Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Alexandra Oberländer

 

L. I. Borodkin / Ch. Kessler / A. K. Sokolova (Hrsg.): „Sovetskoe nasledstvo“. Otraženie prošlogo v socialnych i ėkonomičeskich praktikach sovremennoj Rossii. [„Das sowjetische Erbe“. Der Einfluss der Vergangenheit auf die sozialen und ökonomischen Praktiken im heutigen Russland]. Moskva: Rosspėn, 2010. 350 S., Abb., Tab., Graph. = Socialnaja istorija Rossii XX veka. ISBN: 978-5-8243-1459-5.

Obwohl der Titel des Buches Das sowjetische Erbe nahe legt, man habe es mit einem eher politikwissenschaftlichen oder gar transformationstheoretischen Band über das postsowjetische Russland zu tun, so ist das eigentliche Thema dieses gelungenen Werkes ein ganz anderes: Das Buch verfolgt an neun sehr unterschiedlichen Beispielen soziale und ökonomische Praktiken von der sowjetischen Zeit bis heute. Dazu gehören Themen wie migrantische Saisonarbeit, Umgang mit der kostenlosen medizinischen Versorgung oder aber das Sich-Organisieren in kleinen lokalen Verbänden. Das Buch ist darüber hinaus aus einer internationalen Kooperation niederländischer und russischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen hervorgegangen, von denen die Mehrheit Geschichte, einige wenige Politikwissenschaft betreiben. Der Band ist in zwei Teile gegliedert, von denen sich der erste mit gesellschaftlichen Initiativen, der zweite mit Alltagsökonomie befasst. Die Beiträger des Bandes verstehen sich zum Teil ausdrücklich nicht als Anhänger und Anhängerinnen der Totalitarismusschule; stattdessen betonen sie alle das Vorhandensein einer substantiellen eigen-sinnigen Praxis in der Sowjetunion, die dann jedoch in der postsowjetischen Zeit nicht zwingend weitergeholfen habe. Nicht nur wegen der jüngsten Entwicklungen im heutigen Russland, sondern auch schon zum Erscheinungszeitpunkt des Buches im Jahre 2010 merkt man einigen der Autoren und Autorinnen eine eher nüchterne, wenn nicht enttäuschte Bestandsaufnahme der jetzigen russischen Verhältnisse an.

Paradigmatisch für eine solche Haltung ist sicherlich der Beitrag A.K. Sokolovs, der sich denjenigen Faktoren widmet, die die Sowjetunion gerade nicht von Gesellschaften „des Westens“ unterschieden habe. Die Faktoren, die er nennt (Alphabetisierung, Mobilisierung, Säkularisierung, Urbanisierung) führt er nicht alle aus, sondern beschränkt sich auf einige streckenweise sehr kursorischen Überlegungen zum Mobilisierungspotenzial der beiden sowjetischen Verfassungen von 1936 und 1977. Nur schwer kann sich Sokolov mit gängigen Lesarten anfreunden, die alles, was an der heutigen russischen Gesellschaft nicht klappen würde, in die Verantwortung der Sowjetunion legt. Zugleich lehnt er eine andere, vor allem von Historikern und Historikerinnen bevorzugte Interpretation ab, die am liebsten die Jahre 1917 bis 1991 ungeschehen machen möchten und die Geschichte der russischen Föderation in die Zeit vor 1917 zurückverfolgen statt in die 1960er bis 1980er. Passend zu jenen dezidiert politischen Äußerungen schildert Sokolov die Sowjetunion in einem ausgesprochen milden Licht. Vor allem die 1970er Jahre beschreibt er als Jahre des sozialen Friedens. Die Gewerkschaften hätten sich um ihre Aufgaben gekümmert und überhaupt sei der Betrieb die „Keimzelle“ (S. 55) der sowjetischen Gesellschaft gewesen, um die herum sich nicht nur Produktion und Konsumption, sondern auch Kultur, Sport und Freizeit gruppiert hätte.

Sokolovs für den Anfang des Sammelbandes nachgerade gewagte Thesen werden dann allerdings im Laufe des Bandes von den Autoren und Autorinnen der zweiten Hälfte durchaus eingeholt. Sie alle teilen die Auffassung, dass es in der Sowjetunion viel Initiative von unten gegeben habe, die auf freiwilliger Basis erfolgt sei und keineswegs im Gegensatz zum Staat gestanden habe. So kann etwa Novichenko in seiner sehr lesenswerten Studie über gesellschaftliche Organisationen in Moskau an einer Reihe von Beispielen die Eigeninitiative vor allem innerhalb von Nachbarschaften darlegen. Vor allem seit den 1950ern hätten sich Bewohner und Bewohnerinnen zusammengeschlossen, um Kindergärten oder Parks zu errichten. Örtliche Handwerker verrichteten Elektro- oder Klempnerarbeiten für die Häuserblocks, in denen sie wohnten, freiwillig in ihrer Freizeit, statt darauf zu warten, dass die staatlichen Komitees aktiv werden würden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der gesellschaftlichen Selbstorganisation, laut Novichenko, die Rentenreform sowie die Verkürzung der Wochenarbeitszeit Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre. Das neue Maß an Freizeit habe es Rentnern wie Werktätigen erlaubt, gesellschaftlich aktiv zu werden und ihre Umwelt bewusst mitzugestalten. Alle diese Organisationsformen waren im strengen Sinne halb-legal, sie gründeten sich nicht als Vereine (zwischen 1957 und 1986 gab es derer nur elf an der Zahl), sondern bildeten kleine Graswurzelgrüppchen. Die Tätigkeiten dieser zunächst selbst organisierten Gruppen wurden dann im Laufe der späten 1960er vom Staat übernommen und damit, so Novichenko, faktisch anerkannt.

Der Vorzug dieses Sammelbandes liegt sicherlich in seiner Leistung, (Alltags-)Praktiken aus der Sowjetunion bis in die heutige Zeit zu verfolgen. Schlagend ist an dieser Stelle die Untersuchung Konovalovas über die (post-)sowjetische Gesundheitsversorgung. Die Präsenz informeller Bezahlungen im postsowjetischen Gesundheitswesen ist beeindruckend, zumal dabei aus eigener Tasche zusätzliches Geld für Leistungen aufgebracht wird, die eigentlich vom heutigen russischen Gesundheitswesen abgedeckt sind. Zugleich können sich in Russland privatärztliche Leistungen jenseits von Schönheitsoperationen kaum durchsetzen. Auch Gutsituierte schätzen die Erfahrung der Kassenärztinnen und ‑ärzte an den Polikliniken und versuchen sich eine überdurchschnittlich gute Behandlung durch Zusatzzahlungen zu garantieren. Die Praxis solcher informellen Zahlungen, die von Konovalova explizit nicht als Bestechung besprochen wird, stammt aus der sowjetischen Ära, als zum Beispiel der Mangel an nötigen Medikamenten durch Geschenke oder – seltener – Barzahlungen versucht wurde auszugleichen. In der Sowjetunion zahlte man also für nicht vorhergesehene Leistungen, heute im post-sowjetischen Raum für eigentlich garantierte Leistungen. Gemeinsam ist beiden Praxen die Selbstverständlichkeit, mit der man als Patient, bewaffnet mit Blumenstrauß, Konfekt und Geldscheinen, zu Arzt oder Ärztin geht.

Eine andere Praxis, die sich in verwandelter Form aus der sowjetischen Zeit bis heute erhalten hat, ist die Tradition der saisonalen Wanderarbeit. In seinem Artikel über Arbeitsbrigaden von den 1950er Jahren bis heute interessiert sich T. Ja. Valetov vor allem für die Unterschiede zwischen den sowjetischen Brigaden der Šabašniki und den postsowjetischen Wanderarbeitern. Diese Unterschiede liegen seiner Meinung auf der Hand. Während in der UdSSR sich Šabašniki häufig aus städtischen Intellektuellen rekrutiert hätten, so seien es heute sehr oft Brigaden aus Zentralasiaten und Kaukasiern, die intensiv für wenige Monate im Jahr zumeist auf dem Bau arbeiten würden. In der Sowjetunion fuhren diese Brigaden häufig aus den Zentren in die Peripherien, wohingegen jetzt die Bewegung in umgekehrter Richtung beziehungsweise sogar mehrheitlich von den Rändern nach Moskau verlaufe. Bestechend sind Valetovs Äußerungen über das große Maß der Eigeninitiative sowjetischer Brigaden, die dann in stabile, über Jahre andauernde kollektive Arbeitsstrukturen gemündet hätten, wohingegen heutige Brigaden eher individualisiert, fremdbestimmt und von kurzer Dauer seien. Auch er bestätigt somit Sokolovs Thesen vom Beginn des Sammelbandes, der die Eigeninitiative sowjetischer Bürger und Bürgerinnen nachgerade rühmt.

Der Sammelband steht somit in einer Tradition neuerer Forschungsliteratur, die die 1970er Jahre nicht mehr als Jahre der Stagnation ansieht, sondern als Zeit, in der die Sowjetunion zu sich selbst gekommen sei. Das mag für einen Sammelband mehrheitlich sowjetischer Herkunft weniger außergewöhnlich sein als für solche westlicher Provenienz noch bis vor wenigen Jahren. Was diesen Band jedoch auszeichnet, sind die faszinierenden Porträts sowjetischen Alltags einerseits sowie die Frage nach Beharrlichkeit, Anpassung und Verlust sowjetischer Praxen, die so verschwunden und zugleich nicht totzukriegen sind.

Alexandra Oberländer, Bremen

Zitierweise: Alexandra Oberländer über: L. I. Borodkin / Ch. Kessler / A. K. Sokolova (Hrsg.): „Sovetskoe nasledstvo“. Otraženie prošlogo v social’nych i ėkonomičeskich praktikach sovremennoj Rossii. [„Das sowjetische Erbe“. Der Einfluss der Vergangenheit auf die sozialen und ökonomischen Praktiken im heutigen Russland]. Moskva: Rosspėn, 2010. 350 S., Abb., Tab., Graph. = Social’naja istorija Rossii XX veka. ISBN: 978-5-8243-1459-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Oberlaender_Borodkin_Sovetskoe_nasledstvo.html (Datum des Seitenbesuchs)

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