Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Andreas Oberender

 

Alexandre Sumpf: Bolcheviks en campagne. Paysans et éducation politique dans la Russie des années 1920. Paris: CNRS Éditions, 2011. 412 S., Tab., Abb., Ktn. = Mondes Russes et Est-Européens. ISBN: 978-2-271-07115-6.

Die jüngere Forschung zur frühen Sowjetzeit hat das Verhältnis zwischen dem bolschewistischen Regime und den Bauern hauptsächlich durch das Prisma von Zwangskollektivierung und Entkulakisierung betrachtet. Wie die Bolschewiki vor Stalins „Revolution von oben“ mit der bäuerlichen Bevölkerung umgingen, hat demgegenüber weniger Aufmerksamkeit gefunden. Jetzt hat der französische Historiker Alexandre Sumpf eine Studie vorgelegt, die der Frage nachgeht, wie die Bolschewiki in den 1920er Jahren versuchten, die Bauern mit den Mittel der politischen Bildung (politprosveščenie) für ihr Regime zu gewinnen. Der Partei ging es freilich nicht allein um die Verankerung ihrer Herrschaft im Dorf, wie der Verfasser von Beginn an betont. Es ging ihr auch darum, die Bauern in das Projekt der nachholenden Modernisierung einzubeziehen und zu „Neuen Menschen“ umzuformen.

Zum Zentrum der politischen Bildung im Dorf wurden die sogenannten Lesehütten (izby-čital’ni) erklärt. Die Lesehütten waren keine Erfindung der Bolschewiki. Schon im späten Zarenreich als dörfliche Pendants der städtischen Volkshäuser (narodnye doma) entstanden, hatten sie im Ersten Weltkrieg und vor allem nach der Februar­revolution als Orte der Informations- und Nachrichtenvermittlung eine erste Blüte erlebt. Nach dem Ende des Bürgerkrieges wurden die Lesehütten zügig einer zentralen staatlichen Kontrolle unterworfen und in das System des Volkskommissariats für Bildung eingegliedert. Geleitet von einem (im Idealfall hauptberuflichen) izbač, sollten die Lesehütten ab Mitte der 1920er Jahre der erwachsenen bäuerlichen Bevölkerung die politischen Vorstellungen der Partei nahebringen. Politische Bildung war dabei keineswegs auf die Verbreitung der bolschewistischen Ideologie beschränkt, wie der Begriff zunächst vermuten lässt. Sie umfasste auch Alphabetisierung, die sogenannte Agropropaganda, die zur Verbesserung landwirtschaftlicher Produktionsmethoden beitragen sollte, sowie den Kampf gegen Trunksucht und Gewalt, eine unhygienische Lebensweise und Geschlechtskrankheiten. Der Kampf gegen die Religion blieb hingegen dem Gottlosenverband vorbehalten. Die Aufgabe der Lesehütten war somit eine doppelte: politische Indoktrination einerseits; Propagierung der „neuen Lebensweise“ (novyj byt) unter den als „rückständig“ und „kulturlos“ angesehenen Bauern andererseits.

Wer von Sumpfs Buch die Geschichte einer konfliktträchtigen Begegnung zweier Kulturen erwartet, wird enttäuscht werden. Sumpfs Ansatz lässt sich am ehesten als Behördengeschichte mit vereinzelten sozialgeschichtlichen Einschüben bezeichnen. Der Autor untersucht zunächst die 1920 gegründete, von N. K. Krupskaja geleitete Hauptverwaltung für Politische Bildung (Glavpolitprosvet), die für das landesweite Netz der Lesehütten zuständig war. Von diesem zentralen Apparat dringt Sumpf auf die regionale und lokale Ebene vor. Die Arbeit der nachgeordneten Organe in der Provinz und der Lesehütten in den Dörfern wird am Beispiel des Moskauer Oblasts und des Kreises (uezd) Klin illustriert. Neben den behördlichen Funktionsabläufen nimmt Sumpf auch das Personal in den Blick, das im Bereich der politischen Bildung tätig war, sei es in Führungspositionen, sei es vor Ort im Dorf. Der Autor untersucht Rekrutierung, Ausbildung, Arbeitsalltag und Selbstbild der Führungskader auf höherer und mittlerer Ebene und der izbači, die in den Lesehütten Dienst taten und dort mit den Bauern in Kontakt kamen. Viele Ergebnisse, die Sumpf in seiner Studie präsentiert, sind alles andere als überraschend, denn der Apparat der politischen Bildung litt an den gleichen Problemen wie viele Staats- und Parteiorgane in den 1920er Jahren. Ständiger Mangel an Geld und an geeigneten Kadern sowie eine hohe Personal­fluktuation beeinträchtigten die Arbeit der gesamten Behörde und vor allem der Lesehütten, die ja die Hauptverantwortung für die angestrebte Erziehung der Bauern zu „Neuen Menschen“ trugen. Viele izbači waren junge, unzureichend gebildete Komsomolzen, die in Schnellkursen mehr schlecht als recht auf ihre Aufgaben vorbereitet wurden. Daher kam die politische Bildung im Dorf nie über ein amateurhaftes Niveau hinaus. Ihre letzte Stunde schlug Ende der 1920er Jahre, als die Parteiführung beschloss, im Umgang mit den Bauern wieder die Gewalt sprechen zu lassen. Glavpolit­prosvet und das Netz der Lesehütten wurden 1930, wegen dürftiger Erfolge von der Führung seit geraumer Zeit mit Skepsis und Geringschätzung betrachtet, ohne viel Aufhebens abgewickelt.

Sind alle diese Befunde an sich schon mehr oder weniger vorhersehbar und somit unspektakulär, so wird der Wert des Buches durch andere Schwächen weiter gemindert. Der gesamte Text lässt eine störende Neigung zu Weitschweifigkeit und unnötigem Wortreichtum erkennen, und der alles in allem schmale Ertrag der Studie steht in auffälligem Missverhältnis zum durchaus beachtlichen Umfang des Buches. Noch schwerer wiegen einige thematische Lücken. Sumpf konzentriert sich einseitig auf Institutionen und Personal der Politischen Bildung und verliert dabei ihre Inhalte, ihre Medien und nicht zuletzt ihre Rezeption aus dem Blick. Darüber, wie politische, wirtschaftliche, kulturelle und medizinische Themen für ein bäuerliches Publikum didaktisch aufbereitet wurden, erfährt der Leser nichts. Auch die Medien, die in der Politischen Bildung zum Einsatz kamen (Broschüren, Plakate, Filme usw.), werden nicht behandelt. Offen bleibt des Weiteren, wie es um die Wirksamkeit der vielfältigen Bemühungen bestellt war, die russischen Bauern zu „Neuen Menschen“ zu formen. Inwieweit nutzten die Bauern die Angebote der Lesehütten? Wie gestaltete sich die Begegnung zwischen den Bauern und den vom Regime entsandten „Erziehern“ und „Aufklärern“? Hatten die Lesehütten überhaupt irgendeinen feststellbaren Einfluss auf das bäuerliche Leben?

Solche Fragen stellt Sumpf gar nicht erst, denn die Bauern, Adressaten und zugleich Objekte der Politischen Bildung, kommen in seinem Buch nirgendwo vor. Diese Auslassung ist vollkommen unverständlich und nicht nachvollziehbar. Welchen Wert hat eine Studie über politische Bildung, die gleichsam auf halbem Wege stehenbleibt und die Frage nach den Ergebnissen der bolschewistischen Erziehungsmission ausblendet? Mögen die Erfolgsaussichten der politischen Bildung im Dorf auch von Anfang an gering gewesen sein, so handelt es sich nichtsdestotrotz um die Geschichte einer Beziehung, an der zwei Partner beteiligt waren, die Bauern hier, die izbači als Vertreter des Regimes dort. Da Sumpf sich entschieden hat, seine Studie auf einen der beiden Partner zu beschränken, wird es Aufgabe der künftigen Forschung sein, die Geschichte der Lesehütten aus bäuerlicher Perspektive zu untersuchen und darzustellen.

Andreas Oberender, Berlin

Zitierweise: Andreas Oberender über: Alexandre Sumpf: Bolcheviks en campagne. Paysans et éducation politique dans la Russie des années 1920. Paris: CNRS Éditions, 2011. 412 S., Tab., Abb., Ktn. = Mondes Russes et Est-Européens. ISBN: 978-2-271-07115-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Oberender_Sumpf_Bolcheviks_en_campagne.html (Datum des Seitenbesuchs)

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