Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Alexandra Oberländer

 

Barbara Alpern Engel: Breaking the Ties that Bound. The Politics of Marital Strife in Late Imperial Russia. Ithaca, NY [etc.] Cornell University Press, 2011. XI, 282 S., 21 Abb. ISBN: 978-0-8014-4951-2.

Wer nicht nur etwas über Scheidungspraxis und Ehealltag, sondern auch über Subjektivität, Männlichkeit, sich rasant ändernde Frauenrollen und romantische Liebe im ausgehenden Zarenreich erfahren möchte, der sollte zu Barbara Alpern Engels Buch greifen. Klug argumentiert und klar strukturiert führt die mittlerweile pensionierte Frauen- und Genderhistorikerin aus Boulder/Colorado in die Geschichte der Scheidung im ausgehenden Zarenreich ein.

Sie schreibt damit über einen Gegenstand, den es eigentlich nicht hätte geben sollen. Ehe und damit auch Scheidung fielen bis 1917 in den Zuständigkeitsbereich der Russisch-Orthodoxen Kirche. Das Kirchenrecht selbst sah Scheidungen nur in Ausnahmesituationen vor: Bei Ehebruch, sexuellem Unvermögen oder im Falle der Verbannung eines der Ehepartner. Brutalität und Grausamkeit in der Ehe wiederum waren für die Kirche kein Scheidungsgrund, wie Barbara Alpern Engel betont. Die rasanten Veränderungen im russischen Imperium, die Bauernbefreiung von 1861, die einsetzende Industrialisierung und damit einhergehende Urbanisierung vor allem seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts ließen das Ehe- und Scheidungsrecht zunehmend unzeitgemäß werden. Reformer, waren sie in der sich entwickelnden Zivilgesellschaft oder beim autokratischen Staat selbst tätig, sahen Regelungsbedarf und gerieten somit in Konflikt mit den starren Regeln der Kirche. Ausgerechnet die Zarische Kanzlei, die direkt beim Zaren angesiedelt und für die Bearbeitung von Bittschriften zuständig war, entwickelte sich seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts zum Schlupfloch für viele Frauen, die sich von ihren Männern trennen wollten. Die Kanzlei, die jeden einzelnen Fall sorgfältig prüfte, garantierte Frauen in vielen Fällen eine dauerhafte Trennung (keine Scheidung) von ihren Ehemännern. Umgekehrt verpflichtete die Kanzlei die Ehemänner dazu, ihren Frauen einen eigenen Pass zu erlauben. Ohne eigenen Pass konnte man sich im russischen Imperium weder bewegen noch arbeiten. Sobald eine Frau dank der Kanzlei den Pass auf Dauer besaß, für den sie sonst jedes Jahr aufs Neue das Einverständnis ihres Ehemannes gebraucht hätte und somit dauernd in Abhängigkeit gestanden wäre, war sie de facto selbständig und der patriarchalen Kontrolle entzogen. Der autokratische Staat selbst, dessen Fundament auf patriarchalen Prinzipien ruhte, stellte mit dieser Entscheidungspraxis seine eigenen Grundsätze in Frage. Obgleich die Kanzleiangehörigen selbst in der Regel konservativ waren und die Fälle sehr genau prüften, konstatiert Barbara Alpern Engel einen bemerkenswert flexiblen Umgang mit traditionellen Ehevorstellungen. Im Verlaufe des Untersuchungszeitraums von 1884 bis 1914 entschieden die Kanzleibeamten immer häufiger zugunsten der Frauen.

Die Hauptquelle ihres Buches bilden 260 vollständig erhaltene Akten jener Zarischen Kanzlei, in denen Petitionen der Frauen, Zeugenbefragungen, Antworten der Ehemänner sowie die Entscheidungen der Kanzlei überliefert sind. Jene Akten befragt Barbara Alpern Engel unter anderem auf sich verändernde Vorstellungen von Ehe und Partnerschaft, Liebesidealen, Trennungsgründen, männlicher und weiblicher Rhetorik. Zusätzlich kontextualisiert sie ihre Analysen mit Aussagen von Tagebüchern, Memoiren oder Ratgeberliteratur. An dieser Stelle sei lediglich der Verlag kritisiert, der leider auf ein Literaturverzeichnis verzichtet hat, womit man allein auf die Fußnoten angewiesen ist, wenn man sich einen Überblick über die verwendete Literatur verschaffen möchte.

Zunächst führt Barbara Alpern Engel in die Geschichte jener Kanzlei ein. Sie diskutiert den quasi rechtsprechenden Charakter jener Verwaltungsbehörde, deren Entscheidungen und Abläufe allerdings strengster Geheimhaltung unterlagen. Obwohl die Kanzlei darauf bedacht war, ihre Rolle im Lösen ehelicher Konflikte geheim zu halten, richtete an sie eine große Anzahl von Frauen vor allem aus der städtischen Unterschicht ihre Bittschriften. In den sich allmählich entwickelnden Frauennetzwerken kursierten seit den 1890er Jahren vorformulierte Bittschriften und Tipps, wie man sich am besten an die Kanzlei zu richten hätte. Ein zusätzlicher Vorteil bestand im kostenlosen Verfahren, während der Versuch, eine Scheidung in einem kirchlichen Prozess herbeizuführen, ein sehr kostspieliges Unterfangen war.

Ein weiteres zentrales Thema ist die ökonomische Seite, die Barbara Alpern Engel in zwei Kapiteln behandelt. Frauen in Russland galten als ökonomisch deutlich selbständiger als ihre westeuropäischen Geschlechtsgenossinnen. Diese Selbständigkeit zeigte sich allerdings vor allem – und wie Barbara Alpern Engel belegt – nur auf dem Papier. Das Recht erlaubte Frauen Eigentum; die Mitgift etwa verblieb auch in der Ehe in der Verfügungsgewalt der Frau. Jene rechtlichen Vorschriften waren aber keineswegs gleichbedeutend mit dem Alltag von Eheleuten. So besaßen etwa Frauen de jure Eigentum etwa in Form von Läden oder Handwerksbetrieben, de facto aber führte der Mann die Geschäfte. Bei Trennungen der Eheleute führte dies notwendigerweise zu Friktionen, und zumeist entschied die Kanzlei gegen die Frauen, es sei denn, diese konnten ihren Männern einen verantwortungslosen Gebrauch ihres Eigentums nachweisen. Zweitens spielte die Ökonomie im Trennungsverhalten von Eheleuten insofern eine entscheidende Rolle, als Frauen, die sich durch eigene Arbeit materiell von ihren Männern unabhängig machten, jene Unabhängigkeit auch öfter leben wollten. Die Ausweitung der Lohnarbeit im Rahmen der Industrialisierung machte für Frauen nicht nur einen eigenen Arbeitsplatz möglich, sondern ein selbständiges Leben ohne Mann unter Umständen attraktiv. Ihr eigenes Geld zu verdienen war eine beliebte Trope in den Bittschriften vor allem der Frauen aus den städtischen Unterschichten. Jene materielle Selbständigkeit stieß bemerkenswerterweise bei den männlichen Kanzleiangehörigen auf Gehör, insofern als Frauen, die mit dem Argument, auf eigenen Beinen stehen zu wollen, häufig die Erlaubnis zur Trennung erteilt bekamen. Die Kanzlei selbst untergrub somit ein wesentliches Element patriarchaler Familienpolitik, nämlich die materielle Abhängigkeit der Frau als Disziplinierungselement innerhalb der Ehe. Besonders aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist auch Engels Analyse des Klassencharakters dieser Trope. Das Streben nach finanzieller Unabhängigkeit war vor allem ein Wunsch von Frauen aus den städtischen Unterschichten, wohingegen Frauen aus den privilegierten Rängen der russischen Gesellschaft zu viel zu verlieren hatten.

Schließlich – und darin liegt die größte Stärke dieses Buches – analysiert Barbara Alpern Engel die sich ändernden Vorstellungen über Subjektivität im ausgehenden Zarenreich. Während Brutalität und Gewalt für die Kirche keine Scheidungsgründe waren, kann Engel nachweisen, inwiefern vor allem seit den neunziger Jahren häusliche Gewalt durchaus ein Argument für Kanzleibeamte darstellte, um nicht nur Frauen einen eigenen Pass zu erlauben, sondern damit auch die Männer in ihren Vorstellungen als pater familias zu maßregeln. Jene Entwicklung beschleunigte sich dann noch einmal um die Jahrhundertwende. Romantische Liebesideale setzten sich durch und führten dazu, dass nicht nur körperliche Gewalt, sondern auch seelische Verletzungen als Trennungsgrund anerkannt wurden. Die unbedingte Anerkennung des Selbst in einer Liebesbeziehung sowie die Gleichberechtigung der Eheleute als tatsächliche Partner hielten Einzug in die Kanzleiakten eines noch immer autokratischen Staates.

Barbara Alpern Engel leistet mit diesem Buch einen zentralen Beitrag zu einer Geschichte Russlands, in der nicht die angebliche Rückständigkeit besungen wird. Mit ihrer Geschlechter- und Kulturgeschichte erschüttert Barbara Alpern Engel traditionelle Vorstellungen von Autokratie und Zivilgesellschaft, Geschlechterrollen und dem Fin-de-siècle. Mithin: Eine Pflichtlektüre für alle Russlandhistorikerinnen und ­historiker.

Alexandra Oberländer, Bremen

Zitierweise: Alexandra Oberländer über: Barbara Alpern Engel: Breaking the Ties that Bound. The Politics of Marital Strife in Late Imperial Russia. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2011. XI, 282 S., 21 Abb. ISBN: 978-0-8014-4951-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Oberlaender_Alpern_Engel_Breaking_the_Ties.html (Datum des Seitenbesuchs)

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