Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Dietmar Neutatz

 

Oleg V. Chlevnjuk: Chozjain. Stalin i utverždenie stalinskoj diktatury [Herr im Haus. Stalin und die Durchsetzung der stalinistischen Diktatur]. Moskva: Rosspėn, 2010, 479 S. ISBN 978-5-8243-1314-7.

Inhaltsverzeichnis:
http://bvbr.bib-bvb.de:8991/exlibris/aleph/a20_1/apache_media/8QV7TI21MKCTMAH8N3I8DJSHERRNHM.pdf

 

Oleg Chlevnjuk ist seit Anfang der neunziger Jahre schon mehrfach mit wichtigen Publikationen zu Stalin hervorgetreten. Erst 2009 war seine Monographie „Master of the house. Stalin and his inner circle“ erschienen, die ihrerseits eine Weiterentwicklung seiner in drei unterschiedlichen Varianten 1996 (französisch und russisch) und 1998 (deutsch) publizierten grundlegenden Untersuchung über das Politbüro dargestellt hatte. Das vorliegende Buch mit dem Titel „Chozjain“ (der Hausherr) ist somit der fünfte Anlauf zur selben Thematik, mit beinahe gleichlautendem Titel wie die englische Ausgabe vom Jahr davor, und vom Verfasser selbst als überarbeitete Version dieses Buches deklariert. Die Gliederung ist fast gleich geblieben: chronologisch angeordnete Kapitel, die sich nur im Zuschnitt unterscheiden – in der englischsprachigen Monographie von 2009 waren es sechs, jetzt sind es acht, die sich aber auf denselben Untersuchungszeitraum (19291941) beziehen. Abermals, wie schon in den vorhergehenden Versionen, hat Chlevnjuk neu zugängliche Quellen eingearbeitet. Diesbezüglich ist der Verfasser als Mitarbeiter des Staatsarchivs der Russländischen Föderation unmittelbar am Geschehen und kann zweifellos als einer der besten Kenner der Archivbestände zur obersten sowjetischen Führung in der Stalinzeit gelten.

Das Interesse Chlevnjuks gilt nach wie vor den Mechanismen der Machtausübung, den Entscheidungsprozessen in der obersten Führung der Sowjetunion der dreißiger Jahre, der Funktionsweise und inneren Struktur des Politbüros. Die alles zusammenhaltende Klammer bildet das machttechnische Agieren Stalins. Chlevnjuk arbeitet heraus, wie die Institution Politbüro verändert wurde, welche institutionellen Interessen bei den Entscheidungsprozessen eine Rolle spielten, wie Stalin mit der Institution und ihren Mitgliedern umging und sie sich fortschreitend untertan machte. Auf der Basis seiner umfassenden Quellenkenntnis argumentiert Chlevnjuk aufs Neue gegen die Vorstellung von Fraktionen im Politbüro und gegen die revisionistischen Thesen des Terrors „von unten“. Er belegt überzeugend, wie schon in seinen früheren Publikationen, dass für alle wichtigen politischen Entscheidungen der dreißiger Jahre – sowohl für Verschärfungen als auch für vorübergehende Abmilderungen des Kurses – Stalin selbst verantwortlich war und es keinen Sinn macht, im Politbüro zwischen „Gemäßigten“ und „Radikalen“ zu entscheiden. Insbesondere gilt das für den Großen Terror 1937/38, den Chlevnjuk als von Stalin organisiert und kontrolliert beschreibt.

Die Darstellung setzt 1929 ein, mit der Durchsetzung der „Revolution von oben“ durch die auf Stalin ausgerichteten Gruppe im Politbüro, die siegreich aus den Machtkämpfen der zwanziger Jahre hervorgegangen war. Dabei relativiert Chlevnjuk den traditionell betonten konzeptionellen Gegensatz zwischen der Gruppe um Stalin und den „Rechten“, indem er zeigt, dass sich beide im Hinblick auf das Ziel einer schnellen Industrialisierung der Sowjetunion einig waren und sich die Meinungsverschiedenheiten nur auf die Methode bezogen. Die „Rechten“ als bloße Bewahrer der Neuen Ökonomischen Politik hinzustellen, greift zu kurz. Während der Auseinandersetzung um den Kurs hatte keine der beiden Gruppierungen eine klare Vorstellung von der praktischen Umsetzung der propagierten Politik. Chlevnjuk arbeitet heraus, dass es Stalin weniger um die Inhalte, sondern um die Macht ging. Dass er ab 1929 das Land mit Brachialgewalt in die Kollektivierung der Landwirtschaft und in den völlig übersteigerten ersten Fünfjahresplan hetzte, beruhte nicht auf einem ökonomischen Konzept, sondern in Ermangelung eines solchen auf der Anwendung von Methoden aus dem Bürgerkrieg.

Das Prinzip der Vergrößerung und Festigung der Macht, die Urheberschaft Stalins für wichtige Weichenstellungen und die sich kontinuierlich steigernde Zuspitzung des gesamten politischen Systems zu einer persönlichen Diktatur Stalins ziehen sich als Leitmotiv durch das gesamte Buch. Fast alle politischen Entscheidungen der dreißiger Jahre lassen sich über diese Kategorie erklären. Das macht auch die mehrmaligen Kurswechsel Stalins verständlich. Er ließ sich in Chlevnjuks Deutung weniger von einem Masterplan der Entwicklung des Landes als vielmehr von jeweils situativ bestimmtem Machtkalkül leiten. Stalin war es, der Radikalisierungen, aber auch ihre Abschwächungen veranlasste und steuerte.

Wenn auch die Fäden bei Stalin zusammenliefen, so verfolgt dieses Buch, anders als der Titel vielleicht vermuten ließe, keinen biographischen Ansatz. Es ist vielmehr eine politische Geschichte der Sowjetunion im behandelten Zeitraum, die immer wieder im Politbüro und bei Stalin landet, aber von dort ausgehend die großen ökonomischen und politischen Entwicklungen des Landes nachzeichnet. Stalin steht insofern im Mittelpunkt, als der Leser erfährt, was ihm berichtet wurde, wie er auf diese Berichte reagierte, welche Entscheidungen er traf. Die Persönlichkeit Stalins ist nicht der eigentliche Fokus der Untersuchung, aber sie lässt sich zusammen mit seiner Art, die Welt wahrzunehmen, aus seinen Reaktionen erschließen, die Chlevnjuk minutiös dokumentiert. Bereits 1930 machte er „Feinde“ aus, um ihnen die Schuld an krisenhaften Verläufen der Industrialisierung zuzuweisen, durch ihre Erschießung die Probleme zu ‚lösen‘ und von den wahren Verantwortlichkeiten der obersten Parteiführung abzulenken – ein Verhaltensmuster, das sich durch Stalins gesamtes Agieren zieht. Auch wenn Stalin gegenüber seinen engsten Gefolgsleuten die Bedrohung durch Verschwörungen an die Wand malte, betont Chlevnjuk Indizien, die darauf hindeuten, dass die OGPU die entsprechenden Berichte auf Anordnung Stalins fabrizierte und er diese angeblichen Verschwörungen wider besseres Wissen in zynischer Weise instrumentalisierte, um echte und potentielle Gegner aus dem Weg zu räumen. Fehler einzugestehen kam für Stalin nicht in Frage, und Zweifel an der Richtigkeit seiner Entscheidungen ließ er nicht zu. Zum Durchtauchen von selbst verschuldeten Krisen bediente er sich daher der Gewalt bis hin zur vorsätzlichen Verschärfung der Hungersnot 1932/33, um die Bauern in die Knie zu zwingen. Nur in Momenten, wenn das System zu kollabieren drohte, nahm er gewisse Korrekturen vor – Chlevnjuk charakterisiert diese Taktik als prinzipiell begrenzten „Krisenpragmatismus“ und als „weichen Stalinismus“, der aber nicht ausschloss, dass gleichzeitig auch terroristische Methoden Anwendung fanden. Grundsätzlich basierte Stalins Autorität seit 1930 auch im engeren Kreis auf Gewalt bzw. auf deren Androhung und auf der Angst der anderen, wenngleich Stalin zu Beginn der dreißiger Jahre gegenüber höchsten Funktionären noch nicht so hart durchgriff wie wenige Jahre später, sondern noch auf die Tradition der kollektiven Führung Rücksicht nehmen musste.

Was Chlevnjuk bietet, ist im Wesentlichen eine politische Ereignis- und Institutionengeschichte. Die im Titel und in der Einleitung suggerierte Berücksichtigung der persönlichen  Nahbeziehungen zwischen Stalin und seinen Gefolgsleuten findet nur ansatzweise statt. Eine solche Erweiterung des Zugriffs stärker einzubeziehen, wäre interessant gewesen. Aber auch so hat das Buch viel zu bieten. Aufgrund der immensen Quellenkenntnis des Verfassers und seiner sehr konkreten und zupackenden Darstellungsweise entsteht ein unmittelbares und überzeugendes Bild der wichtigsten Institution und des wichtigsten Akteurs der Sowjetunion der dreißiger Jahre.

Dietmar Neutatz, Freiburg

Zitierweise: Dietmar Neutatz über: Oleg V. Chlevnjuk: Chozjain. Stalin i utverždenie stalinskoj diktatury [Herr im Haus. Stalin und die Durchsetzung der stalinistischen Diktatur]. Moskva: Rosspėn, 2010, 479 S. ISBN 978-5-8243-1314-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Neutatz_Chlevnjuk_Chozjain.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2013 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Dietmar Neutatz. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.