiger Jahren in der einen oder anderen Form von den stalinistischen Säuberungswellen betroffen war, war die Integration der Amnestierten die Ausnahme. Die ehemaligen Häftlinge blieben Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse. Miriam Dobson lässt die sowjetische Bevölkerung in einer beeindruckenden Stimmenvielfalt zu Wort kommen. Der Ordnungsfanatismus der Menschen, denen die Strafen – egal, ob für Bagatelldelikte oder Kapitalverbrechen – gar nicht drakonisch genug ausfallen konnten, ist frappierend. Die Haltung gegenüber Abweichlern blieb unversöhnlich und feindlich; von einer stalinistischen Vergangenheit wollten die SowjetbürgerInnen nichts wissen. Während sich die sowjetische Mehrheitsgesellschaft offensichtlich mit der Existenz der Lager arrangiert hatte, schienen Lager und Terror der dreißiger Jahre hauptsächlich ein Problem der Kommunistischen Partei gewesen zu sein. Sie entdeckte im Terror ein Legitimationsproblem, wohingegen die Bevölkerung erst an der Legitimität der Partei zu zweifeln begann, als sich diese ihrer Vergangenheit stellen wollte.

Die zunehmende Entfremdung zwischen der traditionalistischen Mehrheitsbevölkerung und den reformwilligen Parteieliten brachte die letzteren in argumentative Nöte: Wie sollten sie ihrer Bevölkerung begreiflich machen, dass diejenigen Menschen, die bis gestern noch als Volksfeinde und Aussätzige galten, heute wieder als vollwertige Mitglieder in die Gesellschaft zu integrieren waren? Doch zunächst schwieg die Partei. Sie hatte keine Antworten auf diese Fragen. Erst mit der keineswegs geheimen Rede Chruščevs auf dem XX. Parteitag 1956 begannen manche lokale Parteisektionen, sich offensiver mit den Säuberungen der dreißiger Jahre auseinanderzusetzen. Die Milde gegenüber den Amnestierten galt zunächst für alle aus dem GULag Entlassenen. In Rahmen diverser Kampagnen legte die Partei viel Wert darauf, ihrer Bevölkerung nahezubringen, dass Menschen sich auch ändern konnten oder gar – wie im Falle der alten Garde der Bol’ševiki – zu Unrecht im Lager inhaftiert gewesen waren. Während die alte Garde der Revolution in der Tat rehabilitiert und erneut in die Partei aufgenommen wurde, begann für andere seit 1959 das Pendel wieder Richtung Repression umzuschlagen. Dobson bespricht die Antiparasitenkampagne Anfang der sechziger Jahre nicht nur als Ausdruck einer gewandelten Parteipolitik, sondern vor allem als eine Strategie, denjenigen Bürgerinnen und Bürgern, denen die Reformperiode zu weit ging, entgegenzukommen.

Neben der sowjetischen Mehrheitsbevölkerung und den Parteimitgliedern gibt es in Miriam Dobsons Buch noch einen dritten Akteur: Die Häftlinge selbst. Seit dem Tod Stalins und der Absetzung Berijas erreichten Tausende von Briefen die Partei, ihre Kader oder Zeitungen. In ihnen baten Häftlinge um ihre Entlassung. Die Art und Weise, wie sie ihre Verhaftung und Verurteilung erklärten, ist beeindruckend vielstimmig. Während manche Petenten erklärten, das sowjetische Lagersystem sei die Ursache für die hohe Kriminalität in der sowjetischen Gesellschaft, und damit jede eigene Verantwortung für die ihnen vorgeworfenen Vergehen von sich wiesen, übernahmen andere diese Verantwortung. Viele der entlassenen Häftlinge waren nur für kurze Zeit in Freiheit. Manche schafften es gar nicht bis nach Hause, sondern wurden noch auf der Rückreise wieder verhaftet und verurteilt, so dass sie gleich ihre nächste Haftstrafe antraten. Das Verhalten und die Sprache, die sie sich in den langen Jahren im GULag angewöhnt hatten, stieß auf den Bahnhöfen entlang ihrer Reiseroute auf Missfallen. „Antisowjetische“ Tiraden der Ex-Häftlinge waren keine Seltenheit, und so kam es, dass manch einer, der seine erste Haft als „Krimineller“ abgesessen hatte, nun bei seinem zweiten Gang ins Lager ein „Politischer“ war. Anderen Häftlingen wiederum erschien die ‚Freiheit‘ außerhalb des Lagers als so bedrohlich und fremd, dass sie absichtlich Straftaten begingen, um ins Lager zurückzukommen. Diejenigen Ex-Häftlinge, die es schließlich bis in ihre Heimat schafften, lösten dort vor allem bei der Jugend einen „Kult der Kriminalität“ aus, der die Ängste der „ehrenhaften“ sowjetischen Bürger nur weiter anheizte.

Mit ihrer Erzählung von der Sowjetunion nach 1953 richtet sich Dobson einerseits explizit gegen das Paradigma des „Tauwetters“. Vielmehr interpretiert sie die fünfziger Jahre als Jahre des Schlingerns, in denen die Partei immer wieder neue Direktiven zum Umgang mit den Ex-Häftlingen und mit Kriminalität überhaupt erließ. Andererseits jedoch bestätigt sie die Idee vom Tauwetter insofern, als sie die Jahre 1953 bis 1961 doch als Jahre der Reform begreift, als Jahre, in denen die Partei ein letztes Mal versuchte, die „perfekte Welt“ zu erschaffen (S. 240), in denen die Idee der Revolution noch einmal lebendig wurde. Der Reformkurs, der von der Partei angestoßen wurde, war 1961 zu Ende. Die Zahlen der Inhaftierten stiegen wieder merklich an. Die Entstalinisierung scheiterte an der Borniertheit der sowjetischen Bevölkerung und nicht daran, dass sich innerhalb der Partei der konservative Flügel gegen die Reformisten durchgesetzt hätte. Dies ist einer der zentralen Gedanken in Miriam Dobsons Buch, in dem es ihr auf bewundernswerte Weise gelingt, aus einer Vielzahl von Briefen unterschiedlichster Menschen ein Portrait der poststalinistischen Gesellschaft zu entwerfen, wie man es bislang nicht gelesen hat. Nicht nur für Interessierte an der sowjetischen Geschichte ist dieses Buch ein Muss. Auch für diejenigen, die ein Interesse an guter Geschichtsschreibung und methodischer Finesse haben, gehört dieses Buch auf die Leseliste.

Alexandra Oberländer, Bremen

Zitierweise: Alexandra Oberländer über: Miriam Dobson Khrushchev’s Cold Summer: Gulag Returnees, Crime, and the Fate of Reform after Stalin. Cornell University Press Ithaca, NY, London 2009. VIII. ISBN: 978-0-8014-4757-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Oberlaender_Dobson_Khrushchevs_Cold_Summer.html (Datum des Seitenbesuchs)

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Zitierweise: Alexandra Oberländer über: Miriam Dobson Khrushchev’s Cold Summer: Gulag Returnees, Crime, and the Fate of Reform after Stalin. Cornell University Press Ithaca, NY, London 2009. VIII. ISBN: 978-0-8014-4757-0, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, jgo.e-reviews 1 (2011), 2, S. : http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Oberlaender_Dobson_Khrushchevs_Cold_Summer.html (Datum des Seitenbesuchs)