Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Martin Munke

 

Geisteswissenschaften und Publizistik im Baltikum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Norbert Angermann, Wilhelm Lenz und Konrad Maier. Berlin, Münster: LIT, 2011. 551 S. = Schriften der Baltischen Historischen Kommission, 17. ISBN: 978-3-643-11224-8.

Inhaltsverzeichnis:

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In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Biographie als historische Darstellungsform an neuer Bedeutung gewonnen, nachdem das Individuum lange Zeit in strukturanalytisch ausgerichteten Untersuchungen eher randständig behandelt worden war. Aber gerade in der historischen Betrachtung gemischtnationaler Regionen lassen sich die vielfältigen Verbindungen über ethnische und sprachliche Grenzen hinweg mit einer personengebundenen Betrachtungsweise besonders gut nachzeichnen. Die in Göttingen ansässige Baltische Historische Kommission nimmt diesen Befund zum Anlass, sich dem „nationalen“ „langen 19. Jahrhundert“ im Baltikum von 1800 bis 1918 dezidiert aus diesem Blickwinkel zu nähern – mit einem gewissen Schwerpunkt auf der zweiten Jahrhunderthälfte bis hin zum Ende des Ersten Weltkriegs. Die Herausgeber begründen damit zugleich eine Reihe „Baltische Biographische Forschungen“. Vorgestellt werden Persönlichkeiten, die aufgrund ihres Wirkens als Geisteswissenschaftler und Publizisten in die nationalen Konfrontationen und Kooperationen jener Zeit eingebunden waren. Es werden damit Felder wie Geschichts- und Sprachwissenschaften, Archivkunde und Journalistik angesprochen, die mithin eine herausragende Bedeutung in der Artikulation des „nationalen Erwachens“ der „kleinen Völker“ (Günther Stökl) aufweisen.

Zum Band haben zwanzig Autoren aus mehreren Nationen – Deutschland, Estland, Lettland, Österreich, Polen – und unterschiedlichen Disziplinen beigetragen, weshalb die Herangehensweise durchaus variiert und von einer Analyse fachwissenschaftlicher Aktivitäten der Porträtierten bis hin zu überblicksartigen Darstellungen reicht. Etwa die Hälfte der Untersuchungen ist deutschen bzw. deutsch-baltischen Persönlichkeiten gewidmet. Zwei der Autoren sind zwischenzeitlich bereits verstorben, mit dem US-amerikanischen Russland- und Osteuropahistoriker Edward C. Thaden einer bereits im Jahr 2008. Die Aufsätze geben also nicht unbedingt den Forschungsstand des Erscheinungsjahres 2011 wieder – ein gravierender Nachteil ist dies allerdings nicht, da zu vielen der vorgestellten Protagonisten nur ältere Beiträge bzw. noch gar keine in deutscher Sprache vorliegen. Damit ist bereits ein wichtiges Verdienst des Bandes benannt, der zahlreiche auch in der Fachwissenschaft „Vergessene“ wieder zurück ins Bewusstsein holt und darüber hinaus die Erkenntnisse baltischer Historiker für den deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb fruchtbar macht.

Auf eine Erwähnung aller Beiträge soll hier verzichtet werden. Stattdessen möchten wir Fallbeispiele von in der deutschsprachigen Forschung bisher kaum beachteten Persönlichkeiten vorstellen, die die Schwierigkeit der Zuschreibung nationaler Zugehörigkeit zeigen – nicht nur die Postmoderne kennt plurale, einander überlappende, ergänzende und zum Teil (scheinbar) widersprechende Identitäten. Der in Krakau lehrende Historiker Krzysztof Zajas beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit Gustaw Manteuffel (1832–1916), einem im heute lettischen Dricāni (Drycany, Dritzen) geborenen polnisch-livländischen Autor. Obwohl zu Lebzeiten ein äußerst produktiver Publizist, ist sein Œuvre nach seinem Tod weitgehend in Vergessenheit geraten – für das Jahr 2013 ist immerhin eine mehrbändige kritische Werkausgabe angekündigt. Als Sohn einer polonisierten kurländischen Ritterfamilie wurde Manteuffel – auch: Gustaw Baron Manteuffel-Szoege – mehrsprachig erzogen und besuchte deutschsprachige Ausbildungsstätten in Mitau (Mitawa, Jelgava) und Dorpat (Tartu). Von der Ausbildung her Staatskundler, befasste er sich in seinem publizistischen Wirken als „begeisterter Volkskundler“ intensiv mit Geschichte, Kultur und Brauchtum Polnisch-Livlands – seiner Heimat. Sein Buch „Polnisch-Livland“ aus dem Jahr 1869, das er selber ins Polnische („Inflanty Polskie“, 1879) übersetzte und in dieser Fassung stark erweiterte, bildete die erste umfangreiche Landeskunde der Region. Darin nahm Manteuffel eher eine polnisch-nationale Perspektive ein, wohingegen eine Artikelsammlung unter dem Titel „Listy znad Bałtyku“ („Briefe aus dem Baltikum“) von 1886 auch lettisch-estnische Perspektiven erkennen lässt. Seine nur in Auszügen veröffentlichten „Abrisse aus der Geschichte alter livländischer Gebiete“ (1892) sorgte dementsprechend für einige Kontroversen in einer Zeit des „nationalen Erwachens“, in der sowohl polnische als auch lettische Autoren für klare Zugehörigkeiten argumentierten. Manteuffel hingegen betonte eine gewisse kulturelle Eigenständigkeit ‚seines‘ Polnisch-Livlands auf der Basis des katholischen Glaubens – im Kampf gegen die von ihm angenommene „Missachtung“ der Region durch die Baltendeutschen und gegen die zunehmende Russifizierung nach dem Januaraufstand von 1863 und der symbolischen Umbenennung von Universität und Stadt Dorpat in Jur’ev 30 Jahre später.

Mit Fragen der Russifizierung beschäftigt sich auch der Beitrag der estnischen Geschichtslehrerin Anneli Lõuna. Ihr ‚Held‘ Jüri Truusmann (1856–1930) bleibt ebenso wie Manteuffel eine ambivalente Persönlichkeit. Sohn einer estnischen Bauernfamilie aus der Region Dorpat, erhielt er eine Ausbildung am (orthodoxen) Geistlichen Seminar in Riga und später an der Geistlichen Akademie in St. Petersburg. Seine Dissertation „Vvedenie christianstva v Lifljandii“ („Die Einführung des Christentums in Livland“, 1884) wurde sowohl für die russische als auch die estnische nationale Propaganda benutzt – für erstere, weil Truusmann den frühen Einfluss der russischen Orthodoxie in Livland behandelte, und für letztere, weil mit zum ersten Mal ein Thema der estnisch-livländischen Geschichte wissenschaftlich durch einen Gelehrten estnischer Herkunft behandelt wurde. Seine Zeit in der russischen Hauptstadt trug in jedem Fall mit dazu bei, dass Truusmann treu zur Zarenherrschaft stand. 1885 wurde er zum Einzelzensor in Reval ernannt und hielt dieses Amt bis 1908 inne, womit er für die Begutachtung der im Gouvernement Estland erscheinenden estnisch-, russisch- und deutschsprachigen Periodika, die estnischsprachige Theaterdichtung und auch das geistliche Liedgut der evangelisch-lutherischen Kirche verantwortlich war. Sein Tätigkeit hier scheint weniger von ‚nationalen‘ Standpunkten als von seinen eigenen moralisch-religiösen Überzeugungen geprägt gewesen zu sein, die sich etwa gegen die revolutionäre Bewegung und die Darstellung gesellschaftlicher Probleme richteten. Zugleich gehörte Truusmann mehreren estnisch-nationalen Vereinen an. Sein Engagement dort blieb aber eher zurückhaltend, zumal er für die Beibehaltung der Zugehörigkeit Estlands zu Russland optierte, wenn auch als autonome Provinz.

Während die Mehrzahl der Beiträge sich eher dem heutigen estnisch-lettischen Raum widmet, beziehen sich nur wenige auf das heutige Litauen. Dazu gehört derjenige der an der Universitätsbibliothek Tartu tätigen Bibliothekarin Ljudmila Dub’eva, die das Forscherleben Ivan Ivanovič Lappos (1869–1944) vorstellt. Lappo wurde in Carskoe Selo (heute: Puškin) bei St. Petersburg als Abkömmling eines in russischen Staatsdiensten stehenden litauischen Adelsgeschlechts geboren. Nach der Studium in der russischen Hauptstadt und einer Tätigkeit als Lehrkraft u. a. bei der „Kaiserlichen Pädagogischen Gesellschaft für höhere Töchter“ wirkte von 1905 bis 1918 als Professur für Russische Geschichte an der Universität Dorpat bzw. Jur’ev. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehörte die Geschichte des Großfürstentums Litauen. In St. Petersburg freilich stand Lappo mit seiner Vorliebe abseits der dortigen historischen Schule; erst in Dorpat konnte er ihr intensiver nachgehen. In diesem Zusammenhang war er maßgeblich an der Edition der „Litauischen Matrikel“ (auch: „Litauische Metrik“), also der historischen Staatsdokumente des Großfürstentums und mithin einer der wichtigsten Quellensammlungen zu dessen Geschichte, beteiligt. Nach der deutschen Besetzung des Baltikums Anfang 1918 musste die Universität ihre Tätigkeit einstellen. Lappo setzte seine Forschungen – nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Prag – zunächst im zentralrussischen Voronež fort, bevor er von 1933 bis 1940 an der Universität von Kaunas lehrte. Auch hier sollte sein Schicksal erneut vom Krieg geprägt werden: Die Hochschule wurde zum 1. Januar 1940 nach Vilnius verlegt. Unter ungeklärten Umständen verschlug es Lappo wahrscheinlich nach Dresden, wo er im Dezember 1944 bei einem Luftangriff umkam.

Dem Charakter des durch ein Personenregister gut erschlossenen Sammelbandes ist es geschuldet, dass gerade Überblicksbeiträge wie der letztgenannte weitgehend im Deskriptiven verharren. Gleichwohl gelingt es, interessante Perspektiven auf die „natio­nale(n) Frage(n)“ im Baltikum zu eröffnen und deren Zusammenhang mit religiösen und sprachlichen Problemen einmal mehr zu verdeutlichen. Die Schilderung der Einzelschicksale wirft zugleich ein Licht auf die Auswirkungen der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche in der Region, zeigt Aspekte von Flucht, Vertreibung, Exil und Fremdherrschaft eindrücklich auf. Anstöße für weitere Forschungen sind mit alledem reichlich gegeben.

Martin Munke, Chemnitz

Zitierweise: Martin Munke über: Geisteswissenschaften und Publizistik im Baltikum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Norbert Angermann, Wilhelm Lenz und Konrad Maier. Berlin, Münster: LIT, 2011. 551 S. = Schriften der Baltischen Historischen Kommission, 17. ISBN: 978-3-643-11224-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Munke_Angermann_Geisteswissenschaften_und_Publizistik.html (Datum des Seitenbesuchs)

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