Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Oksana Nagornaja / Ol'ga Nikonova

 

Umweltgeschichte(n). Ostmitteleuropa von der Industrialisierung bis zum Postsozialismus. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 4. bis 7. November 2010. Hrsg. von Horst Förster / Julia Herzberg / Martin Zückert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. VI, 345 S., Abb., Tab., Graph. = Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 33. ISBN: 978-3-525-37303-3.

Inhaltsverzeichnis:

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Die Umweltgeschichte als eine der neueren wissenschaftlichen Richtungen stellt heute eine heterogene Forschungslandschaft dar, in der einerseits aktive konzeptionelle Diskussionen und Institutionalisierungsprozesse stattfinden, und andererseits feste Abgrenzungen gegenüber anderen Feldern der Historiographie sowie eine unumstrittene Terminologie und ein ‚justiertes‘ methodologisches Instrumentarium fehlen. Das vorhandene work-in-progress wird im vorliegenden Tagungsband veranschaulicht, der auf einer Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen des Versuchs basiert, Osteuropa als eine besondere umwelthistorische Region zu konstruieren. Der Band umfasst folgende Themenblöcke: Infrastrukturen und Umwelt, Landschaftswandel, Landschaftswahrnehmung, die Folgen von Kollektivierung und Agrarmodernisierung sowie Naturschutz und Umweltbewegung.

Julia Herzberg schlägt in ihrem einleitenden Artikel Ostmitteleuropa im Blick. Umweltgeschichte zwischen Global- und Regionalgeschichte vor, auf die verbreitete mechanistische Übertragung der Konzeptionen politischer Geschichte auf die Umweltdimension zu verzichten, was auch in der Umweltgeschichte die Länder des Realsozialismus als Opfer eines fremden repressiven Regime erscheinen lässt. Die Autorin betont die Ähnlichkeiten im Umgang mit den Naturressourcen in den Ländern des sozialistischen Lagers und in den westlichen Ländern, sie besteht dabei mit Recht auf neuen Fragestellungen, auf einer Distanzierung von der staatlichen und anthropozentrischen Perspektive und sie plädiert auch für größere Aufmerksamkeit für die regionale Dimension.

Den institutionellen Themenabschnitt eröffnet der Artikel von Martin Zueckert Infrastrukturen und Umwelt in Ostmitteleuropa – Überlegungen zu einem wenig beachteten Forschungsfeld, in dem der Autor auf das übermäßige Interesse der Forschung für technische Großprojekte hinweist und versucht, die Aufmerksamkeit auf die alltäglichen Infrastrukturen zu lenken, was eine Rekonstruktion der Interaktion zwischen Mensch und Natur in der damaligen Epoche ermöglichen soll. An den Beispielen Polens und der Tschechoslowakei wird gezeigt, dass die Bevölkerung den Infrastrukturaufbau, der als Element staatlicher Herrschaft genutzt wurde, nicht immer passiv wahrgenommen hat: ziemlich oft hat sie von oben verordneten Innovationen entweder abgelehnt oder umgedeutet. Arnošt Štanzel stützt sich in seinem Artikel Staudammbauten in den slowakischen Karpaten 19481975. Mit Wasserkraft zum Neuen Menschen auf eine relativ enge Quellenbasis (hauptsächlich Material der Periodika) und kommt zu dem erwartbaren Schluss, dass das Bild von der beherrschten Natur staatlich instrumentalisiert wurde und Machtpositionen stärken sollten, und dass und dass die der Umwandlung der Natur folgenden zunehmenden Umweltprobleme systematisch verschwiegen wurde.

Der nächste Themenblock umfasst drei Fallstudien. Ivan Bičík und Lucie Kupková (Long-Term Land-Use Changes: Case Study Czechia 1845–2000) untermauern auf der Grundlage von Katasterplänen in Tschechien die in der Historiographie verbreitete These von der Abhängigkeit der Landschaftstransformationen von den Wellen der Modernisierungsprozesse: Das langfristige Wachstum der Agrarflächen in Tschechien endete am Ausgang des 19. Jahrhunderts; danach setzte ein konstanter Rückgang zugunsten von Wald- und urbanen Flächen ein. Horst Förster (Raumbewertung und Kulturlandschaftswandel. Das Beispiel Nordböhmen) fragt nach langfristigen Trends und Diskontinuitäten in der Entwicklung einer Kulturlandschaft, deren Spezifik durch die Konzentration von Braunkohleabbau geprägt war. Die eifrige Suche nach dem Einfluss politischer, wirtschaftlicher und sozialer Faktoren auf den Zustand der Umwelt lenkt den Autor eher in Richtung klassischer sozioökonomischer Geschichte, wobei die Analyse die umwelthistorische Spezifik verliert. Diese Bemerkung kann gleichermaßen für den Text von Eva Chodějovská Landschaftsveränderungen des Prager Stadtrands während des Sozialismus und in post-sozialistischer Zeit gelten, der eine eher architekturhistorische Studie darstellt. Die reichlich neue Fakten liefernde Beschreibung des Suburbanisationsphänomens am Beispiel der Peripherie von Prag in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und am Anfang des 21. Jahrhunderts lässt eine Vielzahl von Fragen offen, die mit den Interpretationen der Wahl der beschriebenen Erschließungsstrategien sowie mit dem Einfluss des „Siedlungsbreis“ auf das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt u. a. zusammenhängen.

Der dritte Themenabschnitt hat eher eine kulturhistorische Ausrichtung und ist dem Problem der Wirkung von Stereotypen und kulturellen Konzepten auf die Interaktionen im Dreieck Mensch – Kultur – Natur gewidmet. Der Beitrag von Dora Drexler The Meanings of Landscape. A Comparison of the Cultural History of Landscape in England, France, Germany and Hungary zielt auf den Vergleich von Landschaftskonzepten in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Ungarn im 17.–19. Jahrhundert. Die Autorin stellt überzeugend die „Zeitverschiebungen“ bei der Entstehung bestimmter Landschaftskonzepte in verschiedenen Ländern, einen entscheidenden Einfluss des Kulturtransfers sowie nationale Besonderheiten bei der Interpretation dieser oder jener Modelle fest. Der Artikel von Eva-Maria Stolberg Oder und Weichsel – Umwelt und Fremdsein als Konstrukt deutsch-polnischer Nationsnarrativa ist reich an interessanten kulturhistorischen Überlegungen, die die Instrumentalisierung der Naturphänomene in der imperialistischen, ethnischen, nationalen und sozialistischen Ideologie charakterisieren. Die Autorin zeigt, wie Flüsse in „Grenzen“ umgewandelt wurden, die „eigene“ und „fremde“ ethnischen Regionen markierten und zu literarischen Figuren wurden, welche in die panslawistischen Konzeptionen oder die „Germanisierungspläne“ für die östlichen Territorien integriert wurden. Der Text von Erzsébet Magyar Urban Environment of Vienna, Budapest and Prague in the Nineteenth Century. Public Parks in the Urban Structure and Their Perception: Similarities and Differences. A Comparative Overview beschäftigt sich mit den öffentlichen Parks in drei europäischen Hauptstädten, mit ihrer Bestimmung und ihren Funktionen, mit den sozialen Konzepten von Publikum und Eigentum wie auch mit dem Einfluss der Parks auf die Entwicklung des städtischen Raums und auf die Bildung der Nationalidee. Dabei bleiben außerhalb des Forschungsrahmens die Themen, die unmittelbar mit der Naturkomponente der öffentlichen Parks verbunden sind, zum Beispiel Art und Herkunft von Kulturpflanzen sowie die Methoden der Organisation der ‚Kommunikation‘ des Menschen mit der Natur in einem Stadtpark oder die Integration von Elementen der Fauna in den Parkraum.

Der Artikel von Nicholas Orsillo The Socioeconomic Factors Behind Agricultural Land Drainages Environmental Impact in Communist-Era Czechia analysiert im Detail Meliorationspläne für die landwirtschaftlichen Flächen in der Tschechoslowakei während des Staatssozialismus und die Ursachen des Misserfolges,Produktivität mittels Melioration zu steigern. Trotz des allgemein aufschlussreichen Inhalts lässt sich an der Zugehörigkeit dieses Artikels zur Umweltgeschichte zweifeln. Es geht eher um klassische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die sich in einem ‚ökologischen‘ Sujet widerspiegelt. Michael Heinz beschäftigt sich in seinem Artikel Die Konzentration und Spezialisierung des Agrarwesens in der DDR sowie ihre Auswirkungen auf Land und Umwelt mit dem Einfluss der konzentrierten ostdeutschen Agrarproduktion auf die Umwelt. Die Widersprüche ostdeutscher landwirtschaftlicher Programme äußerten sich, seiner Meinung nach, in einem inkonsequenten Übergang von der Konzentration zur Dekonzentration, von der Zusammenlegung zur Dezentralisierung unter den Bedingungen eines chronischen finanziellen Mangels. Die Verlierer der Agrarmodernisierung blieben die Frauen (ebenso wie in der BRD und Frankreich) wie auch die Umwelt, die unter der Bodenerosion, der Transformation von Flora und Fauna und den Verschmutzungen natürlicher und anorganischer Herkunft zu leiden hatte.

Den Beitrag von Frank Uekoetter Environmentalism, Eastern European Style. Some Exploratory Remarks könnte man als richtungweisend für den weiteren Themenblock bezeichnen: Der Autor stellt nicht nur die Frage nach dem Ausarbeitungsniveau der umwelthistorischen Terminologie, sondern er spricht auch deutlich das Problem der Spezifik der Umweltpolitik in Osteuropa an. Diese zeichnete sich aus seiner Sicht durch die Bürokratisierung von Prozessen, durch marginale Aufmerksamkeit im allgemeinen politischen Leben und durch Diskrepanzen zwischen dem Deklarierten und den realen Errungenschaften aus. Jedoch betont Uekoetter die Existenz des Umweltschutzes auch jenseits des Eisernen Vorhangs. Dessen Spezifik gehöre zu den Schlüsselfragen für das Verständnis der Umweltgeschichte dieser Region. Die übrigen Autoren dieses Themenabschnitts geben keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Martin Pelc rekonstruiert in seinem Artikel die ökologische Vorgeschichte der sozialistischen Tschechoslowakei am Beispiel der touristischen Verbände der Zwischenkriegszeit (Das landschaftlich Gegebene, das Bestehende erhalten, es nur verschönern … Das touristische Projekt und die Landschaft in den böhmischen Ländern vor 1945). Der Autor interpretiert die massenhafte Begeisterung für den Landschaftstourismus als einen selbstregulativen Mechanismus der sich industrialisierenden Gesellschaft. Die Konkurrenz der Verbände um das Recht, touristische Objekte zu schaffen, in denen das Umweltmotiv als Instrument der Kritik am Konkurrenten verwendet wurde, brachte dabei auch den internationalen tschechisch-deutschen Konflikt zum Ausdruck. Jana Piňosova (Die Naturschutzbewegung in der Tschechoslowakei 19181938) betrachtet die Umweltschutzbewegung in der Tschechoslowakei unter dem traditionellen Blickwinkel der Politik- und Sozialgeschichte. Die Autorin beschreibt die fortschreitende Politisierung solcher Bewegungen, die gleichzeitig mit der Entstehung und Entwicklung der ersten Republik in der Tschechoslowakei erfolgte, sowie ihre Institutionalisierung in den wissenschaftlichen Kreisen. Trotz explosiver Entwicklung und internationaler Kontakte kam keine rechtliche Gestaltung der Bewegung in der Tschechoslowakei zustande. Viele Projekte wurden nicht realisiert, und die Idee des Schutzes der Geschichts- und Naturdenkmäler blieb im Grunde genommen ein Terrain für das Bildungsbürgertum. Bianca Hoenig interpretiert in ihrem Forschungsprojekt Durch den Menschen für den Menschen schützen. Naturschutz und Tourismus im Tatra-Nationalpark nach 1949 in transfergeschichtlicher Perspektive am Beispiel der Tatra die Widersprüche sozialistischer Ansätze des Naturdenkmalschutzes als eine Dilemma zwischen dem Schönen und dem Nützlichen. Sozialistische Spezifik tschechoslowakischer Politik hinsichtlich der Tatra bestand aus der Sicht der Autorin in einem Versuch die Idee amerikanischer Nationalparks mit sowjetischem Umgang mit der Natur und regionalhistorischen Entwicklungstendenzen zu vereinbaren. Demzufolge entstand eine Konzeption des ‚sanften Tourismus‘, in dessen Rahmen ein Idealbild des bewussten Touristen, der selbst aktiv am Naturschutz teilnimmt, geschaffen wurde; allerdings ist es nie Realität geworden. Der Artikel von Hermann Behrens Die Umweltbewegung in der DDR. Begriffsbestimmung und Versuch einer umwelthistorischen Einordnung beschäftigt sich mit der Suche nach den Wurzeln der Umweltbewegung in der DDR und mit der Analyse ihrer Tätigkeit in zwei Hauptformen: offiziell legitimierten lokalen und regionalen Gruppen der Naturfreunde sowie den späteren Bürgerinitiativen, die die Folgen der zweiten Phase der industriellen Revolution kritisch reflektierten. Der Schluss, zu dem der Autor kommt, ist nicht überraschend: Solange es um praktische Maßnahmen des Naturschutzes ging, duldete der Staat die unabhängigen Gruppen und kooperierte sogar mit ihnen. Die wachsende Politisierung kirchlicher Umweltkreise in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre dagegen sowie die Diskussionen über Fehler und Perspektiven haben keine adäquaten Ausdrucksmöglichkeit gefunden und ihre Entwicklung wurde durch die rasche Wiedervereinigung unterbrochen.

Die breite Vielfalt moderner Forschungsproblematik in der Umweltgeschichte und der Charakter eines Tagungsbandes erklärt die freie Wahl der Themenabschnitte sowie die Diskrepanz zwischen der Konzeption, die sich auf die Feststellung des Gemeinsamen und Besonderen in westlicher und osteuropäischer Umweltgeschichte orientiert, und dem Inhalt einzelner Beiträge. Obwohl die meisten Autoren die Gemeinsamkeit der Prinzipien der Interaktionen zwischen Mensch und Natur auf der Alltags­ebene in den meisten Regionen Europas sowie eine gewisse Unabhängigkeit moderner Konzeptionen der Naturbeherrschung von der Ideologie betonen, bildeten diese Schlussfolgerungen keine Leitlinien des ganzen Sammelbandes. Die Umweltkooperation zwischen den Staaten im sozialistischen Lager bleibt jenseits der Analyse. Fragen der industriellen Umweltverschmutzung sind nicht klar artikuliert, und die Umweltlobbyisten werden als ein nicht differenzierbarer Monolith betrachtet. Andererseits kann die ‚Lücke‘ zwischen der konzeptuellen Einstellung der Autoren des Sammelbandes und seinem Inhalt als eine Einladung an die Leser gesehen werden, selbst nachzudenken, und an die Kollegen, weiter zu forschen.

Oksana Nagornaja, Čeljabinsk / Olga Nikonova, Čeljabinsk

Zitierweise: Oksana Nagornaja / Ol'ga Nikonova über: Umweltgeschichte(n). Ostmitteleuropa von der Industrialisierung bis zum Postsozialismus. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 4. bis 7. November 2010. Hrsg. von Horst Förster / Julia Herzberg / Martin Zückert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013. VI, 345 S., Abb., Tab., Graph. = Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 33. ISBN: 978-3-525-37303-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Nagornaja_Foerster_Umweltgeschichten.html (Datum des Seitenbesuchs)

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