Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2011, 1

Verfasst von: Martina Niedhammer

 

Mirjam Triendl-Zadoff Nächstes Jahr in Mari­enbad. Gegenwelten jüdischer Kulturen der Mo­derne. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007. 246 S., 8 Abb. = Jüdische Religion, Ge­schichte und Kultur, 6. ISBN: 978-3-525-56995-5.

Die jüdische Geschichte Böhmens im frühen 20. Jahrhundert erfreut sich bereits seit länge­rem einer kontinuierlichen Aufmerksamkeit der Forschung. Allerdings stellen immer noch viele Arbeiten vorrangig Prag in den Mittelpunkt ih­rer Untersuchung, wohingegen kleinere Ge­meinden noch kaum berücksichtigt wurden. Mirjam Triendl-Zadoffs 2007 erschienene Dis­sertation zu jüdischem Leben im Bäderdreieck trägt dazu bei, diese topographische Lücke zu füllen. Man würde ihrer Studie jedoch nicht ge­recht, wenn man sie lediglich auf ihren lokalen westböhmischen Bezugsrahmen reduzieren wollte. Denn die jüdische Bevölkerung Karls­bads, Marienbads und Franzensbads stellt kein eigenständiges Untersuchungsziel der Arbeit dar, sondern bildet einen integralen Bestandteil dessen, was als das eigentliche Forschungsan­liegen der Verfasserin betrachtet werden kann. Triendl-Zadoff deutet den Kurort als speziellen jüdischen Erfahrungsraum, dessen vergleichs­weise geschützte Atmosphäre bürgerlichen jüdi­schen Kreisen die Konstruktion einer kompen­satorischen Gegenwelt ermöglichte. Dabei re­kurriert die Verfasserin auf Foucaults Konzept der „Heterotopien“, das auf die Raum- und Zeitbezogenheit hinweist, die für bestimmte Utopien einzelner gesellschaftlicher Gruppen kennzeichnend ist. Beide Ebenen bezieht die Autorin in ihre Untersuchung ein, was sich be­reits im Titel der Arbeit widerspiegelt. Die Pa­raphrase des traditionellen Pessachsegens „Nächstes Jahr in Jerusalem“ verweist sowohl auf das zyklische Moment der einem Ritual gleichenden alljährlichen Fahrt in die Sommer­frische als auch auf das Ziel der Reise, die böh­mischen Bäder. Sie waren besonders beim jüdi­schen Bürgertum seit dem Ende des 19. Jahr­hunderts sehr beliebt, was der Verfasserin zu­folge nicht zuletzt mit ihrer Lage in Mitteleuro­pa zusammenhing, die sowohl assimilierten Westjuden als auch orthodoxen Ostjuden eine leichte Anreise er­möglichte.

In vier Kapiteln beleuchtet Triendl-Zadoff die Bedeutung der drei Kurbäder als „jüdische Orte“, an denen verschiedene Judentümer auf­einandertrafen und sich teilweise in gegenseiti­ger Abgrenzung konstituierten. Der zeitliche Rahmen erstreckt sich dabei vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Jahr 1938, was es der Verfasserin gestattet, „Entstehung, Trans­formation und Auflösung der jüdischen Orte“ (S. 16) gleichermaßen zu untersuchen. Eine der großen Stärken der Arbeit liegt in der räumli­chen Gliederung des Textes, der, „in Kreisen strukturiert“ (S. 17), einzelne Inhalte mehrfach unter verschiedenen Perspektiven aufgreift und erörtert. So diskutiert die Autorin im ersten Teil die Voraussetzungen, die das westböhmische Bä­derdreieck zu einem bürgerlichen Rückzugs­raum der frühen Moderne werden ließen, dessen komplexe Infrastruktur verschiedenen gesell­schaftlichen und religiösen Kreisen während des Sommers eine scheinbar friedliche Koexis­tenz erlaubte. Detailliert analysiert Triendl-Za­doff die Kombination aus mondänem Am­biente und idyllischer Zurückgezogenheit, die ein Charakteristikum der Bäder darstellte. Ein internationales Kurpublikum und großstädtis­cher Komfort inmitten ländlicher Umgebung versprach vielfältige Inszenierungs- und Identi­fikationsmöglichkeiten, wohingegen kulturelle und religiöse Institutionen dem Bedürfnis „nach vertrauten Räumen und Rückzugsmöglichkeite­n“ entgegenkamen. Neben Kirchen verschiede­ner christlicher Konfessionen verfüg­te das Bä­derdreieck über eine Vielzahl jüdi­scher Kultus- und Sozialeinrichtungen, die den Erfordernissen der verschiedenen Richtungen des europäischen Judentums entsprachen. Im Sommer vergrößer­te sich die kleine lokale Ge­meinde um ein Viel­faches; akkulturierte bürger­liche Familien reis­ten ebenso an wie ­Rebbes, die spirituellen Lei­ter chassidi­scher Bewegungen, mit ihrem gan­zen Hofstaat. Den Aspekt der religiösen Hetero­genität der jüdischen Gäste und des Wechsel­spiels von Selbstwahrnehmung und von Fremd­wahrnehmung durch nichtjüdische Besucher vertieft die Verfasserin im zweiten Kapitel, während sie im dritten Teil ihrer Arbeit auf die Diskrepanz zwischen dem Antisemitismus, den die „Win­tergemeinde“ außerhalb der Kursaison zu ertra­gen hatte, und der liberalen Atmosphäre der Sommermonate zurückkommt. Das vierte Kapitel bietet schließlich einen Einblick in die Bedeutung, die das Bäderdreieck für die Geschichte des Zionismus besaß.

Quellenbasis der Arbeit sind vor allem Selbstzeugnisse wie Briefe, Tagebücher und In­terviews, aber auch Periodika. Daneben zieht die Verfasserin in größerem Umfang belletristi­sche Texte heran. Mag letzteres an einigen we­nigen Stellen auch die Gefahr einer gewissen methodischen Unschärfe bergen, so stellt es doch zugleich eine der Besonderheiten der auch in stilistischer Hinsicht brillanten Untersuchung dar. Dies verdeutlicht bereits das Inhaltsver­zeichnis, das gleichermaßen mit assoziativen Zugängen wie mit Zitaten arbeitet: So wird etwa Odradek, ein schwer fassbares ‚Ding‘ aus einer 1919 veröffentlichten Erzählung Franz Kafkas, im dritten Kapitel zum Synonym für die schwierige Position der lokalen jüdischen Bevölkerung in dem schwelenden Konflikt zwi­schen Deutschen und Tschechen.

Martina Niedhammer, München

Zitierweise: Martina Niedhammer über: Mirjam Triendl-Zadoff Nächstes Jahr in Marienbad. Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2007. = Jüdische Religion, Geschichte und Kultur, 6. ISBN: 978-3-525-56995-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Niedhammer_Triendl-Zadoff_Naechstes_Jahr_in_Marienbad.html (Datum des Seitenbesuchs)

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