Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Martin Munke

 

Under Western and Eastern Eyes. Ost und West in der Reiseliteratur des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Stefan Lampadius / Elmar Schenkel. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2012.  278 S. ISBN: 978-3-86583-646-5.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1018289119/04

 

Während perzeptionsgeschichtliche und imagologische Arbeiten in der Regel einen unilateralen Blickwinkel einnehmen, versucht der vorliegende Sammelband die Wechselseitigkeit der Wahrnehmung vonOstundWestim 20. Jahrhundert zu analysierenleider ohne diese Konzepte und ihre Wandlungen näher zu problematisieren. Hervorgegangen aus einer Leipziger Tagung im Oktober 2010, versammelt der Band eine Reihe literaturwissenschaftlich-komparatistischer Beiträge von Vertretern verschiedener Philologien aus Deutschland, Russland, Großbritannien und Frankreich. Sieben Beiträge sind in deutscher, zehn in englischer Sprache verfasst. Grundlage für die Untersuchungen bilden Reiseberichte aus demZeitalter der Extremeund der Zeit nach demKalten Krieg. Die Aufsätze sind chronologisch drei Kapiteln zugeteilt; einige von ihnen sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden.

Der erste und umfangreichste Abschnitt widmet sich den späten Jahren des Zarenreiches und der Sowjetunion bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Kazaner Literaturwissenschaftlerin Elena Ševčenko untersucht den dänischen Diplomaten und späteren Literaturkritiker Henning Kehler (1891–1979), der von 1917 bis 1919 als Attaché in Russland stationiert war und 1920 mit Russiske Kroniker (Russische Chroniken) einen der ersten Berichte über das noch junge Sowjetrussland vorlegte. Das Buch wurde rasch übersetzt und erschien in Deutschland und England unter dem Titel Der rote Garten (The red garden). Als literarisch ausgestaltete Reisebeschreibung verbindet es faktengesättigte Schilderungen mit fiktional angereicherten Passagen. Dabei werden die Willkür und die Gewalttätigkeit des bolschewistischen Umsturzes, ausgehend von den jeweils in Petrograd beginnenden Revolutionen des Jahres 1917, eindrucksvoll dargestellt. Die Leipziger Bibliotheksreferentin Sophia Manns-Süßbrich zeigt zwei Beispiele von Autoren, welche die eigene Kunst dem neuen Regime gegenüber legitimieren wollten. Sergej Aleksandrovič Esenin (1895–1925) und Vladimir Vladimirovič Majakovskij (1893–1930) reisten in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre unabhängig voneinander in die Vereinigten Staaten. Ihre Erlebnisse fassten sie in den anschießend erscheinenden Texten Železnyj mirgorod (Eisernes Mirgorod, 1923) und Moë otkrytie Ameriki (Meine Entdeckung Amerikas, 1925) zusammen. Beide trafen während ihres Aufenthaltes hauptsächlich mit Exilrussen zusammen. Die eigentliche Konfrontation mit demFremden‘ wurde so weitgehend vermiedenund das, obwohl Esenin die USA mit seiner damaligen Frau Isadora Duncan (1877–1927), einer US-amerikanischen Tänzerin, besuchte.

Im zweiten Abschnitt wird das Zeitalter desKalten Kriegesthematisiert. Die wie Šev­čenko in Kazan’ lehrende Literaturwissenschaftlerin Žana Konovalova analysiert eine gattungstechnische Besonderheit: die auf einem umfangreichen Aktenstudium und ausgiebigen Forschungsreisen beruhende Nacherzählung des fast dreijährigen So­wjet­unionaufenthalts von Lee Harvey Oswald (1939–1963) durch den US-amerikanischen Schriftsteller Norman Mailer (1923–2007) unter dem Titel Oswalds Tale (1995). Oswald hatte sich nach seiner vorzeitigen Entlassung aus dem Militärdienst Ende 1959 über Helsinki nach Moskau abgesetzt. Ab Januar 1960 war er als Metallarbeiter in Minsk tätig und lernte seine spätere Frau Marina Nikolaevna Prussakova (geb. 1941) kennen, mit der er im Juni 1962 wieder in die USA ausreiste. Hierbei wird die bei Reiseberichten häufig anzutreffende Spannung zwischen Mythologisierung und Enttäuschung im Aufeinanderprallen von Ideal und Realität deutlich. Konovalovas Kazaner Kollegin Vera Šamina zeigt an verschiedenen Beispielen eine ähnliche Entwicklung in umgekehrter Perspektive, nämlich wie sich für sowjetische Autoren die Vereinigten Staaten von einerverbotenenzu einersauren Fruchtwandelten. 1935 reisten die Satiriker Il’ja Arnol’dovič Il’f (1897–1937) und Evgenij Petrov (1903–1942) im Auftrag der Pravda durch das Land. Ihr Reisetagebuch Odnoėtažnaja Amerika (Eingeschossiges Amerika, 1937) wurde kurz nach seinem Erscheinen aufgrund zu positiver Schilderungen verboten und erst in der Ära Chruščëv wieder aufgelegt. Erst 2011 ist es in deutscher Übersetzung in zwei Bänden wiederveröffentlicht worden. Auf den Spuren von Il’f und Petrov hielt sich in den fünfziger Jahren Chruščëvs Schwiegersohn Aleksej Ivanovič Adžubej (1924–1993) gemeinsam mit sechs weiteren Journalisten in den USA auf. Der zugehörige Bericht Serebrjannaja koška ili Putešestvie po Amerike (Die silberne Katze oder eine Reise durch Amerika, 1956) streicht die vorgeblichen Vorteile und die Führungsrolle der Sowjetunion heraus.

Der abschließende dritte Absatz thematisiert Perzeptionsfragen nach demMauerfall, wobei kaum deutschsprachige Literaten behandelt werden und die Begriffswahl damit eher unpassend erscheint. Der Leipziger Polonist Hans-Christian Trepte wirft einen Blick auf Migrations- und Exilliteratur englischsprachiger Schriftsteller polnischer Herkunft. Diese wenden sich in ihren Berichten oft gegen stereotype Vorstellungen gegenüberdem Osten, vermitteln gleichzeitig aber selbsteine oft idyllisch-verklärte Sicht(S. 209). Hybriden Identitäten widmet sich auch die Leipziger Germanistin Kristina Skorniakova am Beispiel Wladimir Kaminersgeboren 1967 in Moskau in einer russisch-jüdischen Familie, seit 1990 in Berlin lebend und ausschließlich auf Deutsch publizierend. Im Spiel mit Klischees und Stereotypen auf der Grundlage der eigenen Herkunft erscheint die Begegnung zwischenOstundWestals durchaus auch humorvolle Angelegenheitangesichts der Verwerfungen des 20. Jahrhunderts ein beruhigender Befund.

Insgesamt vermag der Band eine Reihe interessanter Bausteine zu einer vergleichenden Wahrnehmungsgeschichte der beiden großen Blöcke des 20. Jahrhunderts zu liefern. Wie so häufig bleibt der Vergleich gerade der gegenseitigen Wahrnehmung jedoch dem Leser überlassen, ein synthetisierender Beitrag fehlt. Und ob die zugrundeliegende Gattung der Reiseliteratur im deutschen universitären Kontext wirklich sostiefmütterlich(S. 10) behandelt wird, wie die Herausgeberbeide Anglistenim Vorwort konstatieren, mag zumindest aus Sicht des Historikers bezweifelt werden. Gerade für die Wahrnehmung der frühen Sowjetunion ist in der jüngeren Vergangenheit eine Reihe von voluminösen Studien erschienenvon Matthias Heekes Reisen zu den Sowjets (2003) über Inka Zahns Reise als Begegnung mit dem Anderen? (2008) bis hin zu Eva Oberloskamps Fremde neue Welten (2011). Richtig ist freilich, dass ein Schwerpunkt entsprechender Unternehmungen traditionell in der Frühneuzeit-, besonders der Aufklärungsforschung zu suchen war und ist. Da die meisten Beiträge des Bandes eher werkimmanent arbeiten, wird der Bezug zur historischen Forschung und leider auch zum historischen Kontext jedoch nur selten hergestellt; eine Ausnahme bildet der Aufsatz von Anne Hartmann über diefellow travellersund die Beeinflussung von deren Wahrnehmung durch ihre sowjetischenGuides, wie sie zuletzt auch durch den in Georgetown wirkenden Historiker Michael David-Fox in Showcasing the Great Experiment (2012) untersucht wurde. Dies ist umso verwunderlicher, als die Herausgeber im Vorwort selbst den Bezug zu den Travel Studies anglo-amerikanischer Prägung herstellen, die von jeher eine starke geschichtswissenschaftliche Komponente aufweisen, wie etwa an den einschlägigen Arbeiten im Umfeld von Tim Youngs Zeitschrift Studies in Travel Writing in Nottingham deutlich wird. Die Kombination literatur- und geschichtswissenschaftlicher Methoden in der Reiseforschung ist auch in Deutschland verschiedentlich unternommen worden, wie etwa die Bände der Reihe Reisen, Texte, Metropolen zeigen, die aus einem 2002 bis 2006 von der Volkswagenstiftung an den Universitäten Bremen und Osnabrück geförderten Projekt hervorging und in der auch der genannte Band von Zahn erschienen ist. Zwar wurden Projekt und Reihe ebenfalls von Literaturwissenschaftlern verantwortet, jedoch mit weitem Blick für den historischen Kontext. Und für das Beispiel der gegenseitigen Wahrnehmung gerade von Deutschen und Russen muss natürlich auf das große Wuppertaler Projekt der West-Östlichen Spiegelungen von Lew Kopelew und das Bochumer Nachfolgeunternehmen unter Leitung von Karl Eimermacher verwiesen werden, die beide auch auf Reiseberichte zurückgegriffen haben. Gerade im weiteren europäischen Kontext liegt hier für die Zukunft gleichwohl noch einiges an Potential.

Martin Munke, Chemnitz

Zitierweise: Martin Munke über: Under Western and Eastern Eyes. Ost und West in der Reiseliteratur des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Stefan Lampadius / Elmar Schenkel. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2012. 278 S. ISBN: 978-3-86583-646-5, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Munke_Lampadius_Under_Western_and_Eastern_Eyes.html (Datum des Seitenbesuchs)

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