Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Wolfgang Mueller

 

Marie Mendras: Russian Politics. The Paradox of a Weak State. London: Hurst, 2012.  XVI, 349 S., 4 Ktn. = Comparative Politics and International Studies Series. ISBN: 978-1-84904-113-3.

Seit dem Amtsantritt Vladimir Putins wird die Innen- und Außenpolitik Russlands wieder zunehmend kontrovers diskutiert. Die aktualisierte englische Fassung von Marie Mendras2008 erschienenem Werk versucht, den innenpolitischen Machtstrukturen der Herrschaft Putins auf den Grund zu gehen. Das Nebeneinander autoritärer Herrschaftszüge, geringer politischer Partizipation und relativer Akzeptanz durch die Bevölkerungsmehrheit hat die These einerdelegativen Demokratieinspiriert. Wenn das Individuum in einer solchen Gesellschaft auch persönliche Freiheit genießt, solange seine politische Betätigung sich auf die Wahl regimekonformer Parteien beschränkt, so ist die Ausübung der Bürgerrechte faktisch eingeschränkt. Masha Lipman hat mit Blick auf Russland von einem Nichteinmischungspakt zwischen Gesellschaft und Führung gesprochen, der unter den Bedingungen des seit 1999 spürbar steigenden Wohlstandes gewisse Stabilität erlangen konnte. Mendras geht der Frage nach, wie dieses Herrschaftssystem entstanden ist und wie es funktioniert. Dabei wendet sie sich explizit gegen die These, dass ein autoritäres System für die Stabilisierung Russlands nötig oder auch nur zuträglich sei.

Unter den historischen Faktoren unterstreicht Mendras vor allem die wenig entwickelte Rechtsstellung des Privateigentums gegenüber jenem des Staates bzw. Herrschers, die Schwäche der Gegengewalten und demokratischen Legitimierungsmechanismen, das Fehlen von Checks und Balances sowie schließlich das imperialistische Erbe und Staatsbewusstsein. Das von zahlreichen russländischen wie auch auswärtigen Beobachtern vorgebrachte Argument, dass die Mehrheit der Russen das Leben in Ohnmacht gewohnt sei und die heimatlichen Zustände lieber verteidige als ändern wolle, weist die Autorin ebenso als simplifizierend zurück wie die alternativen Thesen, dass Russland entweder noch nicht reif sei für mehr Demokratie oder aber  bereits deren für das Land bestmögliche Form gefunden habe. Vielmehr bezieht sich Mendras auf die ungebrochene Stellung des Herrschers bzw. Machthabers, der konkurrierenden Kräften den Zugang zu politischer Betätigung meist erfolgreich verwehrt habe, und das infolgedessen wenig entwickelte Verantwortlichkeitsgefühl der Bürger für die politische Entwicklung. Der Staat werde von den regierenden Eliten und der Bevölkerungsmehrheit nicht mit einer Res publica identifiziert und auch nicht mit der Wohlfahrtssorge, sondern mit Machtjener der Staatsspitze (vlast) gegenüber den Untertanen oder jener der Großmacht (deržava) gegenüber außen.

Auf der Suche nach regimestabilisierenden Faktoren betont Mendras eine durch gezielt eingesetzte innere und äußere Feindbilder erzeugteFestungsmentalität, deren Dekonstruktion durch Gorbačëv die Desintegration der Sowjetunionermöglicht‘ habe und die in kritischen Phasen in dasZentrum des Verhältnisses zwischen dem Herrscher und den Beherrschten(S. 71) gerückt werde. Meistens genüge aber heute der Hinweis auf die medial diffamierte Perestrojka und die folgenden Jahre wirtschaftlicher und persönlicher Unsicherheit, um ein Dilemma zwischenchaotischer, wirtschaftlichunfairerDemokratie undgeordnetem, wirtschaftlichprosperierendemAutoritarismus zu konstruieren (S. 59).

Dabei verweist Mendras zu Recht auf zwei relevante Entwicklungen der Jelzin-Ära: Erstens habe das Fehlen einer Abrechnung mit der kommunistischen Herrschaft den Fortbestand nicht nur der mittleren Verwaltungseliten, sondern auch sowjetischer Denk- und Verhaltensmuster begünstigt, die wieder aktiviert werden könnten. Dazu zählt sie etwa die Geringschätzung (sei es durch die Obrigkeit oder die Bürger) für das geschriebene Recht, für allgemeine Regeln und die Institutionen ebenso wie Misstrauen nach innen und außen. Gleichzeitig habe der junge Staat verabsäumt, wirksame Barrieren gegen radikale Kräfte zu errichten, welche die Duma in den neunziger Jahren dominierten. Dadurch gefördert, habe zweitens 1993 eineAbwärtsspirale(S. 91) in Richtung Autoritarismus und Gewalt eingesetzt, die durch Jelzins Verfassungsänderung, durch Wahlfälschung, Stimmenkauf, Einschüchterung und Ermordung von Kritikern und Konkurrenten sowie die blutigen Militäreinsätze gegen das Parlament und im Tschetschenienkrieg augenfällig geworden seien.

Fehlte Jelzin noch die Kontrolle über die Duma, die Medien, Gouverneure und Gerichte, so wurde diese von seinem Nachfolger etabliert. Angesichts verbesserter Wirtschaftslage und innerer Sicherheit gelang es Putin, die Zementierung seiner Herrschaft im öffentlichen Bewusstsein mit einerWiederherstellung der staatlichen Autoritätzu assoziieren. Der Bevölkerungsanteil jener, die Demokratie für inadäquat halten, stieg in seinen ersten beiden Amtszeiten von 25 % (2000) auf 30 % (2006), während der Prozentsatz der Demokratiebefürworter von 55 % auf 45 % fiel (S. 186).

Mendras hat eine prägnant formulierte Darstellung vorgelegt, die kritisch heikle Aspekte aufgreift. Dennoch bleiben viele Fragen der inneren Machtverteilung in Russland ungeklärt. Wenn Winston Churchill einst Politik in Russland mit einemKampf von Bulldoggen unter einem Teppichverglich, so gelingt es heute immer noch recht selten, diesen Teppich zu lüften.

Wolfgang Mueller, Wien

Zitierweise: Wolfgang Mueller über: Marie Mendras: Russian Politics. The Paradox of a Weak State. London: Hurst, 2012. XVI, 349 S., 4 Ktn. = Comparative Politics and International Studies Series. ISBN: 978-1-84904-113-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mueller_Mendras_Russian_Politics.html (Datum des Seitenbesuchs)

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