Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 8 (2018), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Wolfgang Mueller

 

Irina Scherbakowa / Karl Schlögel: Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise. Hamburg: ed. Körber, 2015. 142 S. ISBN: 978-3-89684-169-8.

Die Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen ist Anlass für zwei renommierte Russland-Kenner, die Historikerin am Institut „Memorial“ Irina Scherbakowa und den emeritierten Professor für Osteuropäische Geschichte in Frankfurt/Oder Karl Schlögel, in der Form eines Gespräches die Grundlagen dieser Beziehungen und die Hintergründe ihrer Krise zu reflektieren. Der Titel erinnert an Gerd Koenens Russland-Komplex über das Verhältnis der Deutschen zu Russland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Büchlein ist in drei Kapitel gegliedert; Fachbegriffe und wichtige Materien werden in Kastentexten sachkundig kommentiert.

Ausgangspunkt des Essays sind biographische Eindrücke der beiden Autoren: das Kinderspiel „Russen und Deutsche“ in der Nachkriegs-Sowjetunion, die Kriegsversehrten im Straßenbild, der erste Besuch in der DDR, eine Lesung von Evgenij Evtušenko 1963 in München. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg spielte und spielt eine große Rolle. Bemerkenswert ist hier zweierlei: einerseits – trotz aller gegen die Bundesrepublik gerichteten sowjetischen Propaganda – das Fehlen antideutscher Ressentiments in der sowjetischen Gesellschaft; andererseits der – neben dem Judentum – vor allem auf Russland gerichtete Fokus der deutschen Gedenkpraxis; dass Deutschland gegenüber Polen, der Ukraine, Belarus und dem Baltikum eine nicht minder große historische Verantwortung für den NS-Krieg und seine Verbrechen trägt, wird in der Öffentlichkeit wesentlich seltener thematisiert.

Der zweite und der dritte Teil unter dem Titel Die Faszination des Anderen und Zeitenwende sind der Lage in Russland, den jüngeren deutsch-russischen Beziehungen und deren aktueller Krise infolge der Aggression Russlands gegen die Ukraine gewidmet. Die Annexion der Krim 2014 wurde von Liberalen in Russland durchaus als eine Zäsur begriffen. Auf der Suche nach dem Wendepunkt auf dem Weg dorthin diskutieren die Autoren mehrere Entwicklungen. Während die Stalin-Nostalgie um sich greift, werden im öffentlichen Diskurs auch Begriffe aus dem Repertoire stalinistischer Hetzkampagnen („Ausländischer Agent“) wiederbelebt bzw. wie im Kalten Krieg willkürlich zur Diskreditierung unliebsamer Kräfte („Faschismus“) verwendet. Gegenüber der offiziellen Realitätsklitterung – Walter Laqueur spricht von „Konfabulation“, Karl Schlögel von „dreisten Lügen“ (S. 107) höchster Politiker –, aber auch gegenüber den von „Trollen“ inszenierten „Shitstorms und Hasskampagnen“ (S. 115) zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung sind laut Irina Scherbakowa nur cirka 15 Prozent der russischen Bevölkerung kritisch eingestellt, der Großteil sei „anfällig für die primitivste Hasspropaganda“ (S. 78). Ergebnis dieser Entwicklung sei ein „militanter und aggressiver Charakter des russischen Nationalpatriotismus“ (S. 97), der etwa seinen Ausdruck in den 2015 weit verbreiteten, an den Zweiten Weltkrieg erinnernden Aufklebern „Nach Berlin“ fand (S. 99).

Europa habe gegenüber dieser Radikalisierung und Aggression „total versagt“ (S. 121) –aus Fehlinformation, Bequemlichkeit oder Schwäche. Die arrivierten Gesellschaftsschichten in Deutschland charakterisiert Schlögel als „so durch und durch befriedet und zufrieden“, dass sie „von den Vorgängen, die sich in Russland und der Ukraine abgespielt haben und heute stattfinden, kaum eine Ahnung [haben], ja sie sich kaum vorzustellen“ vermögen (S. 68). Kritik übt der Autor an den sogenannten „Russland-Verstehern“, die nicht verstünden, dass „,die Russen‘ nicht die einzigen Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen gewesen sind“ (S. 111). Die Kontroverse sage übrigens weniger über Russland aus als über „unser Verhältnis zu Amerika, über einen tief verwurzelten Antiamerikanismus“ und darüber „ob man die Politik Russlands hinnimmt oder gar verteidigt oder ob man sie zurückweist und ihr Widerstand leistet“ (S. 108). Für Europa stelle die Frage Russlands allerdings inzwischen eine existenzielle Herausforderung dar; die EU werde sich unweigerlich daran messen lassen müssen, ob sie in der Krise mit Russland ihren Prinzipien wie Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung und Menschenrechte treu bleibe oder ob sie an der Herausforderung zerbreche. Während Schlögel vor Etikettierungen wie „Rückfall in den Kalten Krieg“ warnt, äußert Scherbakowa wenig Optimismus für die nähere Zukunft.

Irina Scherbakowa und Karl Schlögel haben einen engagierten Essay vorgelegt, der nicht mit offenen Worten spart. Er versteht sich als Plädoyer dafür, den Dialog zu führen, ohne darauf zu verzichten, „die Dinge beim Namen zu nennen“.

Wolfgang Mueller, Wien

Zitierweise: Wolfgang Mueller über: Irina Scherbakowa / Karl Schlögel: Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise. Hamburg: ed. Körber, 2015. 142 S. ISBN: 978-3-89684-169-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mueller_Scherbakowa_Der_Russland-Reflex.html (Datum des Seitenbesuchs)

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