Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Andreas Oberender

 

Sonja Luehrmann: Secularism Soviet Style. Teaching Atheism and Religion in a Volga Republic. Bloomington, IN, Indianapolis: Indiana University Press, 2011. XIV, 275 S. ISBN: 978-0-253-22355-5.

Die Sowjetunion verstand sich als säkularer und atheistischer Staat. Religion galt als „falsches“ Wissen über die Welt. Im Leben der Sowjetbürger sollte sie deshalb keine Rolle mehr spielen. Die überkommenen religiösen Identitäten, seien sie christlicher, muslimischer oder anderer Provenienz, sollten einer neuen säkularen Identität und einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“ weichen. Da die Religion aber nicht von selbst aus dem Leben der Menschen verschwand, musste sie aktiv bekämpft werden. Antireligiöse Kampagnen waren seit der Revolutionszeit wesentlicher Bestandteil des Kampfes, den das vom Modernisierungsfuror getriebene kommunistische Regime gegen die „Rückständigkeit“ des Landes führte. Die Menschen sollten ihren Glauben an das Göttliche, an jenseitige, übernatürliche Kräfte aufgeben und sich ein Weltbild aneignen, in dem nur noch menschliche Akteure vorkamen. Mit unterschiedlicher Intensität wurde antireligiöse Propaganda bis zum Ende der Sowjetunion betrieben. Wie reagierten Gläubige auf diese Propaganda? Wie praktizierten sie ihre Religion in einem Umfeld, das offiziell strikt säkular war? Welchen Erfolg hatte das Regime mit seinen Bemühungen, aus Gläubigen Atheisten zu machen? Welche didaktischen Methoden setzten die Propagandisten des Staates ein, um Gläubige für ein Leben ohne Religion zu gewinnen? Das sind die Fragen, denen die amerikanische Anthropologin Sonja Luehrmann in ihrem Buch nachgeht.

Geographischer Ort ihrer Studie ist die an der Mittleren Wolga gelegene Republik Mari Ėl, die frühere Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Mari (Marijskaja ASSR) mit der Hauptstadt Joškar Ola. Luehrmann hat eine Region ausgewählt, die sowohl in ethnischer als auch in religiöser Hinsicht eine beträchtliche Vielfalt aufweist. Neben den indigenen Mari, einem finno-ugrischen Volk, leben in der Republik Russen und andere Slawen sowie Tataren. Alle diese Volksgruppen decken sich jeweils mit der Anhängerschaft bestimmter Religionen: Die Slawen sind mehrheitlich orthodoxe Christen und zu einem geringen Teil Altgläubige oder Anhänger diverser protestantischer Kirchen; die Tataren sind Muslime; die Mari praktizieren eine Naturreligion, die vor 1991 vom Sowjetstaat nicht als Religion anerkannt wurde. Luehrmann beschäftigt sich nicht mit allen diesen Religionsgemeinschaften. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen die Christen und die paganen Mari, während die Muslime nur gelegentlich Erwähnung finden. So vielgestaltig wie der Untersuchungsgegenstand sind auch die Quellen und Methoden, die Luehrmann benutzt hat. Die Autorin stützt sich zum einen auf Archivalien und zeitgenössisches Schrifttum, zum anderen auf zahlreiche Interviews mit Gläubigen und ehemaligen antireligiösen Aktivisten aus der Region. Darüber hinaus hat Luehrmann durch teilnehmende Beobachtung einen unmittelbaren Eindruck von den heutigen religiösen Praktiken der in Mari Ėl vertretenen Glaubensgemeinschaften gewonnen. Diese Kombination von verschiedenen Quellengattungen und Methoden ist ein wesentlicher Vorzug der Arbeit. Ein zweiter Vorzug ist der chronologische Rahmen der Studie, der von der Chruščev-Zeit bis in die Gegenwart reicht. Auf diese Weise kann Luehrmann auch die Renaissance des Religiösen nach dem Ende des Kommunismus in den Blick nehmen.

In mehreren Kapiteln untersucht Luehrmann sowohl antireligiöse Propaganda als auch religiöse Praxis aus verschiedenen Blickwinkeln. Wie anderswo auch ging der Kampf gegen die Religion in der Region Mari von der Prämisse aus, dass das Festhalten am angestammten Glauben nationale bzw. ethnische Trennlinien festige und die einzelnen Volksgruppen daran hindere, im großen Ganzen aufzugehen, in der Gemeinschaft der Sowjetmenschen. Sowjetische Soziologen der sechziger und siebziger Jahre betonten die vermeintlich trennende, isolierende und entwicklungshemmende Wirkung der Religion. Religiosität wurde mit ethnischem Separatismus, intellektueller Borniertheit und sozialer Isolation (etwa im Falle alter Frauen) assoziiert. Diesen Übeln trat der Staat mal mit „Aufklärung“, mal mit repressiven Mitteln entgegen. Setzte Chruščev in den sechziger Jahren noch auf rabiate Methoden – auch in Joškar Ola wurden zu dieser Zeit Gotteshäuser geschlossen und Hetzkampagnen gegen Geistliche durchgeführt –, so wurde die antireligiöse Propaganda nach seinem Sturz in ruhigere Bahnen gelenkt und auf solide didaktische Grundlagen gestellt. Von den diversen Strategiewechseln blieb auch die Religionspolitik in der Region Mari nicht verschont. Wie Luehrmann zeigt, besaßen die Aktivisten vor Ort eine beachtliche Gestaltungsfreiheit, um die Propaganda inhaltlich auf die Religionsgemeinschaften in der Republik zuzuschneiden und möglichst verständlich zu formulieren. Die spätsowjetischen Debatten über geeignete Methoden und Medien der antireligiösen Propaganda nehmen breiten Raum in der Studie ein, ebenso wie die Versuche, den Gläubigen Alternativen anzubieten und sogenannte „geistige Werte“ nahezubringen, die an die Stelle der Religion treten sollten.

Was den Erfolg der antireligiösen Propaganda angeht, so ist Luehrmann skeptisch. Offizielle sowjetische Statistiken über Gläubige und Atheisten in der Region müssen mit Vorsicht benutzt werden. Zu keinem Zeitpunkt konnte die Religion vollständig aus dem Leben der Menschen verdrängt werden. Bestimmte religiöse Praktiken, etwa Trauerfeiern und Beerdigungen, wurden vom Staat stillschweigend geduldet. Auch die Mari konnten ihre naturreligiösen Rituale weitgehend ungestört ausüben. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam das abrupte Ende der atheistischen Propaganda. Alle Religionsgemeinschaften konnten jetzt wieder ungehindert agieren und neue Gotteshäuser errichten. Das Religiöse kehrte in den öffentlichen Raum zurück. Geistliche stehen seither vor einer vergleichbaren Herausforderung wie vor ihnen die sowjetischen Propagandisten: Mit welcher Didaktik lassen sich Glaubensinhalte überzeugend vermitteln, besonders an solche Menschen, die sich vom Atheismus abgewendet haben und ein Bedürfnis nach religiöser Unterweisung verspüren? Interessanterweise greifen viele Geistliche auf didaktische Konzepte zurück, die früher in der atheistischen Propaganda Anwendung fanden. Ein weiterer Aspekt, den Luehrmann untersucht, sind die Versuche der Mari, ihren Glauben zu systematisieren, damit er vom Staat endlich als „richtige“ Religion anerkannt wird.

Luehrmanns Studie ist vor allem für jene Leser aufschlussreich, die sich für das Spannungsverhältnis zwischen Atheismus und Religiosität in der späten Sowjetunion und das Wiedererstarken des Religiösen nach 1991 interessieren. Der wissenschaftliche Hintergrund der Autorin als Anthropologin ist dem Buch deutlich anzumerken. Etwas mehr historische Kontextualisierung hätte nicht geschadet. Über die Religionspolitik in der Region Mari bis zu Stalins Tod teilt Luehrmann nichts mit. Als Historiker wird man ein gewisses Unbehagen empfinden, dass die Darstellung mit der Chruščev-Zeit einsetzt, die Vorgeschichte aber ausgeblendet bleibt.

Andreas Oberender, Berlin

Zitierweise: Andreas Oberender über: Sonja Luehrmann: Secularism Soviet Style. Teaching Atheism and Religion in a Volga Republic. Bloomington, IN, Indianapolis: Indiana University Press, 2011. XIV, 275 S. ISBN: 978-0-253-22355-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Oberender_Luehrmann_Secularism_Soviet_Style.html (Datum des Seitenbesuchs)

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