Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Martin Munke

 

Das Münchener Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive. Hrsg. von Jürgen Zarusky / Martin Zückert. München: Oldenbourg, 2013. 472 S. ISBN: 978-3-486-70417-4.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1018012842/04

 

Das Münchener Abkommen von 1938 hat seinen festen Platz in der Geschichte der Expansionspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands. In ihm wurde die Abtretung der überwiegend von Deutschen bewohnten Grenzgebiete der Tschechoslowakischen Republik, die damit etwa ein Fünftel ihres Territoriums verlor, geregelt – und das ohne Anwesenheit von Vertretern dieses Staates. Das Zustandekommen und die Folgen des Vertrags wurden zum Gegenstand von heftigen Kontroversen. In der Tschechoslowakei galt er als „Münchener Verrat“ der Westmächte Großbritannien und Frankreich. Bis heute wird der mit ihm verbundene Begriff der „Appeasement-Politik“ als Argument in politischen Debatten genutzt, wenn ein militärisches Eingreifen gegen Diktatoren und Autokraten jeder Couleur gefordert wird. Anlässlich des 70. Jahrestages des Abkommens haben das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) und das Münchener Collegium Carolinum im September 2008 eine Konferenz in der bayerischen Landeshauptstadt durchgeführt, um den Forschungsstand zu bündeln und zu resümieren. (Vgl. den Tagungsbericht von Jana Osterkamp, in: H-Soz-u-Kult vom 28. November 2008, online unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2376 [letzter Zugriff: 19. Dezember 2013].) Fünf Jahre später erscheint nun der zugehörige, international bestückte Sammelband.

Im Zentrum der Betrachtung stehen neben den deutsch-tschechischen vor allem die europäischen Rahmenbedingungen und Auswirkungen des Abkommens. Einleitend weisen die Herausgeber Jürgen Zarusky (Mitarbeiter am IfZ und stellvertretender Chefredakteur der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte) und Martin Zückert (Geschäftsführer des Collegium Carolinum) darauf hin, wie sich im Umfeld des Abkommens „die expansionistischen Tendenzen des Reiches mit revisionistischen Interessen anderer Staaten verband[en]“ (S. 2) – auch Polen und Ungarn machten in den letzten Monaten des Jahres 1938 territoriale Ansprüche geltend. „München“ steht dabei als Chiffre für eine Abkehr vom 1918 in den Pariser Vorortverträgen entwickelten Minderheitensystem, mithin für das vorerst „endgültige Scheitern einer Politik der kollektiven Sicherheit“ (ebd.). Tagung und Sammelband widmen sich daher neben dem politisch-diplomatischen Zustandekommen des Vertrags besonders den „Konsequenzen, die das Abkommen für die Staaten und Gesellschaften Ostmitteleuropas hatte“ (S. 5). Dies geschieht in fünf Abschnitten, die im Folgenden mit Konzentration auf die ost- und ostmitteleuropäischen Bezüge kurz skizziert werden sollen.

Das erste Kapitel beleuchtet in fünf Beiträgen die außenpolitischen Rahmenbedingungen. Der zwischenzeitlich verstorbene Peter Krüger (langjähriger Inhaber der Professur für Neuere Geschichte an der Universität Marburg) untersucht die ostmitteleuropäischen Bündnissysteme und Konfliktfelder nach dem Ersten Weltkrieg. Zu letzteren gehörte etwa das ungeklärte Verhältnis der übrigen europäischen Staaten zu Sowjetrussland und später der Sowjetunion, vor dessen Hintergrund mit der polnisch-sowjetischen Auseinandersetzung in kürzester Zeit ein weiterer Krieg ausbrach. Die Minderheitenproblematik erwies sich in der ganzen Großregion als virulent, u. a. durch die Zerschlagung der Habsburgermonarchie und das Entstehen zahlreicher neuer Staaten mit vielen einander widersprechenden territorialen Ansprüchen. Christoph Boyer (Professor für Europäische Zeitgeschichte an der Universität Salzburg) zeichnet die deutsch-ostmitteleuropäischen Wirtschaftsbeziehungen nach, die zwischen „Kooperation und Beherrschung“ (S. 69) changierten. Im Verhältnis zur Tschechoslowakei wurde dabei von Seiten des Reiches wenig Rücksicht auf die Interessen der sudetendeutschen (Leicht-)Industrie genommen, was diese aufgrund ihrer Exportorientierung stark schädigte.

Der dreigegliederte zweite Abschnitt untersucht in neun Aufsätzen die Septemberkrise des Jahres 1938 mit ihren Entwicklungen in der Tschechoslowakischen Republik, den Aktivitäten der europäischen Akteure und im Hinblick auf Opposition und Widerstand gegen das „Dritte Reich“. Vít Smetana (Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Tschechischen Akademie der Wissenschaften) zeigt die Diskrepanzen in den gegenseitigen Erwartungen der Tschechoslowakei und ihrer Verbündeten in der Septemberkrise auf und geht etwa auf Edvard Benešs Hoffnungen auf einen Kurswechsel Frankreichs und Englands im Falle von erwarteten Regierungswechseln ein – die jedoch weder im einen noch im anderen Land eintraten. Sergei Slutsch (Mitarbeiter am Institut für Slawenkunde und Balkanistik der Russischen Akademie der Wissenschaften) analysiert die sowjetischen Aktivitäten, die sich weitgehend auf diplomatische Unternehmungen beschränkten. Diesen waren jedoch in der Interpretation von Slutsch nicht auf die Lösung des Konflikts ausgerichtet, sondern – wie die gesamte Außenpolitik Stalins – darauf „die Welt zu spalten, die Staaten gegeneinander aufzuwiegeln und die entstandenen Gegensätze und Konflikte zu vertiefen“ (S. 208). Thomas Oellermann (Mitarbeiter am Collegium Bohemicum in Ústí nad Labem) untersucht die Auswirkungen des Abkommens auf das anti-nationalsozialistische Spektrum unter den Sudetendeutschen. Mehrere Tausend Menschen wurden in der Folge verhaftet oder umgebracht. Vielen gingen ins Exil, darunter bis März 1939 fast 3.000 nach London.

Vier Beiträge betrachten im dritten Kapitel die Folgen des Abkommens in den besetzten Grenzregionen. Volker Zimmermann (Mitarbeiter am Collegium Carolinum) schildert unter Rückgriff auf das Konzept der „Volksgemeinschaft“ die Hoffnungen, welche die Sudetendeutschen mit der Eingliederung ins Reich verbanden, die denen der Saarländer 1935 und Österreicher früher im Jahr 1938 weitgehend entsprochen hätten: „Sofern sie nicht zu den ausgesprochenen NS-Gegnern zu zählen waren, erwarteten in allen drei Fällen viele Menschen […] die Lösung ihrer sozialen Probleme.“ (S. 288) Die entsprechenden Aussichten lassen sich auch als Grund für die weitgehende Akzeptanz repressiver Maßnahmen gegenüber Minderheiten wie der jüdischen Bevölkerung interpretieren. Überhaupt sieht Zimmermann die sozioökonomische Komponente als entscheidendes Kriterium für Akzeptanz oder Widerstand gegenüber dem NS-Regime in den „angeschlossenen“ Gebieten an. Den wirtschaftlichen Entwicklungen widmet sich auch Jaromír Balcar (Mitarbeiter bei der Abteilung Neuere und Neueste Geschichte der Universität Bremen). Die Inanspruchnahme der Tschechoslowakei als „Rüstkammer des Reiches“ (S. 307) mit der Veränderung der Industriestruktur hin zur Schwerindustrie, der Durchdringung der Wirtschaft mit reichsdeutschem Kapital und dem Austausch der Führungskräfte schuf seiner Ansicht nach „günstige Voraussetzungen für den Übergang zum Staatssozialismus und die ökonomische Integration in den Ostblock“ (S. 322). Deutscher Besitz konnte konfisziert, der Export nach dem weitgehenden Verlust des traditionellen deutschen Absatzmarktes mehr ins sozialistische Lager gelenkt werden.

Den Konsequenzen des Vertrags für die Staatenlandschaft Ostmitteleuropas sind im vierten Abschnitt fünf Aufsätze gewidmet. Ignác Romsics (Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Budapester Eötvös-Loránd-Universität) skizziert kurz die ungarischen Bestrebungen zur Grenzrevision im Bereich der Südslowakei/Oberungarns und der Karpatenukraine/Transkarpatiens. Ähnlich dem Münchener Abkommen wurde am 2. November 1938 in Wien ein Schiedsspruch gefällt, in dessen Folge die Tschechoslowakei ca. 12.000 Quadratkilometer Land mit etwa 1 Million Einwohnern an Ungarn abtreten musste.

Stanisław Żerko (Professor für Zeitgeschichte am Westinstitut in Poznań) zeigt ähnliche Aktivitäten Polens, welche in zeitweiliger Kooperation mit NS-Deutschland die Besetzung des Olsagebietes/Teschener Schlesiens betrieben und schließlich legitimierten. Valerián Bystrický und Michal Schvarc (Mitarbeiter am Historischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften) schildern die Auswirkungen von „München“ auf die Gründung der Slowakischen Republik als Satellitenstaat des „Dritten Reiches“, die am 14. März 1939 auf Initiative aus Berlin einen Tag vor dem deutschen Einmarsch in die 1938 noch nicht eingegliederten tschechischen Gebiete realisiert wurde.

In den abschließenden fünften Abschnitt zur historiographischen Verarbeitung des Abkommens hat es nur ein Beitrag von Josef Becker (ehemaliger Rektor der Universität Augsburg) geschafft – die auf der Tagung präsentierten Vorträge von Christiane Brenner (Collegium Carolinum) zur tschechischen/tschechoslowakischen und von Hermann Graml (ehemals IfZ) zur deutschen Geschichtsschreibung fehlen leider. Zumindest ansatzweise wird ein Blick darauf in der Einführung der Herausgeber geworfen, die auf sieben Seiten (S. 9–15) einen kurzen Überblick zur Rezeptions- und Deutungsgeschichte liefern. Hier wäre eine intensivere Behandlung wünschenswert gewesen – die wohl den Rahmen einer eigenen Tagung verdient hätte; Ansätze dazu liefern einige Beiträge im von Fritz Taubert herausgegebenen Sammelband Mythos München (2002) –, zumal der Aufsatz von Becker zur Publikationsgeschichte der grundlegenden Untersuchung Das Münchener Abkommen 1938 von Boris Celovsky (1958) einige interessante Beobachtungen vermittelt. Die Veröffentlichung war seinerzeit Anlass einer öffentlichen Kontroverse, die sinnbildlich für die geschichtspolitischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik steht. Verwiesen sei an dieser Stelle auf den unterschiedlichen Bearbeitungsstand der Einzelbeiträge, die bisweilen auch aktuellere Literatur heranziehen, etwa im Fall Beckers oder Balcars aber auf dem Stand von 2008/09 verblieben sind. Die Auseinandersetzung mit neueren Titeln wie David Fabers Munich, 1938 (2009), Andrea Orzoffs Battle for the Castle (2009) oder Madeleine Albrights Memoiren Prague Winter (englisches Original 2012, deutsche Übersetzung 2013) von angloamerikanischer und Jan Kuklíks, Jan Němečeks und Jaroslav Šebeks Dlouhé stíny Mnichova [Der lange Schatten von München] (2011) oder František Čapkas und Jitka Lunerovás Tragédie mnichovské dohody [Die Tragödie des Münchener Abkommens] (2011) von tschechischer Seite unterbleibt so weitgehend. Davon abgesehen liefert der Sammelband einen interessanten und vielschichtigen Einblick in Vorgeschichte und Folgen des Vertragsschlusses; die europäische Perspektive wird prominent bedient.

Martin Munke, Chemnitz

Zitierweise: Martin Munke über: Das Münchener Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive. Hrsg. von Jürgen Zarusky / Martin Zückert. München: Oldenbourg, 2013. 472 S. ISBN: 978-3-486-70417-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Munke_Zarusky_Das_Muenchener_Abkommen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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