Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Andreas Oberender

 

Gerhard Wettig: Sowjetische Deutschland-Politik 1953 bis 1958. Korrekturen an Stalins Erbe, Chruschtschows Aufstieg und der Weg zum Berlin-Ultimatum. München: Oldenbourg, 2011. VII, 190 S. = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 82. ISBN: 978-3-486-59806-3.

Gerhard Wettig gehört zu den besten Kennern der sowjetischen Deutschlandpolitik unter Stalin und Chruščev. Zahlreich sind die Beiträge, die Wettig beispielsweise zu den Debatten um die Stalin-Note vom März 1952 und zur Geschichte der zweiten Berlin-Krise (ab 1958) beigesteuert hat. Seine neueste Studie ist der sowjetischen Deutschlandpolitik im Zeitraum von Stalins Tod bis zum November 1958 gewidmet, als Chruščev den Westmächten das sogenannte Berlin-Ultimatum stellte. Das Buch schildert somit die Vorgeschichte der zweiten Berlin-Krise, die Wettig bereits vor einigen Jahren ausführlich behandelt hat (Gerhard Wettig Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963. Drohpolitik und Mauerbau. München 2006). Das neue Buch sollte deshalb nicht isoliert, sondern in Verbindung mit Wettigs älteren Arbeiten und den Beiträgen anderer Historiker gelesen werden.

Die Darstellung setzt unmittelbar nach Stalins Tod ein. Nachdem die Notenkampagne des Jahres 1952 gescheitert war und die SED-Führung Moskaus Erlaubnis für den „Aufbau des Sozialismus“ erhalten hatte, schien es so, als sei die Teilung Deutschlands ein für allemal festgeschrieben und unabänderlich. Doch die sowjetische Deutschlandpolitik blieb vom „Neuen Kurs“, den Stalins Erben einschlugen, nicht unberührt. Malenkov und Molotov verfolgten 1953 eine Doppelstrategie: Zum einen wurde die SED angehalten, den „Aufbau des Sozialismus“ in der DDR zu verlangsamen, weil das forcierte Tempo destabilisierend wirkte und im Juni 1953 zu einem Volksaufstand führte. Um die Attraktivität der DDR im Innern und in den Augen der BRD-Bevölkerung zu erhöhen, sollten die von Ulbricht verschuldeten Auswüchse behoben werden. Dies war aus Sicht des Kremls eine unabdingbare Voraussetzung für eine Wiedervereinigung, ein Ziel, das noch keineswegs von der Agenda der Moskauer Führung gestrichen worden war.

Zum anderen unternahm die Sowjetunion neue Anstrengungen, die BRD aus westlichen Bündnissen, vor allem der NATO, herauszuhalten. Malenkov erklärte, mit einem vereinten Deutschland „auf friedlicher und demokratischer Grundlage“ sei dem Frieden in Europa am besten gedient. Um eine NATO-Mitgliedschaft der BRD zu verhindern, schlug Moskau den Westmächten ein gesamteuropäisches System der kollektiven Sicherheit vor, dem alle Staaten ungeachtet ihrer Bindung an eines der beiden Lager angehören sollten.

Mit anderen Worten: Bis zum Scheitern der Berliner Außenministerkonferenz im Februar 1954 verfolgte die sowjetische Führung das gleiche Ziel wie 1952 während der berühmten Notenkampagne, die seinerzeit und in der späteren Historiographie für erregte Debatten sorgte. Es ging Moskau darum, das Wirtschafts- und Militärpotential der BRD nicht in westliche, namentlich amerikanische, Hände fallen zu lassen. Ein wiedervereintes Deutschland, das nicht Mitglied eines westlichen Bündnisses war und seine inneren Verhältnisse nach sowjetischen Wünschen gestaltete, war Moskaus bevorzugte Lösung der Deutschen Frage. Vor und nach Stalins Tod ließ sich der Kreml von der Illusion leiten, in der BRD könnten politische und sozioökonomische Verhältnisse geschaffen werden, die denen der DDR ähnelten und eine Garantie boten, dass vom vereinten Deutschland nie wieder eine Bedrohung für die UdSSR ausgehen werde.

Wie passen die sowjetischen Initiativen des Jahres 1953 zu der von Wettig und anderen Historikern vehement vertretenen These, die Stalin-Note vom März 1952 sei kein ernst gemeintes Wiedervereinigungsangebot, sondern nur ein „Bluff“ gewesen? Wenn Stalin, wie diese Autoren annehmen, nichts anderes im Sinn hatte, als die absehbare, ja von vornherein einkalkulierte Ablehnung der Note als Vorwand für den weiteren Ausbau des SED-Regimes zu nutzen, dann stellt sich die Frage, warum die Erben des Diktators ein Jahr später mit den gleichen Vorstellungen und Vorschlägen nochmals an die Westmächte herantraten, den vermeintlichen „Bluff“ also wiederholten. Setzt man Stalins Notenkampagne mit den Moskauer Initiativen ab März 1953 in Verbindung, dann zeigt sich, dass die sowjetische Deutschlandpolitik 1952 und 1953 eher unrealistisch als unaufrichtig war. Es sollte deshalb nicht von Täuschungsmanövern, sondern besser von Fehlkalkulationen gesprochen werden.

Zum Wendepunkt wurde die Berliner Außenministerkonferenz im Februar 1954. Die Westmächte lehnten den sowjetischen Vorschlag eines gesamteuropäischen Systems der kollektiven Sicherheit ab. Daraufhin änderten die Sowjetführer ihre Prioritäten. Das Eintreten für die Wiedervereinigung wurde zurückgefahren und stattdessen eine „Stärkung“ der DDR ins Auge gefasst. Außerdem wurde beschlossen, direkte Beziehungen zur BRD herzustellen. Von der Aufnahme diplomatischer Beziehungen versprach sich der Kreml Möglichkeiten, unmittelbar auf die politischen Kräfte der BRD einzuwirken. Noch immer anfällig für Illusionen und Wunschdenken, trachteten der inzwischen zu dominierender Stellung gelangte Chruščev und das Politbüro danach, Adenauer durch Zusammenarbeit mit den Gegnern des Kanzlers (SPD, Gewerkschaften) zu schwächen. Nennenswerter Erfolg war dieser Strategie nicht beschieden, was spätestens im September 1957 klar wurde, als Adenauer und die CDU bei der Bundestagswahl die absolute Mehrheit erzielten.

Moskau konnte den NATO-Beitritt der BRD (Mai 1955) nicht verhindern. Ab 1957 setzte es alles daran, die Ausrüstung der Bundeswehr mit Trägersystemen für Nuklearwaffen zu vereiteln. Erneut – und wiederum ohne Erfolg – wurde das Lockmittel der Wiedervereinigung eingesetzt, um der BRD den Verzicht auf die Atombewaffnung schmackhaft zu machen. Ein zweites Problem rückte zur gleichen Zeit an die Spitze der deutschlandpolitischen Agenda des Kremls: West-Berlin. Ulbricht drängte unablässig darauf, die Sektorengrenze zu schließen, um die Abwanderung ostdeutscher Bürger zu stoppen. Denn wie sollte die DDR den „friedlichen Wettbewerb der Systeme“ mit der BRD gewinnen, wenn ihr die Menschen davonliefen?

Erst nach längerem Zögern machte sich Chruščev die Sichtweise Ulbrichts zu eigen, wonach die gravierenden inneren Probleme der DDR westlicher „Diversion“ und „Sabotage“ zuzuschreiben seien; West-Berlin, Schlupfloch in den Westen und Basis westlicher Wühlarbeit, müsse neutralisiert werden. Der Entschluss, die Westalliierten aus West-Berlin zu verdrängen, mündete in die Note vom 27. November 1958, mit der Chruščev den Westmächten die Umwandlung West-Berlins in eine entmilitarisierte Freie Stadt vorschlug. Für den Fall der Ablehnung drohte der sowjetische Parteichef den Abschluss eines einseitigen Friedensvertrages zwischen der UdSSR und der DDR an, der zur Folge gehabt hätte, dass die fortan souveräne DDR den Westalliierten den Zugang zu West-Berlin hätte verwehren können. An diesem Punkt endet die Darstellung.

Wie alle Arbeiten Gerhard Wettigs besticht auch diese neue Studie durch eine vorzüglich lesbare Exposition der historischen Sachverhalte und eine bewundernswert intime Kenntnis des inzwischen verfügbaren Quellenmaterials. Es entsteht das Bild einer sowjetischen Deutschlandpolitik, die auf Selbsttäuschungen und Fehlkalkulationen beruhte und daher immer wieder zu Misserfolgen führte. Das Ziel, die BRD aus dem westlichen Lager herauszulösen und in einen nach sowjetischen Vorstellungen gestalteten deutschen Gesamtstaat einzufügen, wurde nicht erreicht.

Andreas Oberender, Berlin

Zitierweise: Andreas Oberender über: Gerhard Wettig: Sowjetische Deutschland-Politik 1953 bis 1958. Korrekturen an Stalins Erbe, Chruschtschows Aufstieg und der Weg zum Berlin-Ultimatum. München: Oldenbourg, 2011. VII, 190 S. = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 82. ISBN: 978-3-486-59806-3, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Oberender_Wettig_Sowjetische_Deutschland-Politik.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Andreas Oberender. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.