Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christian Myschor

 

Robert L. Nelson (ed.): Germans, Poland, und Colonial Expansion to the East. 1850 Through the Present. New York: Palgrave Macmillian, 2009. 201 S. = Studies in European Culture and History. ISBN: 978-0-230-61268-6.

Die interdisziplinär betriebene Kolonialgeschichte gehört zweifelsohne zu den derzeit prosperierenden Zweigen der historischen Wissenschaften, bietet sie doch die Möglichkeit, außer der Beschreibung der rein ‚kolonialen‘ Wirklichkeit anhand des Studiums der dabei angewandten Strategien und sie begleitenden Diskurse auch interessante Aspekte über die kolonisierenden Gesellschaften herauszuarbeiten.

Unübersehbar ist ebenfalls der Trend, deutsche Geschichte im Osten Europas unter diesen Prämissen zu behandeln. Im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes steht somit die Frage nach dem „imperialen“ Verhältnis Deutschlands zum osteuropäischen Raum und Polen im Besonderen. Die hier versammelten sieben Beiträge beleuchten diese Problematik aus unterschiedlichen Blickwinkeln, von der Literaturwissenschaft bis zur wirtschaftsgeschichtlichen Perspektive.

Den Anfang macht die Literaturwissenschaftlerin Kristin Kopp mit einer Analyse von Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“. Die Autorin sieht dessen primäre Funktion in einer kolonialen diskursiven Formation, welche ihrerseits von kulturellem Diffusionismus organisiert wird. Freytags „Polen“ steht dabei für kulturell leeren Raum, der von der Barbarei erfüllt und auf deutschen Einfluss angewiesen ist, da selbst seine Eliten allenfalls in der Lage sind, ihre westlichen Standesgenossen nachzuahmen. Insofern wird die Inbesitznahme des Landes zu einer Wohltat, unter kulturhistorischen Gesichtspunkten sogar zum ethischen Imperativ. Parallelen zum Wilden Westen sind dabei unübersehbar.

Die Autorin ist bemüht, das Bild Polens in Gustav Freytags Roman wiederzugeben, beschränkt sich jedoch nur auf wenige Fragmente der „deutschen Kulturmission“ und blendet wichtige Elemente des Ostens, wie das Judentum, einfach aus. Es fehlt ebenfalls die literatur- und sozialgeschichtliche Kontextualisierung. Die Bibliographie weist etliche Mängel auf, und die Autorin leistet sich außerdem einige faktographische Fehler.

Im zweiten Beitrag widmet der Wirtschaftshistoriker Scott M. Eddie seine Aufmerksamkeit dem Wirken und Scheitern der Königlich Preußischen Ansiedlungskommission, welche durch Aufkauf polnischer Güter und Anwerbung von Deutschen Siedlern den „Bodenkampf“ gegen die vordringenden Polen gewinnen sollte. Viel Neues bietet der Beitrag nicht, fasst er doch im Großen und Ganzen einige Ergebnisse von Scotts 2002 und 2008 erschienenen Veröffentlichungen zusammen (zusammen mit Christa Kouschil: The Ethnopolitics of Land Ownership in Prussian Poland, 18861918: The Land Purchases of the Ansiedlungskommission. Trondheim 2002; Landownership in Eastern Germany before the Great War: A Quantitative Analysis Oxford 2008). Schon ältere Literatur hatte als Gründe für das Scheitern der Kommission die Größenordnung des Vorhabens, die wirtschaftliche Lage und die Gegenwehr der Polen genannt. Interessant ist jedoch die These Scotts, dass die Konkurrenz zwischen der preußischen Bürokratie und den polnischen Parzellationsbanken zu keinem signifikanten Anstieg von Landpreisen in den betroffenen Provinzen Posen und Westpreußen geführt hat. Obwohl in diesem Beitrag von nebensächlicher Bedeutung, erweckt der Umgang mit einer Sorte Quellenmaterial einige Bedenken. Eddie verwendet die Ergebnisse der 1890er Volkszählung, ohne auf die mit ihr verbundene Problematik hinzuweisen. Gleichzeitig nimmt er an, dass das Kriterium der Muttersprache in allen vier von ihm angeführten Provinzen gleichermaßen Auskunft über die nationale Identität der Befragten gab.

Im dritten Beitrag des Bandes bespricht Robert L. Nelson die vom Archiv für innere Kolonisation und der Gesellschaft zur Förderung der inneren Kolonisation geführte Diskussion um die Kolonialisierung des Ostens. Der Autor zeigt dabei, dass die Debatte sich im Wesentlichen um soziale, militärische und „sozialhygienische“ Fragen drehte. Die Besiedlung des Ostens des Reiches durch deutsche Bauern sollte der Stärkung von Staat und Nation dienen. Der Bevölkerungsüberschuss sollte nicht nach Übersee abgegeben werden, sondern sich fernab der Großstädte ansiedeln und wehrhaften Nachwuchs hervorbringen, welcher die Polen und Juden verdrängen und die Grenze sichern sollte. Der Krieg bot dabei die Möglichkeit, die Pläne des kolonialen Thinktanks noch hochfliegender zu machen. Zunächst war es der Bethmann-Hollwegsche Grenzstreifen; später wurde mit Ludendorff die Möglichkeit einer massenhaften Ansiedlung in Ober Ost ventiliert. Der sich geographisch immer weiter ausdehnende „Osten“ wurde zum künftigen „Lebensraum“ auserkoren. Diese Pläne wurden nach dem Kriegsende vorläufig ad acta gelegt, bis nationalsozialistische Publizisten anfingen, dieses Themenfeld zunehmend unter völkischen Gesichtspunkten zu besetzen, und die letzten ‚moderaten‘ wie Max Sering endgültig ver­drängten. Leider weist auch Nelsons Beitrag einige Mängel auf. Der Autor beschränkt sich bisweilen auf die Wiedergabe der Quellen, ohne sie vor dem historischen Hintergrund zu interpretieren. Lücken in der Bibliographie erklären, wieso beispielsweise die sozialpolitische Ebene des Unternehmens, der Versuch, Teile der Bevölkerung gegen die Sozialdemokratie zu immunisieren, oder die Skepsis des in ihrer sozialen und politischen Stellung bedrohten Großgrundbesitzes zu kurz kommen. Fraglich bleibt auch, wie man über die preußische Ostkolonisation schreiben kann, ohne den Begriff Ostflucht zu verwenden – diesen sucht man übrigens auch im Stichwortregister des Bandes vergebens.

Den vierten Beitrag liefert Eduard Mühle über die Rolle, welche die Ostforschung im Nationalsozialismus gespielt. Den Ausgangspunkt bilden dabei die Überlegungen von Ian Kershaw und Hans Mommsen, nach denen die Macht der nationalsozialistischen Diktatur sich nicht zuletzt aus der Konvergenz mit den Ideenwelten verschiedener gesellschaftlicher Milieus speiste. Den Hauptberührungspunkt mit den Nationalsozialisten bildete das Verlangen nach einer Neuordnung Europas in Ablehnung der Versailler Ordnung. Hermann Aubin formulierte die Vision eines Ostens, der sich in den genuin deutschen Wirkungsbereich, das dem „segensreichen und befruchteten deutschen Blutstransfer“ ausgesetzte Zwischeneuropa und die „unfertigen“ und „fremden“ Nationen gliederte. Der Osten war dabei eine Zone des Aufruhrs, die nur unter deutscher Herrschaft zur Ruhe kommen konnte. Obwohl die Ostforschung keiner dezidiert rassistischen Doktrin folgte, war sie den Nationalsozialisten willkommener Ratgeber in Sachen Neuorganisation der eroberten Gebiete und befürwortete auf ‚wissenschaftlicher‘ Basis auch Massenumsiedlungen, wodurch – so Mühles Befund – die Praxis die theoretischen Unterschiede in den Hintergrund treten ließ.

Der Artikel von Vejas Gabriel Liulevicius behandelt die Begrifflichkeit der Sprache, die mit der deutschen Besetzung vorwiegend in Litauen während der beiden Weltkriege einhherging. Der Autor sieht dabei eine starke Präsenz von kolonialen Motiven. Trotz erkennbarer Kontinuitäten warnt er jedoch davor, die Sprache von 19141918 mit der von 19391945 gleich zu setzen. In Anschluss an Victor Klemperer demonstriert Liulevicius, dass die Nazis (übrigens anders als die Bolschewiki) kaum sprachliche Neuschöpfungen hervorbrachten, sondern eher altbekannte Begriffe mit ihrer Ideologie aufluden und zugleich manchmal ins Gegenteil verkehrten.

David Blackbourne erklärt im sechsten Beitrag des Bandes (der weitgehend auf dem 5. Kapitel seines Buches „The Conquest of Nature“ basiert) den Zusammenhang zwischen menschlichen Eingriffen in die Natur und menschlicher Herrschaftsausübung. Am Beispiel der Pripjatʼ-Sümpfe demonstriert der Autor das, wie er meint, tief in der Nazi-Ideologie verwurzelte Spannungsverhältnis zwischen technokratisch-utopischem Umgestaltungswillen und dem Wunsch, Natur zu bewahren. Die Eroberung des Ostens öffnete dabei die Möglichkeit, zumindest planerisch auf beiden Gebieten einzugreifen. An dieser Stelle greift Blackbourne die Frontier-These auf und stellt fest, dass trotz aller Unterschiede zu Nordamerika der Pionier-Mythos von der deutschen Besiedlung im Mittelalter ab den letzten Jahrzehnten des 19. Jhs. immer stärker als Bezugspunkt für die „neue“ Kolonisation dienen sollte. Andere Ethnien sollten gleich den Indianern gezwungen werden, das Feld zu räumen.

Im letzten Artikel fragt Oliver Schmidtke, inwiefern die Nachkriegszeit und die Integration Polens in die EU zu einer Änderung der Einstellung Deutschlands gegenüber dem Nachbarn im Osten geführt hat. Das Ergebnis ist ernüchternd. Schmidtke stellt fest, dass der tiefen Wendung, welche der Elitendiskurs vollzogen habe, nur geringfügige Korrekturen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene folgten. Polen wird somit weiterhin unterschwellig als das „gefährliche Andere“ wahrgenommen, als Ort von Instabilität, als Risikofaktor für die wirtschaftliche Stabilität Deutschlands, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, sowie als Hort der Kriminalität.

Die deutsche Ostexpansion unter „kolonialen“ Gesichtspunkten zu behandeln ist sicherlich ein sehr nutzbringendes Unterfangen. Leider hat es ein Teil der Autoren nicht geschafft, den hohen Ansprüchen gerecht zu werden, an denen ‚Pionierunternehmen‘ gemessen werden. Zu kritisieren wäre zunächst die Leichtigkeit, mit der einige Verfasser Theoreme aus den Colonial Studies, die doch zumeist dem Studium der Konfrontation von europäischen und nicht-europäischen Völkern entstammen, auf den Grund des alten Kontinents verpflanzen. Auf die Problematik einer allzu allgemeinen Anwendung des Oberbegriffs „Kolonialismus“ wies bereits Sir Moses Finley hin. Kritikwürdig ist ebenfalls die mangelnde geographische Abgrenzung und fehlende innere Differenzierung des Untersuchungsraums. In den Einzeluntersuchungen fällt auf, dass ein Teil der Autoren unter den Begriff des „Ostens“ ein äußerst heterogenes Gebilde subsumieren. Man vermisst ein Einführungskapitel, welches sich kritisch mit den (Un-)Möglichkeiten, dem Nutzen und den Problemen einer ‚kolonialen‘ Geschichtsschreibung Osteuropas auseinandersetzt. Bedenken wirft ebenfalls die etwas willkürlich anmutende Auswahl der Beiträge auf. Außer einem chronologischen Grundgerüst ist leider kein Gesamtkonzept erkennbar. Thematisiert werden vorwiegend Konfliktsituationen; freiwillige oder erzwungene Koexistenz, Assimilations- und Akkulturationsvorgänge, die auch Produkte kolonialer Vorgänge waren, treten nicht hervor. Auch der wissenschaftliche Mehrwert präsentiert sich etwas bescheiden. Am besten fallen diejenigen Beiträge aus, die auf früheren Forschungen der Autoren beruhen und deren Ergebnisse in komprimierter und pointierter Form wiedergeben. Bei dem Rest ist unübersehbar, dass manche Autoren sich auf fremdem Terrain bewegen. Die Gegenüberstellung mancher Beitragstitel mit dem Inhalt lässt die Vermutung aufkommen, dass hier etwas zu viel Tribut an aktuelle Trends und wissenschaftliches PR gezollt wurde als nötig. Somit bleibt der Band ein interessanter, jedoch nicht ganz gelungener Versuch, die Beziehungen zwischen Deutschland und dem osteuropäischen Raum aus einer kolonialen Perspektive heraus zu beschreiben.

Christian Myschor, Posen

Zitierweise: Christian Myschor über: Robert L. Nelson (ed.): Germans, Poland, und Colonial Expansion to the East. 1850 Through the Present. New York: Palgrave Macmillian, 2009. 201 S. = Studies in European Culture and History. ISBN: 978-0-230-61268-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Myschor_Nelson_Germans.html (Datum des Seitenbesuchs)

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