Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Andreas Oberender, Berlin

 

Hugh D. Hudson: Peasants, Political Police, and the Early Soviet State. Surveillance and Accommodation under the New Economic Policy. Houndmills, Basingstoke, New York, NY: Palgrave Macmillan Press, 2012, XIII, 177 S., 5 Abb., 1 Kte. ISBN: 978-0-230-33886-9.

Charakter und Zielsetzung der vorliegenden Studie sind schwer zu bestimmen. Mit 125 Textseiten ist das kleinformatige und schmale Buch länger als ein gewöhnlicher Aufsatz, aber nicht umfangreich und gehaltvoll genug, um als vollwertige Monographie gelten zu können. Der amerikanische Historiker Hugh Hudson geht der Frage nach, wie die OGPU in den 1920er Jahren die Lage auf dem Lande einschätzte und wie sie mit ihren Berichten die Sicht der Parteiführung auf die Bauern beeinflusste. Hudson hat keine eigenen Archivrecherchen betrieben. Stattdessen stützt er sich auf einige der umfangreichen Quelleneditionen, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten erschienen sind, darunter Sovetskaja derevnja glazami VČK-OGPU-NKVD (4 Bde., Moskau 19982005) und Tragedija sovetskoj derevni (5 Bde., Moskau 19992006).

Der Autor untersucht das Dreiecksverhältnis zwischen Bauern, Geheimpolizei und Partei vom Bürgerkrieg bis zur Kollektivierung. Konkrete Akteure treten nur selten in Erscheinung, so dass die Beteiligten der Dreiecksbeziehung weitgehend abstrakt und gesichtslos bleiben. Hudson bietet keinerlei neuartige Erkenntnisse und Interpretationen. Wer sich mit dem bäuerlichen Leben in den 1920er Jahren, der Landwirtschaftspolitik der Bolševiki und der Vorgeschichte der Kollektivierung bereits gut auskennt, wird dem Buch nichts Neues entnehmen können.

Alle Befunde, die Hudson herausarbeitet, sind hinlänglich bekannt: Die Bauern reagierten verhalten positiv auf die Einführung der NÖP, waren aber mit dem bis Mitte der 1920er Jahre durchaus flexiblen und pragmatischen Kurs der Bolševiki nie vollauf zufrieden. Steuern und Abgaben wurden durchweg als zu hoch empfunden. Zu den weiteren Gravamina der Bauern gehörten die „Schere“ zwischen niedrigen Agrar- und hohen Konsumgüterpreisen, die unerwünschte Einmischung der Partei in dörfliche Angelegenheiten und die Bevorzugung und Bevorteilung der städtischen Arbeiter.

In den frühen 1920er Jahren identifizierte die OGPU nicht politisch-ideologische Motive, sondern wirtschaftliche Probleme als Ursache der weitverbreiteten bäuerlichen Unzufriedenheit. Die Geheimpolizei hielt es für möglich – und ratsam –, die Bauern durch eine entgegenkommende Landwirtschafts- und Steuerpolitik mit dem Regime zu versöhnen. Zu keinem Zeitpunkt vertrat die Geheimpolizei eine eigenständige Linie; stets befand sie sich in Übereinstimmung mit der Partei. Ab Mitte des Jahrzehnts griffen auf Seiten der OGPU und der Parteiführung Misstrauen und Ressentiments gegenüber den Bauern um sich. Mehr und mehr wurde der Bauernschaft eine generelle, mit friedlichen Mitteln nicht zu überwindende Feindseligkeit gegenüber der Sowjetmacht unterstellt.

Gründe dafür gab es viele, etwa die Entstehung einer Schicht wohlhabender Bauern, die zur „Kulakengefahr“ aufgebauscht wurde, oder den immer lauter werdenden Ruf nach Zulassung eines Bauernbundes, durch den die Partei ihr Machtmonopol bedroht sah. Misserfolge der Bolševiki bei den Wahlen zu den Dorfsowjets schrieb die Partei der regimefeindlichen Propaganda der Kulaken zu. Während der Kriegsfurcht von 1927 wurde klar, dass die Mehrheit der Bauern im Ernstfall nicht für die Bolševiki ins Feld ziehen würde. Noch gefährlicher wurde die Lage aus Sicht der Partei, als die Bauern im Winter 1927/28 in einen angeblichen „Getreidestreik“ traten und die Versorgung der Städte und Industriezentren gefährdeten. Die Getreidekrise wurde zum Katalysator für die Zwangskollektivierung.

In der Zusammenfassung bietet Hudson eine einleuchtende, wenn auch nicht besonders originelle Antwort auf die Frage, warum Bolševiki und Bauern nicht zueinander finden konnten: Weil sie völlig konträre Ziele verfolgten. Den Bauern ging es um den Erhalt des status quo, um die Konservierung ihrer traditionellen Lebens- und Wirtschaftsweise, um die Abwehr der Einmischung von außen. Die Bolševiki hingegen strebten nach der Überwindung des status quo und jener Rückständigkeit, die sie besonders in den Bauern verkörpert sahen. Die angestrebte sozioökonomische und kulturelle Modernisierung erforderte die Unterwerfung des Dorfes und die Zerschlagung seiner überkommenen Strukturen. Wer wollte dieser These widersprechen? Bei allem Mangel an Originalität besitzt Hudsons Studie den Vorteil der Handlichkeit, so dass sie zumindest im Lehrbetrieb von Nutzen sein wird. Studierende werden das Buch mit Gewinn lesen. Historiker brauchen es nur dann zur Hand zu nehmen, wenn sie eine bereits bekannte Geschichte noch einmal in komprimierter Form nachlesen wollen.

Andreas Oberender, Berlin

Zitierweise: Andreas Oberender, Berlin über: Hugh D. Hudson: Peasants, Political Police, and the Early Soviet State. Surveillance and Accommodation under the New Economic Policy. Houndmills, Basingstoke, New York, NY: Palgrave Macmillan Press, 2012, XIII, 177 S., 5 Abb., 1 Kte. ISBN: 978-0-230-33886-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Oberender_Hudson_Peasants_Political_Police.html (Datum des Seitenbesuchs)

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