Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews3 (2013), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Martin Munke

 

Beate Störtkuhl / Jens Stüben / Tobias Weger (Hrsg.): Aufbruch und Krise. Das östliche Europa und die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg. München: Oldenbourg, 2010. 671 S., Abb. = Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 41. ISBN: 978-3-486-59797-4.

Inhaltsverzeichnis:

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Die Gegenüberstellung von Fortschritt und Stagnation, von „Aufbruch und Krise“ ist unter Historikern ein durchaus beliebtes Analysekonstrukt zur Darstellung ambivalenter Entwicklungslinien. Erst kürzlich hat Andreas Wirsching (München) in seiner „Geschichte Europas in unserer Zeit“ unter dem Obertitel „Der Preis der Freiheit“ (München 2012) zur Beschreibung der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung in Europa nach 1989 darauf zurückgegriffen, wenn auch leicht variiert in Form des Begriffspaars „Konvergenz und Krise“. Der vorliegende Sammelband wendet das Thema auf eine Zeit und einen Raum an, die wie prädestiniert dafür erscheinen: die Zwischenkriegszeit, das östliche Europa und die dort verbliebene deutsche Bevölkerung mit ihren Handlungsoptionen zwischen Verbleib und Flucht, Neuaufbau und Verlust, eben zwischen „Aufbruch und Krise“.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstand hier eine Reihe neuer Staaten anstelle der Habsburger Monarchie, des russischen Zarenreiches und des deutschen Kaiserreiches. Viele Gebiete blieben aufgrund einer komplexen ethnischen Situation territorial umstritten. Die Erforschung der mit diesem Spannungsfeld einhergehenden verschiedenen Konstruktionsprozesse von Identität und Loyalität hat in der Geschichtswissenschaft zuletzt einige Aufmerksamkeit erfahren und interessante Studien hervorgebracht, etwa diejenige von Robert Traba (Berlin) zu Ostpreußen („Ostpreußen – die Konstruktion einer deutschen Provinz. Eine Studie zur regionalen und nationalen Identität 19141933“. Osnabrück 2010; polnisches Original erstmals 2004). In dieses Umfeld reiht sich auch der hier besprochene voluminöse Sammelband ein. Er versammelt 36 Beiträge, die im Rahmen der Jubiläumstagung des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa von 2009 sowie einer Ringvorlesung an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg gehalten wurden. In sechs Abschnitten – die sich teilweise inhaltlich überschneiden – werden ausschnittartig Fragen zu „Geschichtspolitischen Strategien“, „Historischen Gedächtnisorten“, „Geschichtlichen Erfahrungen, Identitäten“, „Loyalität, Segregation, Autonomie“, „Wissenschaft und Wissenschaftspolitik“ sowie „Tradition und Moderne“ behandelt. Die Kapitelüberschriften verweisen bereits auf den stark kulturgeschichtlichen Zugriff der einzelnen Aufsätze, deren Autoren hauptsächlich Historiker und Germanisten bzw. Literaturwissenschaftler, aber auch Politologen, Volkskundler und Kunsthistoriker sind. Ein solcher interdisziplinärer Ansatz erscheint durchaus als notwendig, um der Komplexität des behandelten Themas gerecht zu werden. Im Folgenden soll je Kapitel ein Beitrag kurz näher vorgestellt werden, um die verschiedenen Aspekte des Bandes zu veranschaulichen.

Brigitte Braun (Trier) widmet sich im ersten Abschnitt einem zur damaligen Zeit sehr innovativen Medium: dem Kinofilm. Am Beispiel Oberschlesiens analysiert sie Propagandastrategien, wie sie in den „Abstimmungskämpfen“ der frühen 1920er Jahr dort zum Einsatz gekommen sind. Einen wichtiges Forum bildete die „Wochenschau“, in der häufig auch durch offizielle staatliche Stellen wie das Auswärtige Amt beigesteuerte Beiträge ausgestrahlt wurden. Dokumentarfilme beschworen die Erinnerung an die „verlorenen Gebiete“, Spielfilme wie „Brennende Grenze“ (1926/27) arbeiteten mit einem quasidokumentarischen Anspruch sowie stereotypen Zuschreibungen und verfestigten so bestehende Vorurteile zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Ähnlich verfuhren literarische Konstruktionen, wie Regina Hartmann (Szczecin) in ihrer Analyse des Romans „Der weiße Adler“ (1919) von Richard Skowronnek (18621932) im zweiten Abschnitt zeigt. In Anknüpfung an die Kriegsliteratur und deren propagandistische Funktion folgte hier die literarische Form der Intention, eine „polnische Bedrohung“ des „bedrohten Grenzlandes“ Masuren darzustellen – der Fiktion wurde wiederum ein Anstrich von Authentizität gegeben, etwa durch ausgedehnte Landschaftsdarstellungen.

Die Unterschiede in den Identitäten der verschieden deutschen Volksgruppen im östlichen Europa deckt Olga Kurilo (Frankfurt an der Oder) im dritten Kapitel auf. Sie untersucht Erinnerungsliteratur – Heimatbücher, biografische Skizzen, Periodika – aus dem Umfeld der Wolhyniendeutschen, der Wolgadeutschen und der Deutschbalten. Gerade für erstere bildeten der Erste Weltkrieg und die damit einhergehende Zwangsaussiedlung einen „Bruch in der Geschichte“, einen „Endpunkt und Neuanfang“. Für alle Gruppen stellte sich im Zusammenhang mit der Einberufung zur russischen Armee die „Loyalitätsfrage“ – für die Deutschbalten aufgrund ihrer stärkeren Bindungen an das Deutsche Reich mehr, für die Wolgadeutschen aufgrund der Entfernung zur „deutschen Front“ und des Einsatzes an der Front zum Osmanischen Reich weniger. Die Konfrontation zwischen deutscher und polnischer Identität und Kultur betrachtet Marek Podlasiak (Toruń) im vierten Abschnitt am Beispiel des Theaterlebens in Thorn/Toruń in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verließ ein Großteil der deutschen Bevölkerung die Stadt, an die Stelle des deutschen Berufstheaters trat eine Laienbühne mit einer wichtigen Funktion für die Kulturpflege der verbliebenen Deutschen und engen Kontakten zu ähnlichen Einrichtungen in Polen. Die Konkurrenz zum örtlichen polnischen Theater wich erst nach dem Nichtangriffspakt von 1934 einer vorsichtigen Annäherung und kurzzeitigen intensiveren Kontakten in den Jahren 1935/36, die aber spätestens mit dem Überfall der Wehrmacht wieder ihr Ende fanden.

Den Blick in die Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit wirft Alena Janatková (Berlin), die im fünften Kapitel die universitäre Berufungspraxis im nationalen Spannungsfeld zwischen tschechischen, sudeten- und „reichsdeutschen“ Interessen untersucht. Der zuvor in Wien tätige Kunsthistoriker Karl Maria Swoboda (18891977) wurde 1934 nach längeren Debatten, die Janatková anhand eines Briefwechsels mit dessen Kollegen Antonín Matějček (18891950) nachzeichnet, auf einen Lehrstuhl an der Deutschen Universität in seiner Geburtsstadt Prag berufen. Diese seine Herkunft hatte er auch in Kontaktaufnahmen mit verschiedenen Regierungsstellungen herausgestellt, um sich gegen zahlreiche „reichsdeutsche“ Konkurrenten durchsetzen zu können. Swoboda profilierte sich schließlich als Vertreter einer „sudetendeutschen Kunstgeschichtsschreibung“ und war darüber hinaus auch im Rahmen der „Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft“ tätig. Einen weiteren kunst- bzw. architekturgeschichtlichen Bezug stellt der den Band abschließende Beitrag von Mart Kalm (Tallinn) im sechsten Abschnitt her. Darin werden die Planung und der Bau des estnischen Parlamentes nach der durch ein „unerwartetes Zusammentreffen günstiger Umstände“ ermöglichten Staatsgründung des Jahres 1918 geschildert. Die Errichtung des Gebäudes auf dem Domberg als traditionellem Verwaltungszentrum der Stadt Tallinn stellte einerseits eine Kontinuität zum „Machtstandort“ her. Die gewählten expressionistischen Stilelemente jedoch setzten sich bewusst von der gotischen (deutschbaltischen) und spätbarocken (russischen) Architektur der Umgebung ab – die neuartige Formensprache der beiden in Riga und Darmstadt bzw. Dresden ausgebildeten Architekten Herbert Johanson (18841964) und Eugen Habermann (18841944), die sich auch im Inneren des Gebäudes mit zahlreichen einheitlichen statt hierarchischen Kompositionen fortsetzte, sollte den demokratischen Charakter der neuen Republik betonen.

Diese Hinweise können nur einen ersten Einblick in die thematische Vielfalt des Bandes bieten, der zwar kein konsequent durchkomponiertes Konzept bietet, gleichwohl aber viele interessante Perspektiven und Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen aufwirft. Die Handhabbarkeit wird durch ein umfangreiches Personen- und Ortsregister erleichtert. Zahlreiche, teilweise farbige Abbildungen illustrieren und ergänzen die Texte sinnvoll. Angesichts der guten Ausstattung und des beträchtlichen Umfangs erscheint auch der Preis von knapp 70 Euro noch als vertretbar.

Martin Munke, Chemnitz

Zitierweise: Martin Munke über: Beate Störtkuhl / Jens Stüben / Tobias Weger (Hrsg.): Aufbruch und Krise. Das östliche Europa und die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg. München: Oldenbourg, 2010. 671 S., Abb. = Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 41. ISBN: 978-3-486-59797-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Munke_Stoertkuhl_Aufbruch_und_Krise.html (Datum des Seitenbesuchs)

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