Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Oxana Nagornaja

 

Aleksej A. Tichomirov: „Luščij drug nemeckogo naroda“. Kul’t Stalina v Vostočnoj Germanii (1945–1961). Moskva: Rosspėn, 2014. 310 S., 35 Abb. = Istorija stalinizma. ISBN: 978-5-8243-1861-6.

Seit langer Zeit werden die Forschungsdiskussionen rund um den Stalinismus von folgenden Grundfragen geprägt: Welche Faktoren sicherten die Nachhaltigkeit und Langlebigkeit von Diktaturen? Wer war das stalinistische Subjekt und welche Machtinstrumente erlaubten seine Kreierung? Weniger erforscht blieb bis heute eine transnationale Dimension – der Transfer von diskursiven Konstruktionen und politischen Praktiken innerhalb des nach den Zweiten Weltkrieg entstandenen sowjetischen Imperiums. Das vorliegende Buch von Aleksej Tichomirov zielt auf eine komplexe Analyse der Entstehungsgeschichte, Transformation und Dekonstruktion des Stalin-Kultes in der frühen DDR (1945–1961). Im Sinne der interdisziplinär angelegten „neuen Politikgeschichte“ versucht der Autor, die „symbolische Besetzung“ der sozialistischen Peripherie durch Moskau, die funktionalen Besonderheiten der „Diskurs-Diktatur“ und die (Selbst-)Erschaffung eines „autoritären Subjektes“ zu rekonstruieren.

Um zwei Analyseebenen – die Repräsentationen ‚von oben‘ und ihre Wahrnehmung ‚von unten‘ – zu verbinden, stützt sich Tichomirov auf eine breite Quellenbasis: öffentliche und interne Dokumente der SED und der KPdSU, Berichte von SMAD und Stasi, Memoiren und visuelle Materialien. Eine seiner problematischsten Quellengruppen scheinen die Dokumente der westdeutschen SPD zu sein. Herangezogen mit dem Ziel, „eine bipolare Einschätzung des autoritären Subjektes“ zu vermeiden, werden sie jedoch überwiegend als Beweise für die Misserfolge sowjetischer und ostdeutscher Propaganda, die ablehnende Haltung der Bevölkerung gegenüber Indoktrinierung und für massenhafte Proteststimmen zitiert. Aufgrund des ideologisierten Charakters helfen diese Materialien dem Leser daher keineswegs, neutrale Schlussfolgerungen zu ziehen.

Nach Meinung des Autors spielte die sog. „Patriarchen-Generation“ – KPD-Mitglieder, die lange Zeit in der sowjetischen Emigration gelebt hatten, die Regeln des stalinistischen Diskurses beherrschten und diese nach ihrer Rückkehr auch in der DDR vermittelten – eine entscheidende Rolle bei der Etablierung des Stalin-Kultes in der SBZ/DDR. Nicht zufällig wurde um das Stalin-Bild in der DDR eine komplexe Hierarchie herausgebildet, in der die ostdeutsche Parteiführung auf einer Unterebene eingestuft wurde. Der Autor geht von dem gegenseitigen Nutzen solcher Konstruktionen aus: Im Gegenzug für ihre symbolische Unterwerfung erhielt die DDR-Führung existentielle wirtschaftliche und politische Unterstützung aus Moskau. Dank den „Patriarchen“, die die Funktion eines Transferkanals übernahmen, wurde 1948 die Anbetung Stalins von einer internen Parteiveranstaltung zu einer Säule der politischen Kultur in Ostdeutschland.

Schlüsselthemen der Analyse sind die Entstehung eines symbolischen Raums im spätstalinistischen Ostmitteleuropa, seine Homogenisierung und Hermetisierung sowie die Rolle von staatlichen Gruppen und individuellen Akteuren. Im Ostdeutschland war man bei der Durchsetzung des „Stalin-Kultes“ mit einem tief von der Nazidiktatur verwurzelten Bild des „roten Teufels“ konfrontiert und suchte dieses in eine feste Darstellung von Stalin als „bestem Freund des deutschen Volkes“ umzudeuten. Detailliert analysiert Ticho­mirov die vielfältigen Mechanismen der spätstalinistischen „Diskurs-Diktatur“: die Monopolisierung der Sinnbildung, die harte Kontrolle aller öffentlichen Räume sowie die Bestrafungen aller Verstöße gegen die rhetorischen Grenzen bzw. der Routinisierung der Macht, was zur Stabilisierung und (Selbst-)Reproduktion des autoritären Regimes führte. Eindrückliche Beispiele für den Stalin-Kult in der SBZ/DDR waren die Berliner Stalin-Allee, die Errichtung der Stalinstadt (heute Eisenhüttenstadt) sowie das Jubiläumsfieber zum 70. Geburtstag des Diktators. Bemerkenswert ist, dass auch der Tod Stalins von der DDR-Führung für die Inszenierung eines vermeintlichen gesellschaftlichen Konsenses benutzt wurde.

Jedoch mangelte es in so einem großen und komplizierten Projekt nicht an Störungen. Die kulthafte Verehrung des Diktators führte nicht immer zum erwünschten Erfolg. So vergaßen die sowjetischen Ideologen bei der Benutzung der in der UdSSR so gut funktionierenden visuellen Darstellungen, den Bildern eine deutsche Spezifik zu verleihen. Zudem scheiterte der homogenisierte Diskurs in den Grenzgebieten, wo die Bevölkerung vielfach selbst eine alternative Wirklichkeit erfahren hatte. Der Stalin-Kult verlor häufig gegenüber dem verwurzelten Hitler-Kult. Trotzdem wurde die Entwicklung des Stalin-Kultes für die ostdeutsche Bevölkerung zu einer durchaus rationalen Überlebens­praktik, da er eine Stabilisierung der öffentlichen Ordnung und eine verbesserte Lebensmittelversorgung versprach. In dieser Hinsicht fehlt es der Darstellung allerdings an repräsentativen Beispielen: Beispielsweise die Nutzung des Stalin-Kultes als Instrument des sozialen Mimikry durch ehemalige NSDAP-Funktionäre wird kaum belegt (ohne solche Beispiele entsteht der Eindruck, dass tatsächlich alle Hitler-Anhänger nach Westen geflohen seien).

Eines der Hauptinstrumente bei der Etablierung des Kultes, so der Autor, war die Manipulierung des kollektiven Gefühls der Schuld für die Folgen des vergangenen Krieges, besonders für die wirtschaftlichen und demographischen Verluste der Sowjetunion. Dabei wurde Stalins Siegerbild rasch durch das Bild des barmherzig vergebenen Freundes ersetzt, die deutsche Dankbarkeit zu ihm wurde als einziges Befreiungsmittel von der schweren historischen Last gepriesen. Angesichts der aktuellen Studien zum Thema (vgl. S. Satjukow: Zeitzeugen der ersten Stunde. Erinnerungen an den Nationalsozialismus in der DDR, in: M. Sabrow / N. Frei [Hg.]: Die Geburt der Zeitzeugen nach 1945. Berlin 2012. S. 201–223), scheint jedoch die Schlussfolgerung des Autors zu vereinfachend zu sein und erfordert weitere Problematisierung: In welcher Weise reagierten verschiedene ostdeutsche Generations- und Erlebnisgemeinschaften auf dieses Befreiungsangebot, war die Dynamik dieser Befreiung wirklich so gleichmäßig und unwiderruflich?

Das logische Ende des politischen Kultes markierte seine Dekonstruktion. Tichomirov deutet die voreiligen Schritte Walter Ulbrichts von 1956, Fehler des vormals unfehlbaren sowjetischen Führers öffentlich zu bekennen, als gesetzmäßige Entwicklung der „Diskurs-Diktatur“. Er sieht hierin einen Versuch des ostdeutschen Staatshaupts, seine Machtposition präventiv zu schützen. Die Inkonsequenz der Maßnahmen und das Fehlen von direkten Anweisungen aus Moskau führten jedoch zur Unkontrollierbarkeit der diskursiven Grenzen und damit zu widersprüchlichen Reaktionen der Parteimitglieder: Es kam zu offenen Protesten gegen die Destalinisierung, Angst und Verschweigen, sowie einem wachsenden Misstrauen gegenüber der SED. Diese Veränderungen provozierten einerseits eine Explosion aller von der „Diskurs-Diktatur“ unterdrückten Gegensätze, z.B. den Streit über die Rechtmäßigkeit der Nachkriegsgrenzen. Anderseits begünstigten sie die Versöhnung der Ostdeutschen mit ihrem Schuldgefühl sowie die Ersetzung von entstandenen symbolischen Leerstellen durch andere Bilder – fortan wurden Lenin sowie nationale marxistische und revolutionäre Klassiker kulthaft verehrt. Einen tiefen Schnitt in der Destalinisierung stellte auch der ungarische Aufstand dar, der zu einer Radikalisierung der Protestpraktiken und der Strafpolitik gleichzeitig führte.

Der Autor hat sich eine komplizierte Aufgabe gestellt und kann analytischen und logischen Widersprüchen daher nicht immer entgehen. In der Einführung betont Tichomirov etwa eine tiefe Verwurzelung der Nazipropaganda und des Führerkultes im Nachkriegsdeutschland sowie einen insgesamt schwierigen Übergang von einer Diktatur zu einer anderen (S. 5–7). Später jedoch widerspricht er sich selbst, wenn er behauptet, dass die sozialistische Propaganda in Ostdeutschland „mit einer westlichen Gesellschaft von Individuen und Individualitäten“ konfrontieren war (S. 153). Er beginnt das Buch mit einer Kritik der in der DDR-Forschung dominierenden „Vorstellung des liberalen Subjektes“ als einem „einseitigen“ Versuch, post factum „einen fehlenden breiten Widerstand im Dritten Reich … durch eine kritische kollektive Distanzierung von der SED-Diktatur“ zu kompensieren (S. 25–26). Bei der Analyse von Bevölkerungsreaktionen auf den von oben aufgezwungenen Kult benutzt der Autor jedoch fast ausschließlich die Ansätze und Konzepten eben jener Forschungstradition (so z.B. Eigensinn), anstatt einen eigenen Begriffsapparat oder ein eigenes analytisches Instrumentarium zu entwickeln.

Trotz einiger strittiger Schlussfolgerungen und Thesen stellt diese Studie einen produktiven Beitrag zur aktuellen Diskussionen um eine transnationale Dimension des Stalinismus dar. Eine weitere Forschungsperspektive scheint z.B. in der vom Autor nur flüchtig erwähnten Konkurrenz zwischen den imperialen Peripherien und Moskau in der Frage der richtigen Symbolisierung der spätstalinistischen Kult-Gemeinschaft zu liegen.

Oxana Nagornaja, Tscheljabinsk

Zitierweise: Oxana Nagornaja über: Aleksej A. Tichomirov: „Luščij drug nemeckogo naroda“. Kul’t Stalina v Vostočnoj Germanii (1945-1961). Moskva: Rosspėn, 2014. 310 S., 35 Abb. = Istorija stalinizma. ISBN: 978-5-8243-1861-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Nagornaja_Tichomirov_Luscij_drug_nemeckogo_naroda.html (Datum des Seitenbesuchs)

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