Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Dietmar Neutatz

 

Johannes Grützmacher: Die Baikal-Amur-Magistrale. Vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev. München: Oldenbourg, 2012. 503 S., 1 Abb., 1 Kte., Tab. = Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 38. ISBN: 978-3-486-70494-5.

Zu den Großbaustellen der Sowjetunion sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehrere Fallstudien entstanden. Das thematische Schwergewicht lag dabei auf der Zeit zwischen den dreißiger und den sechziger Jahren. Johannes Grützmacher erweitert den Blick auf die späte Sowjetunion, indem er das letzte große Mobilisierungsprojekt der Sowjetunion, den Bau der Baikal-Amur-Magistrale, zum Gegenstand seiner Tübinger Dissertation gemacht hat. Die Bahnlinie im Fernen Osten war schon unter Stalin begonnen, aber nicht fertiggestellt worden. 1974 setzte sie Brežnev erneut und mit hoher Priorität auf die Tagesordnung.

Im Gegensatz zu Christopher Ward, der 2009 unter dem TitelBrezhnevs Folly“ eine selektive Studie zur BAM vorgelegt hatte, geht Grützmacher umfassender an das Thema heran. Er ordnet den Bau der BAM in verschiedene Forschungskontexte ein: die Gewaltgeschichte des Stalinismus, die Diskussionen über den Charakter der Brežnev-Ära, die Kulturgeschichte der Großbaustellen und Infrastrukturen und die Raumerschließung Sibiriens. Das ist für eine Dissertation ein weit gestecktes Programm.

Die Fragestellung erläutert der Verfasser vergleichsweise knapp und zugleich kaleidoskopartig: Die Aufzählung der Fragen, die ihn interessieren, läuft auf eine histoire totale der BAM hinaus, von den stalinistischen Anfängen bis in die Gegenwart. Das Problem bei dieser Herangehensweise ist ein gewisser additiv-deskriptiver Charakter der Darstellung. Den alles verknüpfenden roten Faden bildet keine analytische Kategorie, sondern nur der Untersuchungsgegenstand selbst, denn der Verfasser behandelt recht disparate Dinge, die den Leser abwechselnd in unterschiedliche Richtungen führen: Entscheidungsmechanismen, Gründe für den Bau der Eisenbahnlinie, denBAM-Mythos, die Verhältnisse in den stalinistischen Arbeitslagern, die Planungen und die Errichtung der Stadt Komsomolsk-na-Amure, die Motive für die Wiederaufnahme des Baus 1974, die Anwerbung von Arbeitskräften, die Struktur der Belegschaft, den Alltag auf den Baustellen, die BAM als frontier sowie am Ende auch noch umweltgeschichtliche Aspekte. Einen gewissen Zusammenhang schaffen immerhin wiederkehrende Leitmotive wie die Frage nach Funktionalitäten und Dysfunktionalitäten, nach dem Verhältnis von rhetorischen Strukturen und der Realität, nach Anspruch und Wirklichkeit. Die Ergebnisse fügen sich in das Bild der bisherigen Forschung ein, auf die der Verfasser mit breiter Literaturkenntnis Bezug nimmt.

Grützmacher zerlegt den BAM-Mythos in seine Bestandteile, zeigt, an welche Traditionen er anknüpfte, welche Narrative er bediente, welche Funktionen er für die sowjetische Gesellschaft erfüllte und wie er anlässlich des Geleits von Arbeitern auf dieStoßbaustelleund bei Streckeneröffnungen zelebriert wurde. Interessant ist hier der Befund, dass der BAM-Diskurs einen überwiegend inkludierend-harmonisierenden Charakter hatte und Feindbilder darin nur eine marginale Rolle spielten.

Die stalinistische Frühgeschichte der BAM hat Grützmacher aus guten Gründen in seine Untersuchung mit aufgenommen. Sie wird zwar im offiziellen BAM-Diskurs ausgeblendet, ist aber in der Erinnerung der Menschen präsent. Nachdem der erste Anlauf, die Bahn zu bauen, gescheitert war, wurden die Baustellen 1932 der Geheimpolizei übergeben, die sie in das System der Zwangsarbeitslager integrierte. Den Alltag in diesen Lagern beschreibt Grützmacher plastisch. Es ist wichtig, diese Facette der BAM zu kennen, wenngleich die in diesem Abschnitte behandelten Themen die BAM als eines von vielen Beispielen für typische Ausprägungen des Lebens im Stalinismus zeigen, wie sie auch schon anderswo beschrieben wurden. Ähnliches gilt für die Stadtplanung von Komsomolsk-na-Amure und ihre Umsetzung in die Praxis. Auch diese Diskrepanzen kennt man aus anderen Fallstudien.

Mit dem sechsten Kapitel macht der Verfasser einen Zeitsprung aus der stalinistischen Lagerwelt und Mobilisierungsgesellschaft in das Jahr 1974, als Brežnev anlässlich einer Feier zum zwanzigjährigen Jubiläum von Chruščevs Neulandkampagne ankündigte, die Baikal-Amur-Magistrale werde die Tradition der Neulandgewinnung wieder aufgreifen. Wenige Monate später fassten das Zentralkomitee und die Regierung den schon länger vorbereiteten Beschluss über die Wiederaufnahme der Bauarbeiten. In der Folge wurde die BAM unter der Ägide des Komsomol zu dem Mobilisierungsprojekt der späten Sowjetunion schlechthin. Die Motive der sowjetischen Führung, den Bahnbau wieder auf die Tagesordnung zu setzen, waren aber breiter gelagert: Es ging um die verkehrstechnische Erschließung Ostsibiriens und des Fernen Ostens, die Entlastung der Transsibirischen Eisenbahn, die wirtschaftliche Durchdringung Sibiriens, Hoffnungen auf lukrative Geschäfte mit dem internationalen Transitverkehr zwischen Europa und Asien und nicht zuletzt auch die Verbesserung der militärstrategischen Lage gegenüber China.

Was Grützmacher über die Anwerbung von Arbeitskräften sowie deren Motivation, Unterbringung und Arbeitsbedingungen schreibt, erinnert in vielem an die Verhältnisse auf anderen Großbaustellen. Das gilt für die FormelDas ganze Land baut die BAMebenso wie für die Fluktuation der Arbeitskräfte, die Frustrationen, die Stilisierung zum Ort des jugendlichen Aufbauwillens und des gemeinsamen Anpackens desSowjet­volkes. All das beschreibt Grützmacher quellennah und er dekonstruiert zugleich die propagandistischen Diskurse. Besonderes Augenmerk widmet er der Rolle von Frauen und Familien auf dem Baumit dem Befund, dass die BAM dank des Männerüberschusses für viele junge Frauen als ein großer Heiratsmarkt attraktiv war.

Die räumliche Dimension bringt der Verfasser im letzten Kapitel ins Spiel, in dem er die Kategorie der frontier auf die BAM überträgt und nach den damit verbundenen Vorstellungen von Sibirien als einem Entwicklungsraum und Ort von utopischen Projektionen fragt. Die BAM erscheint in diesem Kontext in Anlehnung an Paul Josephson als corridor of modernization. In das Bild der frontier ordnet Grützmacher auch das hohe Ausmaß an Gewalt, Alkoholismus und Kriminalität ein. Hier bestätigt er die Befunde von Christopher Ward, stellt sie aber in andere Zusammenhänge. Ähnliches gilt für die Umweltproblematik, die hier systematischer und auf breiterer Literaturgrundlage behandelt wird.

Insgesamt bietet das Buch eine abgerundete Darstellung zu einem wichtigen Thema, überzeugend und gleichermaßen mit kritischer Distanz wie nüchtern abwägender Differenzierung im Urteil. Mit überraschenden Einsichten wartet das Buch allerdings nicht auf, und die neuen Erkenntnisse über das Verhältnis von Stagnation und Dynamik in der Brežnevära, auf die man nach der Lektüre der Einleitung gehofft hat, bleiben doch eher begrenzt. Mit Illustrationen haben Verfasser (oder Verlag?) leider gegeizt. Ein Buch, das explizit auf den spacial turn Bezug nimmt, hätte mehr und besseres Kartenmaterial verdient als eine einzige, viel zu kleine und daher kaum zu entziffernde Karte.

Dietmar Neutatz, Freiburg

Zitierweise: Dietmar Neutatz über: Johannes Grützmacher: Die Baikal-Amur-Magistrale. Vom stalinistischen Lager zum Mobilisierungsprojekt unter Brežnev. München: Oldenbourg, 2012. 503 S., 1 Abb., 1 Kte., Tab. = Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 38. ISBN: 978-3-486-70494-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Neutatz_Gruetzmacher_Die_Baikal-Amur-Magistrale.html (Datum des Seitenbesuchs)

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