Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Andreas Oberender, Berlin

 

Vladimir G. Mosolov: IMĖL – citadel partijnoj ortodoksii. Iz istorii Instituta Marksizma-Leninizma pri CK KPSS, 1921–1956. Moskva: Novyj chronograf, 2010. 600 S., 35 Abb. ISBN: 978-5-94881-104-8.

Vielen westlichen Historikern, die in Moskau Archivrecherchen betreiben, ist das Russländische Staatsarchiv für soziale und politische Geschichte (RGASPI) in der Bol’šaja Dmitrovka ein wohlvertrauter Ort. Eine Lenin-Statue im Foyer erinnert die Besucher daran, dass das Gebäude einst nicht nur das Zentrale Parteiarchiv der KPdSU beherbergte, sondern auch das Institut für Marxismus-Leninismus. Die Geschichte dieses Instituts und seiner beiden Vorläufer ist Gegenstand der vorliegenden Studie aus der Feder des Historikers Vladimir Mosolov. Der Autor war von 1956 bis 1991 als Bibliothekar, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Direktionsassistent am IMĖL tätig, ist also ein Insider. Dieser persönliche Hintergrund könnte den Leser zu skeptischem Stirnrunzeln veranlassen. Das ist aber vollkommen unangebracht, wie sich bei der Lektüre rasch zeigt. Mosolov begegnet der Institution, die jahrzehntelang seine Arbeitsstätte war, mit wohltuend kritischer Distanz. Nicht weniger Anerkennung verdient die staunenswert breite Quellenbasis. Mosolov hat Grundlagenforschung betrieben und eine wertvolle Studie vorgelegt, die aus dem Korpus von Arbeiten zu sowjetischen Behörden und Institutionen nicht mehr wegzudenken sein wird.

Von den beiden Vorläufern des IMĖL wurde das Marx-Engels-Institut zuerst gegründet (1921). Sein Leiter war der bedeutende marxistische Gelehrte David Rjazanov. Unter seiner Ägide nahm das Institut die erste Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) in Angriff. Sie war auf 42 Bände angelegt, wurde aber letztlich nie vollendet. Rjazanov, ein selbstbewusster und tatkräftiger Wissenschaftsmanager, sah es als seine Lebensaufgabe an, eine historisch-kritische Gesamtausgabe der Schriften von Marx und Engels herauszubringen. Gleich nach seiner Gründung begann das Institut damit, systematisch alle erreichbaren Quellen zu Leben und Werk der beiden Theoretiker zu sammeln. Umfangreiche Materialien, teils Originale, teils Kopien, wurden im Ausland für das Institutsarchiv erworben.

Bald zeigte sich, dass Rjazanov den mit der MEGA verbundenen Arbeitsaufwand unterschätzt hatte. Die Edition der einzelnen Bände kam nur schleppend voran. Der Mangel an qualifiziertem Personal und das alles in allem eher mäßige Interesse der Parteiführung an der MEGA erschwerten die Arbeit des Instituts. Die begrenzten personellen Ressourcen machten Rjazanovs ehrgeizige Pläne zunichte, das Institut solle neben der editorischen Arbeit auch Forschungen zur Geschichte des Marxismus und der internationalen Arbeiterbewegung betreiben. Rjazanov machte sich mit seiner prononcierten intellektuellen Unabhängigkeit viele Feinde und fiel schließlich Stalins „Revolution von oben“ zum Opfer: Er wurde Anfang 1931 abgesetzt, verhaftet und verbannt. Sein Institut wurde gesäubert und im Sommer 1931 mit dem Lenin-Institut fusioniert.

Die Gründung des Lenin-Instituts (1923) ging auf eine Initiative von Lenins treuem Gefolgsmann Lev Kamenev zurück, der bis 1926 auch als erster Leiter des Instituts amtierte. Die Aufgaben des Lenin-Instituts glichen denen des Marx-Engels-Instituts: Sammlung aller erreichbaren Quellen zu Lenins Leben und Werk; Erstellung einer wissenschaftlich-kritischen Gesamtausgabe. Zusätzlich diente das Institut als Parteiarchiv. Anders als das Marx-Engels-Institut konnte sich das Lenin-Institut nicht aus den Diadochenkämpfen nach dem Tode des Revolutionsführers heraushalten. In den Auseinandersetzungen zwischen Stalin, der linken und der rechten Opposition kam es nicht darauf an, Lenins Werke und Theorien mit wissenschaftlicher Objektivität zu betrachten und in ihren historischen Kontext einzuordnen. Was Stalin und seine Konkurrenten brauchten, waren lediglich griffige Zitate, die sich im Fraktionskampf verwenden ließen und geeignet waren, die eigene Position ideologisch zu rechtfertigen und den Gegner als Abweichler zu diffamieren. Dieser Missbrauch des Leninschen Werkes im Interesse der Tagespolitik wurde nach Stalins Sieg zum System erhoben: Lenins Texte wurden kanonisiert und fortan bei Bedarf inhaltlich so manipuliert, dass sie zur jeweiligen Generallinie passten.

Quellennah schildert Mosolov die problem- und widerspruchsreiche, mitunter geradezu bizarr anmutende Tätigkeit des IMĖL in den 1930er Jahren. Einem beträchtlichen Einsatz von finanziellen und personellen Ressourcen standen auffallend dürftige Erträge gegenüber. Rjazanovs historisch-kritischer Ansatz wurde aufgegeben. Mehr und mehr driftete das Institut, das vom ZK permanent überwacht und gegängelt wurde, in die Pseudowissenschaftlichkeit ab. Unter der Leitung des stalintreuen Vladimir Adoratskij war an eigenständige Arbeit nicht mehr zu denken. Editionsvorhaben dominierten die Arbeit des Instituts, während die Forschung ein Schattendasein fristete. Das, was vom Institut tatsächlich geleistet und vollbracht wurde, blieb weit hinter den grandiosen, oft realitätsfremden Plänen der Direktion zurück. Bis 1941 gelang es nicht, wissenschaftliche Biographien von Marx, Engels und Lenin vorzulegen. Die MEGA blieb weiterhin unvollendet.

Viele Quelleneditionen wurden konzipiert, doch nur wenige schafften es bis zur Drucklegung und Veröffentlichung. Nachdem sich Stalin die Deutungshoheit über die Parteigeschichte gesichert hatte, wurden immer wieder Quellen manipuliert oder gänzlich unterdrückt, die im Widerspruch zur Generallinie, zum 1938 erschienenen „Kurzen Lehrgang“ und zur Stalinschen Geschichtspolitik standen. Eine bereits gedruckte Edition von Schriften, in denen sich Marx und Engels mit der Nationalen Frage befasst hatten, wurde zurückgezogen und eingestampft, weil das ZK Anstoß daran nahm, dass sich die beiden Altvorderen gelegentlich abschätzig über die Slawen geäußert hatten. In den Jahren des Großen Terrors degenerierte das Institut vollends zum Erfüllungsgehilfen der Parteiführung und des NKVD, indem es aus seinen Archivbeständen Belastungsmaterial über frühere Oppositionelle bereitstellte. Eine Säuberung des eigenen Hauses konnte durch diese eilfertigen Handlangerdienste allerdings nicht abgewendet werden.

Bis zu Stalins Tod konnte sich das Institut nicht aus der erdrückenden Abhängigkeit von der Parteiführung befreien. In der Nachkriegszeit stand die Edition der Gesammelten Werke Stalins im Vordergrund der Institutsarbeit. Alle anderen Vorhaben waren demgegenüber zweitrangig. Als der Diktator starb, standen der Partei weder eine vollendete MEGA noch eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Lenin-Werkausgabe zur Verfügung. Für die KPdSU war die eigene Geschichte eine terra incognita. Eine ansatzweise seriöse und wissenschaftliche Beschäftigung mit der Parteigeschichte konnte erst im Zuge der Entstalinisierung beginnen. Angesichts dieser Tatsachen ist Mosolovs abschließendes negatives Urteil über die Arbeit des IMĖL bis 1953 vollauf gerechtfertigt. Mit seinem faktenreichen Buch, das stellenweise etwas zu detailverliebt, insgesamt aber gelungen und lesenswert ist, hat Mosolov einen wichtigen Beitrag zur Geschichte einer Institution vorgelegt, die bisher von der westlichen und russischen Forschung vernachlässigt wurde. Allen, die sich für die Frage interessieren, wie eine sowjetische Wissenschaftsinstitution unter den Bedingungen des Stalinismus arbeitete, sei dieses Buch daher nachdrücklich empfohlen.

Andreas Oberender, Berlin

Zitierweise: Andreas Oberender, Berlin über: Vladimir G. Mosolov: IMĖL – citadel’ partijnoj ortodoksii. Iz istorii Instituta Marksizma-Leninizma pri CK KPSS, 1921–1956. Moskva: Novyj chronograf, 2010. 600 S., 35 Abb. ISBN: 978-5-94881-104-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Oberender_Mosolov_IMEL_Citadel_partijnoj_ortodoksii.html (Datum des Seitenbesuchs)

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