Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Andreas Oberender

 

Larissa Zakharova: S’habiller à la soviétique. La mode et le Dégel en URSS, Paris 2011. 406 S., Tab., Abb. ISBN: 978-2-271-07291-7.

Zu den Elementen der von Nikita Chruščev eingeleiteten Entstalinisierung gehörte auch eine Aufwertung der Leicht- und Konsumgüterindustrie. Die seit Jahrzehnten herrschende materielle Dürftigkeit sollte aus dem Leben der Sowjetbürger verschwinden und einem bescheidenen Wohlstand weichen. Dieser Wohlstand war nicht denkbar ohne eine ausreichende Versorgung mit Bekleidung. Die französische Historikerin Larissa Zakharova kombiniert in ihrer Studie Wirtschafts-, Konsum- und Alltagsgeschichte und untersucht die sowjetische Mode der Ära Chruščev aus der Perspektive verschiedener Akteure: Designer, Bekleidungsindustrie, staatlicher Handel, Konsumenten.

Zu Beginn rekapituliert die Autorin offizielle Debatten der Tauwetterzeit über den Stellenwert der Mode in einer sozialistischen Gesellschaft. Unter den Bedingungen angeblicher sozialer Gleichheit sollte Kleidung nicht länger als Distinktionsmittel dienen. Nach Auffassung derjenigen staatlichen Stellen, die für die Textil- und Bekleidungsindustrie zuständig waren, sollte die Kleidung der Sowjetmenschen vor allem praktisch, funktional und komfortabel sein. Ästhetische Vorzüge waren demgegenüber zweitrangig. Jegliche Extravaganz, jeder Anhauch von Raffinement galt als Merkmal westlich-bourgeoiser Mode und war daher verpönt. In Anlehnung an die Bemühungen der 1930er Jahre, den Sowjetbürgern eine kultivierte Lebensweise anzuerziehen, erstellten die sowjetischen Designer der Chruščev-Zeit ihre Entwürfe mit dem Ziel, den vermeintlich unterentwickelten Geschmack der Kunden zu bilden. Den idealen Konsumenten dachten sich die Designer als einen Menschen, der das vom Handel offerierte Sortiment willig und dankbar annahm, seine Ansprüche an seine Kleidung tunlichst im Zaume hielt und nicht danach strebte, seine Garderobe in kurzen Abständen zu erneuern. Denn mit Rücksicht auf die begrenzten Ressourcen der Textilindustrie wurde ein ständiger Wechsel der Moden, wie er im Westen üblich war, ausdrücklich verworfen.

Wunsch und Wirklichkeit klafften auch im Bereich der sowjetischen Mode weit auseinander. Designer und Bekleidungsindustrie nahmen auf den Handel und die Verbraucher wenig Rücksicht. Die Entwürfe der staatlichen Modeateliers (Doma modelej odeždy) gingen oft an den Bedürfnissen und Vorstellungen der Kunden vorbei, wie sich an den Bergen unverkaufter Ware in den Lagern des Einzelhandels zeigte. Schlimmer noch: Der Überfluss an Unverkäuflichem ging mit einem permanenten Mangel solcher Artikel einher, die stark nachgefragt, von der Industrie aber nicht in ausreichendem Umfang hergestellt wurden. Planung und Produktion erfolgten in schwerfälligen, unflexiblen Strukturen. Die chronische Knappheit an bestimmten Ausgangsmaterialien führte dazu, dass Angebot und Nachfrage nie ins Gleichgewicht gebracht werden konnten, sehr zum Ärger der sowjetischen Verbraucher. Auch der Import westlicher Textiltechnik brachte keine Besserung.

Da das Kleidungssortiment quantitativ und qualitativ nicht ausreichte, um die Bevölkerung zufriedenzustellen, entwickelten die Sowjetbürger verschiedene Ausweichstrategien. Ihnen geht die Autorin in mehreren Kapiteln nach. Die jugendliche Subkultur der stiljagi verweigerte sich der biederen Einheitsmode und kultivierte stattdessen einen grellbunten Kleidungsstil, der auf Individualität, Nonkonformismus und Provokation setzte. Modebewusste Sowjetmenschen bedrängten Reisende aus dem westlichen Ausland, ihnen ihre Kleidung zu verkaufen. Mitarbeiter von Betrieben und Geschäften stahlen Ware, um sie auf dem Schwarzmarkt an den Meistbietenden zu verhökern. Den Straftatbestand der Spekulation erfüllten auch jene Schneider, die nach Feierabend auf eigene Rechnung Kleidung für eine Klientel persönlich bekannter Kunden anfertigten.

Zakharovas Arbeit ruht auf einem breiten Quellenfundament, wirft erhellende Schlaglichter auf den sowjetischen Modebetrieb, die Bekleidungsindustrie und den Modekonsum der Bevölkerung, bietet aber letztlich keine überraschenden Erkenntnisse. Dass die Sowjetunion trotz energischer Anstrengungen auch unter Chruščev nicht zum Konsumparadies wurde, ist bekannt. Wie so viele Bücher, die aus Qualifikationsarbeiten hervorgehen, leidet auch Zakharovas Studie bisweilen unter überbordender Detailfülle und mangelnder Konzentration auf das Wesentliche. Von einer beherzten Straffung und Verschlankung hätte der gesamte Text nur profitiert. Auch hätten Illustrationen den allzu abstrakten und nüchternen Charakter der Untersuchung etwas mildern können. Das Buch enthält eine Vielzahl von Tabellen und Statistiken, aber leider keinerlei Abbildungen. Deshalb bleibt es dem Leser verwehrt, einen optischen Eindruck von der sowjetischen Mode in den 1950er und 60er Jahren zu gewinnen.

Andreas Oberender, Berlin

Zitierweise: Andreas Oberender über: Larissa Zakharova: S’habiller à la soviétique. La mode et le Dégel en URSS, Paris 2011. 406 S., Tab., Abb. ISBN: 978-2-271-07291-719.12.2008 aus Word-Vorlage erstellt, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Oberender_Zakharova_S-habiller.html (Datum des Seitenbesuchs)

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