Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Wolfgang Mueller

 

Andrei P. Tsygankov: Russia and the West from Alexander to Putin. Honor in International Relations. Cambridge [usw.]: Cambridge University Press, 2012. XII, 317 S., 20 Tab., 3 Graph. ISBN: 978-1-107-02552-3.

Andrei Tsygankov untersucht die Rolle von Ehre als einer Determinante der Außenpolitik Russlands vom frühen 19. bis zum frühen 21. Jahrhundert. Ehre definiert er als Bereitschaft, die eigene Würde und die eigenen Verpflichtungen zu wahren (S. 13). Durch die Integration dieses Faktors in die Analyse internationaler Politik möchte der Autor einen Beitrag zur theoretischen Weiterentwicklung und zur Kombination realistischer und konstruktivistischer Ansätze leisten, wobei er etwa an einschlägige Arbeiten von William Wohlforth aus dem Jahr 1998 und Michael Donelan aus dem Jahr 2007 anschließen kann. In drei Kapiteln, die jeweils aus Fallstudien zum Zarenreich, zur Sowjetunion und zur postsowjetischen Russländischen Föderation bestehen, untersucht der Autor die Bedeutung von Ehre anhand dreier Modi der Beziehungen Russlands zum Westen: der Kooperation, der Defensive und der Selbstbehauptung (assertiveness).

Zweifellos sind die Beziehungen zum Westen ein klassisches Untersuchungsobjekt, doch fehlt hier eine Definition dessignifikanten AnderenRusslands (S. 4). Mit Blick auf die Geistesgeschichte mag man eine solche zwar für obsolet erachten. Auch wurde in der russischen bzw. sowjetischen Politik des 20. Jh. der Begriff nur allzu oft verallgemeinernd benutzt, um mittels eines Feindbildes die eigene Herrschaft nach innen zu festigen. In der Diplomatie existierte der Westen allerdings vor der Schaffung des Sowjetregimes nur sehr selten als politische Einheit. So zog das Zarenreich seit Peter I. meist auf einer Seite des Westens gegen eine andere in den Krieg, und zwar auf jener, die ihm größeren Vorteil zu versprechen schien. Ist es also zulässig, von einer Kooperation Russlandsmit dem Westengegen Schweden, Preußen, Napoleon oder gegen das Deutsche Reich zu sprechen (S. 3), ohne damit den Westen als aussagekräftige Kategorie zu entwerten? Es wäre auch zu hinterfragen, ob das Bekenntnis Katharinas II. zum Westen tatsächlich als Ausdruck des Willens zu politischer Kooperation verstanden werden soll oder eher als kulturelles Credo der Kaiserin und eines Teils des Adels, als Motto vieler ihrer Reformen und als Ankündigung, sich durch Einmischung in die europäische Mächtekonkurrenz weitere Stücke vom Kuchen zu sichern.

Der Autor argumentiert, dass die untersuchten Fälle von Kooperation mit dem Westen, d. h. die Heilige Allianz, die Tripelallianz, diePolitik der kollektiven Sicherheitund derKrieg gegen den Terror“, mit Ausnahme der zuerst genannten Russland wenig Erfolg beschert hätten. Unter den defensiven Anwendungen von Russlands Ehre untersucht Tsygankov dasRecueillementGorčakovs, diefriedliche Koexistenzder Zwischenkriegszeit und Primakovs Versuch einerEindämmungdes von ihm nicht als sicherheitspolitisches, sondern psychologisches Problem definierten Beitritts der Staaten Ostmitteleuropas zur NATO-Osterweiterung nach 1991. Namentlich die letztere Entwicklung wird vom Autor als fehlgeleitete Politik des „Westens“ bezeichnet. Wenn das Ehrgefühl Russlands nicht ausreichend berücksichtigt worden sei, so Tsygankov, sei dieses zurSelbstbehauptunggezwungen gewesen, so im Krimkrieg, im Kalten Krieg und im Krieg gegen Georgien 2008. Der Kalte Krieg als Resultatverletzter Ehre(S. 230) wäre eine wahrlich neue Interpretation.

Leider bleibt Tsygankov auch eine Präzisierung des Ehrbegriffs schuldig, was angesichts von dessen Mantelcharakter Zweifel aufkommen lässt, ob es sich nicht bloß um eine Chiffre für Außenpolitik handelt. Zwar verweist der Autor zurecht auf die diskursive Genese der Ehrdefinition, es bleibt aber unklar, ob jeder Staat Ehre besitzt, was weitreichende Implikationen für die Analyse besäße. Zweitens werden die propagandistische Funktion und die Zeitgebundenheit von Ehre nicht diskutiert. Tsygankov erklärt zwar, dasswährend des Überganges zum Kapitalismus(sic!), Ehre undVerteidigung der Nationmiteinander verknüpft worden seien (S. 14); ob undwenn jawie sich das Verständnis von und der Umgang mit Ehre seither verändert haben, bleibt aber unerwähnt. So mag die Bedeutung von Ehre als absoluter Entscheidungsmotivation in der Geisteswelt des langen 19. Jahrhunderts vielleicht unhinterfragt bleiben; für Stalin, Jelzin oder Putin, die sich wohl der Potenz des Begriffs als eines medialen Mobilisierungsinstruments bewusst waren bzw. sind, sollte dies aber nicht geschehen. Während der Autor feststellt, dass Nikolaus II. 1914 einefalsche Dichotomie(S. 92) zwischen ehrenhaftem (= Krieg) und unehrenhaftem Verhalten konstruiert habe, vermisst man derart kritische Ansätze andernorts.

Tsygankov stellt Russland als oft bedroht dar (S. 31); von den vom Kreml ausgehenden Bedrohungen für andere liest man hingegen wenig: Wenn Russland Forderungen erhebt, den Krieg erklärt, expandiert,für seine Ehre kämpft, ist esassertive, d.h.es behauptet sich. Ähnlich blumig die Darstellung der Handlungsmotive: Das Hitler-Stalin-Abkommen beispielsweise wird von Tsygankov defensiv und als Bemühen Stalins interpretiert, die sowjetische Ehre zu verteidigen; dass es den größten Landgewinn der Sowjetunion überhaupt vorbereitete, fällt als mögliche Motivation unter den Tisch. Hingegen werden vermutete Wirkungszusammenhänge etwa zwischen westlicher Kritik am Tschetschenienkrieg Russlands und dem Schwenk in Putins Außenpolitikpardon Ehrverständnisvon Kooperation zu „assertivenesszu wenig hinterfragt. Falls der Kreml im Kalten Krieg oder im Georgienkrieg tatsächlichkonsistent mit seinen historischen Verpflichtungen(S. 57) gehandelt hat, wirft das die Frage auf, welche Verpflichtungen wem gegenüber hier gemeint sind und warum nicht den höherrangigen Verpflichtungen zur Nichteinmischung oder zum Gewaltverzicht laut UN-Charta Vorrang gegeben wurde. Generell wäre dem Buch eine konsequente Differenzierung zwischen tatsächlicher Wahrnehmung und Selbstlegitimierung zu wünschen gewesen: Es macht einen großen Unterschied, ob beispielsweise die USA und die NATO vom Kremlals Bedrohung gesehen(S. 18) oder bloß so dargestellt werden. Die Frage, wann und unter welchen Umständen die Ehre welche Rolle als außenpolitischer Entscheidungsfaktor spielte und wo sie als Vorwand für Versuche benützt wurde, die eigene Macht oder das eigene Territorium auszuweiten, bleibt weiter zu untersuchen.

Wolfgang Mueller, Wien

Zitierweise: Wolfgang Mueller über: Andrei P. Tsygankov: Russia and the West from Alexander to Putin. Honor in International Relations. Cambridge [usw.]: Cambridge University Press, 2012. XII, 317 S., 20 Tab., 3 Graph. ISBN: 978-1-107-02552-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mueller_Tsygankov_Russia_and_the_West.html (Datum des Seitenbesuchs)

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