Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Oksana Nagornaja

 

Gedächtnis und Gewalt. Nationale und transnationale Erinnerungsräume im östlichen Europa. Hrsg. von Kerstin Schoor / Stefanie Schüler-Springorum. Göttingen: Wallstein, 2016. 287 S., 9 Abb. ISBN: 978-3-8353-1790-1.

Inhaltsverzeichnis:

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Der Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die 2013 in Frankfurt an der Oder stattfand. Er beinhaltet wissenschaftliche Reflektionen einer (sowohl thematisch als auch methodologisch) ziemlich heterogenen Gruppe von Wissenschaftlern: Historikern, Literaturwissenschaftlern, Kulturologen und Museumspädagogen. Die Autoren thematisieren die Spezifik der Erinnerungsräume zu Gewalt in Osteuropa und die Kompatibilität dort entstandener Deutungsmuster mit der imaginierten europäischen Identität. Alle sind sich einig, dass in den osteuropäischen Ländern die Erinnerung an die kommunistischen Diktaturen neben dem Gedächtnis an den Zweiten Weltkrieg eine integrative Grundlage der postsowjetischen Metaerzählung darstellt. Mit derer Hilfe wird versucht, die internen politischen Konflikte zu lösen, Opfer- und Täterdiskurse auszugleichen, nationale bzw. soziale Gruppen zu versöhnen. Das „Opferbild einer von außen aufgezwungenen Diktatur“ wird ebenso intensiv nach außen transliert, um das gewünschte symbolische Kapital im politischen Raum der EU zu gewinnen. Andererseits hat der rasche Eintritt der osteuropäischen Länder in die Europäische Gemeinschaft die memorialen Diskrepanzen, die die Bildung der ersehnten europäischen Identität verhindern, eher verstärkt als gelöst.

Den Redaktoren des Sammelbandes ist es leider nicht gelungen, die thematisch, methodologisch, konzeptionell heterogenen Beiträge in ein Gleichgewicht zu bringen: Das Fehlen einer thematischen Gliederung, eine unklare Logik der Textfolge lassen beim Leser den Eindruck eines Haufens isolierter Texte entstehen, die teilweise nur einen literarischen Digest sekundärer Werke darstellen, um offensichtlich das deutschsprachige Publikum mit den aktuellen literarischen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen in den osteuropäischen Ländern bekanntzumachen. Auch die Dualität der Begriffe „Gedächtnis“ und „Gewalt“ im Titel des Sammelbandes (wobei auch die Reihenfolge der Begriffe einige Fragen offenlässt) wurde nicht zum Kern des Bandes.

Die Autoren verstehen die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust als Grundsteine des modernen europäischen Erinnerungskonsens und betrachten ihre Spezifik in diversen geographisch-politischen Räumen sowie in verschiedenen medialen Milieus: in der Literatur, in den Museen (Gedenkstätten) und in der öffentlichen Kommunikation einzelner Länder.

Die Viktimisierung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen (Juden, Zivilbevölkerung, Frauen, Kriegsveteranen) in der modernen Literatur wird von einer ganzen Reihe von Autoren thematisiert: Chr. Dietrich, I. von der Luehe, A. Michaelis, S. Burmistr, J. Kalazny. Die Autoren beschreiben detailliert das reiche Spektrum möglicher Umgangsweisen mit der Erinnerung an die Gewalt: von der Auswahl des Themas, wenn es in einem Land verschwiegen wird, bis hin zu Anspielungen an der Pop-Kultur und zur Provokation des Publikums. Dabei wird versucht, die Möglichkeiten und Grenzen der verbalen Sprache bei der Beschreibung einer solchen komplizierten und emotional beladenen Thematik aufzuzeigen.

Forschungsgegenstand von W. Benecke, M. Kucia, W. Schmitz, F. Wet­zel und W. Kaiser sind die Musealisierungspraktiken der Gewalterfahrungen des „extremen Jahrhunderts“. So betrachtet M. Kucia die symbolische Bedeutung von Auschwitz in der polnischen Erinnerungskultur zu unterschiedlichen Zeitpunkten und stellt die Abhängigkeit der Erinnerungskonstrukte von einem dominierenden Deutungsmodus (national-polnisch, jüdisch usw.) fest. Die Aufnahme eines Erinnerungsortes der Massenvernichtung  ins UNESCO-Erbe in einer Reihe mit den größten Werken der menschlichen Schöpfung, was an sich schon ein bemerkenswertes Phänomen ist, hat jedoch weder zur Verwandlung von Auschwitz in ein Holocaustsymbol in Polen noch zur gleichen Ehrung aller Kriegsopfer geführt (im bestehenden Pantheon werden Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene und Homosexuelle marginalisiert). Wegweisend in diesem thematischen Feld ist der Beitrag von W. Schmitz, der die auffallend unterschiedlichen Marketingstrategien für zwei Teile der Vergangenheit von Terezín/Theresienstadt analysiert. Als Ausgangspunkt nimmt der Autor eine kurze historische Übersicht der Entstehung und Transformation der klassischen Barockräume und des beispielhaften Vernichtungslagers. Dies dient ihm als Grundlage einer konzeptionellen Analyse der Musealisierungsprobleme von materiellen Artefakten des Holocaust selbst: die Gefahr eines kompletten Verlustes (im Fall der Nichtrestaurierung) oder des Verlustes der Authentizität (im Fall von Restaurierungsarbeiten); die Notwendigkeit, durch Artefakte eine menschliche Tragödie zu zeigen, ohne die Zuschauer dabei durch den Vintage-Chic der Gegenstände zu bezaubern.

W. Kaiser betont in seinem Beitrag eine schockierende Kluft zwischen den tatsächlichen menschlichen Verlusten und der Zahl von eingerichteten Gedenkstätten im postsowjetischen Raum sowie Unterschiede in der Memorialisierung des Holocaust in den ehemaligen Sowjetrepubliken bis hin zu seinem Verschweigen in der heutigen Ukraine. Andererseits erregen auch das emotionale Aufheizen und eine überflüssige Interaktivität der Ausstellungen in manchen (west‑)europäischen Museen die heftige Kritik des Autors. Eine Lösung, könnte, so Kaiser, die Umsetzung der internationalen Standards der Vergangenheitsverarbeitung in den Gedenkstätten sein.

Die Strategien des von oben vorgeschriebenen Vergessens der Erinnerung an die Gewalt in der heutigen Ukraine sind das Thema von G. Rossolinski-Liebe und F. Bechtel. Rossolinski-Liebe meint, dass das unerklärliche Verschweigen von wissenschaftlich belegten Fakten der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch ukrainische Kollaborateure der Bildung „demokratischer und selbstreflektierender Gemeinschaften“ im Wege stehe. Bechtel seinerseits analysiert komplexe Mechanismen der Ausformung und Unterstützung des „alltäglichen Faschismus“ in den westlichen Gebieten der heutigen Ukraine: die Verneinung der multikulturellen Vergangenheit zugunsten des Mythos von der homogenen ukrainische Nation, die Heroisierung von ukrainischen Nationalisten, die Versuche, durch das Umbenennen von Militärabteilungen ex post-facto deren Teilnahme an antijüdischen Pogromen zu vertuschen. Der Autor meint, dass diese Politik der postsowjetischen Regierungen der Ukraine in entscheidendem Maße zur Spaltung des Landes geführt hat, da im östlichen Teil des Landes ein anderer Erinnerungsmodus herrsche. Bechtel ruft daher die europäische Öffentlichkeit auf zu verstehen, dass die Entwicklung solcher kommemorativer Praktiken durch die ukrainische Regierung nicht nur die „imperialistische Politik von Putin“ im Osten des Landes begünstigt, sondern auch die Durchsetzung europäischer kommemorativer Werte verhindert. Dass die heutige ukrainische Regierung diese akzeptiert, bezeichnet Bechtel als eine verbindliche „Eintrittskarte für Europa“.

Die Autoren und Redakteure haben zwar die Zerstreutheit der nationalen Erinnerungsräume der Gewalt in den Ländern Osteuropas anschaulich beschrieben, sie haben jedoch die im Titel angedeutete transnationale Dimension dieser Räume praktisch außer Acht gelassen. An dieser Stelle sollte die Notwendigkeit der Präzisierung des terminologischen Apparats und des methodologischen Instrumentariums noch einmal betont werden: Wenn die transnationale Dimension der Erinnerung als Forschungsgegenstand in mehreren Fallstudien und umfassenden Übersichten schon reichlich diskutiert worden ist, so sollte die Anwendung des transnationalen Ansatzes im Bezug auf die Gewalt zusätzlich erklärt werden.

Oksana Nagornaja, Čeljabinsk

Zitierweise: Oksana Nagornaja über: Gedächtnis und Gewalt. Nationale und transnationale Erinnerungsräume im östlichen Europa. Hrsg. von Kerstin Schoor und Stefanie Schüler-Springorum. Göttingen: Wallstein, 2016. 287 S., 9 Abb. ISBN: 978-3-8353-1790-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Nagornaja_Schoor_Gedaechtnis_und_Gewalt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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