Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Wolfgang Mueller

 

Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986–1991.  Hrsg. von Aleksandr Galkin und Anatolij Tschernjajew. München: Oldenbourg, 2011. XXXV, 640 S. = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 83. ISBN: 978-3-486-58654-1.

Als im November 1989 unter dem Druck der Straße gleichsam unbeabsichtigt die Berliner Mauer geöffnet wurde, dachte wohl kaum jemand daran, dass binnen eines Jahres die Einheit Deutschlands hergestellt würde. In der DDR herrschte, wenn auch merklich verunsichert, die SED, und über 300.000 sowjetische Soldaten standen im Warschauer-Pakt-Staat. Ein Jahr später war die DDR Geschichte und das geeinte Deutschland NATO-Mitglied. Seither haben zahlreiche Historiker und Politikwissenschaftler von Condoleezza Rice und Philip Zelikow über Rafael Biermann, Werner Weidenfeld, Alexander von Plato, Andreas Rödder bis Mary Elise Sarotte, um nur einige zu nennen, auf die verblüffende Haltungsänderung der sowjetischen Führung in der Deutschen Frage hingewieseneinen Wandel, ohne den die Herstellung der Einheit nicht möglich gewesen wäre. Tatsächlich bedurfte es der sensationellen Aufgabe mehrerer Dogmen desalten Denkensdurch den sowjetischen Generalsekretär, um die 1990 realisierte Lösung zu erreichen.

Gorbačëvs Weg zur Deutschen Einheit lässt sich in drei Schritte unterteilen: 1. die Ex-post-Sanktionierung der Öffnung der Berliner Mauer im November 1989, 2. die Einwilligung im Februar 1990 in die Selbstbestimmung von BRD und DDR über eine mögliche Wiedervereinigung, und 3. die Zustimmung im Mai bzw. Juli 1990 zur freien Bündniswahl Gesamtdeutschlands. Unser derzeitiger Wissensstand lässt uns annehmen, dass auch Gorbačëv jede der Entscheidungen separat und auf der Grundlage des jeweils aktuellen Diskussionsstandes traf. Diese Aufspaltung in verschiedene Schritte bestimmte dadurch vermutlich das Ergebnis mit, da am Beginn des Prozesses das Endergebnis kaum denkbar, geschweige denn akzeptabel, gewesen sein dürfte.

Die 2006 auf Russisch und nunmehr auf Deutsch vorliegende reichhaltige Edition von 138 Dokumenten aus dem Gorbačëv-Archiv in Moskau hilft, den Entscheidungsprozess präziser zu rekonstruieren. Sie enthält Protokolle des Politbüros der KPdSU und anderer sowjetischer Entscheidungsgremien, Protokolle von Gesprächen mit ausländischen Staatsmännern wie G. H. W. Bush, F. Mitterrand, M. Thatcher, G. Andreotti, J. Baker, R. Dumas, D. Hurd, G. de Michelis und namentlich west- und ostdeutschen Politikern wie R. von Weizsäcker, H. Kohl, H.-D. Genscher, W. Brandt, H.-J. Vogel, F. J. Strauß sowie E. Honecker, E. Krenz, H. Modrow und L. de Maizière. Hinzu kommen Auszüge aus Pressekonferenzen und Interviews. Interne sowjetische Dokumente wie etwa Auszüge aus dem bereits 2005 auf Deutsch publizierten Tagebuch des Gorbačëv-Beraters Černjaev, aber auch einige von dessen Notizen an den Generalsekretär sind in der Minderzahl, aber umso aufschlussreicher.

Von Joachim Glaubitz präzise übersetzt und von Andreas Hilger, dessen Edition der Unterredungen der Außenminister Genscher und Ševardnadze eine wichtige Ergänzung bietet, sachkundig und detailliert kommentiert, vervollständigen die publizierten Papiere, von welchen viele Schlüsselcharakter besitzen, das durch dieDokumente zur Deutschlandpolitiksowie amerikanische, britische und französische Editionen gebildete Quellenkorpus. Die Dokumente untermauern eindeutig, dass die Strategie Gorbačëvs, Kohl in die Ecke zu treiben, um ihm als Strafe für die Nachrüstungeine Lektion zu erteilen(S. 14), lange vor dessen Interview inNewsweekexistierte. Paradoxerweise fiel es Honecker zu, vor einer Isolierung der BRD zu warnen. Eine Lösung der Deutschen Frage schien in weiter Ferne zu liegen; selbst der in der Moskauer Propaganda alsKalter Kriegerverteufelte Strauß erklärte sich mit einer Wiedervereinigungin hundert Jahrenzufrieden (S. 68). Als Weizsäcker 1987 in Moskau auf die Deutsche Teilung hinwies, strich die sowjetische Zensur den Passus aus den Medienberichten. Selbst nach der Annäherung zwischen Kohl und Gorbačëv beharrte letzterer auf dem Standpunkt, dass die Deutsche Frage nicht aktuell sei und dereinst von der Geschichte entschieden werde. Seine Aussage, dass die Mauer nicht ewig stehen werde, erklärte er später als Ausdruck der Anteilnahme mit den Deutschen.

Nach deren Fall, den sein Berater Černjaev als Ende des sozialistischen Systems erkannte (S. 228), zeigte sich Gorbačëv vorerst vom Fortbestand der DDR überzeugt, attackierte Kohls 10 Punkte alsUltimatum(S. 260), und suchte die Wiedervereinigung mit Hilfe Englands, Frankreichs und Italiens zu bremsen. Ende Januar setzte sich aber in Moskau die Erkenntnis durch, dass die Einheit nicht zu verhindern sei. Nach dem Zugeständnis des Selbstbestimmungsrechts und mehreren Monaten hektischer Gegenvorschläge wurde auch der zähe Widerstand gegen die freie Bündniswahl und somit die Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands in der NATO aufgegebeneine Entscheidung, die durch westliche Zugeständnisse, darunter die Londoner NATO-Erklärung über das Ende der Feindschaft mit den Staaten Osteuropas, Abrüstungsschritte, Kostenübernahmen, Hilfslieferungen und Kredite Deutschlands an die Sowjetunion und einen Freundschaftsvertrag erleichtert wurde.

Die Motive und Abläufe, etwa auch jene der sowjetischen Gegenoffensive bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen im Mai, werden präziser eingrenzbar, ohne allerdings die letzten Fragen nach dem exakten Wann und Warum von Gorbačëvs Entscheidungen zu beantworten. Viele bezeichnende Momentaufnahmen bieten Gorbačëvs Unterredungen mit den westeuropäischen Staatschefs, die sich zwar nur allzu gerne meldeten, um ihren Widerstand gegen die Deutsche Einheit kundzutun und von Belastungen des sowjetisch-deutschen Verhältnisses zu profitieren: Italien regte an, dass die erste Auslandsreise des Generalsekretärs nicht nach Bonn, sondern nach Rom führen sollte (S. 1); Thatcher schien von Gorbačëvs Ausgrenzungspolitik gegenüber Kohl so entzückt, dass das Politbüro 1987 Ševardnadze in die Bundesrepublik entsandte, damitwie man heiter feststellteMaggie nichtvor Vergnügen platzt(S. 26 f.). Im September 1989 hielt die Eiserne Lady nicht mit ihrer Meinung zurück, dass niemand außerhalb Deutschlands die Einheit wünsche. Thatcher und Mitterrand, der sich bald entschloss, die Gelegenheit für einen Quantensprung in der europäischen Integration zu nutzen, waren aber, wie sich zeigte, für den Kreml unsichere Kantonisten, sodass sich die drei Mächte trotz einer parallelen Interessenlage nicht gegen Kohls Vorstoß zugunsten der Einheit und deren US-Unterstützung durchsetzen konnten.

Wolfgang Mueller, Wien

Zitierweise: Wolfgang Mueller über: Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986–1991. Hrsg. von Aleksandr Galkin und Anatolij Tschernjajew. München: Oldenbourg, 2011. XXXV, 640 S. = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 83. ISBN: 978-3-486-58654-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mueller_Galkin_Michail_Gorbatschow_und_die_deutsche_Frage.html (Datum des Seitenbesuchs)

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