Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Wolfgang Mueller

 

Rußlands Reformen und Reformer von Aleksandr II. bis Gorbačev und Elcin. Hrsg. von Leonid Luks, Nikolaus Lobkowitz, Alexei Rybakov, Andreas Umland und Gunter Dehnert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2011. 206 S., Abb. = Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 15 (2011), 2. ISBN: 978-3-412-20796-0.

Inhaltsverzeichnis:

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Russlands Reformen und Reformversuche beschäftigen weiterhin die Forschung, wie etwa die neue Langzeitstudie von Carol Scott Leonard über Agrarreformen von 1800 bis zur Gegenwart oder die Monographie von Larisa Zacharova über die Aufhebung der Leibeigenschaft zeigen. Die Reformen der spät- und postsowjetischen Ära harren überhaupt noch einer systematischen Erforschung. Den ersten Teil des besprochenen Themenhefts bilden acht Beiträge des im Titel genannten und von den Universitäten Eichstätt-Ingolstadt und Erlangen 2010 ebenda abgehaltenen Symposions. Die bekannten Reformer in Russland waren, wie die Koherausgeber Gunter Dehner und Leonid Luks in ihren Einleitungen festhalten,fast ausschließlich Produkte des jeweils herrschenden Systems, das sie im Laufe ihrer Entwicklung als unbedingt reformbedürftig erkannten(S. 10), wobei Luks die notwendige Differenzierung zwischen der gespaltenen Gesellschaft des zarischen Russlands und der durch den Reißwolf der Revolution und des Stalinismushomogenisiertensowjetischen einfordert. Zu diskutieren wäre ferner, wie grundlegend die totalitäre Staatsstruktur der Sowjetunion die Entfaltungsmöglichkeiten für Reformer veränderte und wo heute sinnvollerweise die Grenze zwischen Reformen und den viel zitiertenRevolutionen von obenzu ziehen ist. Während etwa Chruščëvs Entstalinisierung von Helmut Altrichter im Heft beleuchtet wird, sind Gorbačëv und Elcin nicht eigens berücksichtigt.

Die gegenläufigen Strategien im späten Zarenreich, der drohenden Revolution entweder durch Reformen von oben zuvorzukommen oder aber sie aber durch Restriktion zu unterdrücken, analysiert Luks anhand zweier konträrer Persönlichkeiten: Während Finanzminister Sergej Vitte den Staat durch Reformen wirtschaftlich konkurrenzfähig machen wollte und die Autokratie für die beste Regierungsform hielt, derart große Veränderungen einzuleiten, empfahl Konstantin Pobedonoscev als Berater Aleksandrs III. die Bewahrung der Autokratie mittels Perpetuierung der Unbildung der Bauern, Xenophobie und Abschottung. Unter den Reformern des späten Kaiserreiches untersucht Mat­thias Stadelmann weiters Michail Loris-Melikov, den populären General und Innenminister, derüber jeglichenLiberalismusverdacht‘ erhabenin Anbetracht wachsender Unzufriedenheit der Bevölkerung für deren Einbindung in den autokratischen Staat plädierte. Ein ähnliches Ziel hatte in den 1860er Jahren das Reformprojekt des Großfürsten Konstantin Nikolaevič für eineBeratende Abgeordnetenversammlung beim Staatsratverfolgt. Loris-Melikovs Appell an die Gesellschaft, welcher damit erstmals von der Politik offiziellpolitische Relevanz zugebilligtwurde (S. 38), die Vorbereitung eines gesamtstaatlichen Beratungsgremiums mit Beteiligung von Abgeordneten aus der Provinz sowie Liberalisierungsschritte in Polizei- und Steuerwesen, Bildung, Zensur und Justiz weckten Hoffnungen auf eine reformierte Autokratie. Nach dem tödlichen Attentat auf Aleksandr II. wurden der Reformer und die Pläne kaltgestellt.

Mit Aleksandr Gercen (Herzen) bezieht Vladimir Kantor eine Kontrastfigur in das Bild eineinerseits einengeborenen Dissidenten(S. 10), andererseits einen Intellektuellen, der die Grenze zum Revolutionär zumindest geistig und in seinen Aufrufen überschritt, auch wenn er in der Vorreform- und Reformzeitzwischen Hoffnungen auf Aleksandr I. [recte: II.] und revolutionären Aufrufen bakuninscher Artschwankte (S. 61). Infolge der Reaktion wandelten sich auch ausländische Russlandbesucher wie George F. Kennan und Mark Twain, dessen Rolle als Mitgründer derAmerican Friends of Russian Freedom“ John Andreas Fuchs unterhaltsam nachspürt, von Reformbegeisterten zu Revolutionsbefürwortern. Twain und dieFriends“ wurden zu vehementen Verfechtern derrussischen Sachein den USA. Mit Andrej Sacharov behandelt Ernst Wawra in seinem archivgestützten Aufsatz schließlich einen zentralen Dissidenten der Sowjetära, der das System von Innen kannte, um unter großem persönlichen Mut die Notwendigkeit eines Wandels zu artikulieren. Betrafen die anderen im Heft behandelten Reformprojekte die innere Verfasstheit Russlands, so zielten Sacharovs 1968 verfassteGedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheitauf die Gesamtheit des Dilemmas von äußerer Aggressivität und innerer Unterdrückung. Der KGB war kurz nach Abschluss des Manuskripts von einer Schreibkraft an Sacharovs Institut informiert worden, Brežnev lag dieAkte Sacharovbereits im Mai vor; der Wissenschaftsstar bezahlte seine Kritik mit politischer Ächtung und Verbannung.

Im zweiten Teil des Heftes sind drei Aufsätze zum in Heft 14/2 aus 2010 begonnenen Themenschwerpunkt überantiwestliche Strömungen im postsowjetischen Russland und ihre historischen Wurzelnversammelt. In den untersuchten Werken und Aussagen ist viel Irrationales, Xenophobes und Paradoxes zu finden, so etwa der von Michael Kirkwood analysierte Wandel des aufgrund seiner Stalinismuskritik aus der Sowjetunion ausgebürgerten Philosophen Aleksandr Zinovev, der unter dem Eindruck seines Exils in München, der Perestrojka und des Zusammenbruchs der UdSSR zum Sowjetapologeten und rabiaten Antiwestler mutierte und nach seiner Rückkehr die KPRF unterstützte. Das Wiederaufleben panslawischer Gedankenmodelle im postsowjetischen Russland und deren Einsatz für die Außenpolitik des Landes stehen im Zentrum des Aufsatzes von Michail Suslov. Die Existenz zahlreicher panslawischer Organisationen in Russland und ein hoher Prozentsatz von Befürwortern fürSonderbeziehungenzu anderen slawischen Völkern weisen laut Suslov auf die Popularität der Idee hin, die als Mobilisierungsinstrument für außenpolitische Zwecke eingesetzt werden kann und wird. Ihre Erscheinungsformen sind ein irredentistischer Panrussismus, derwie einschlägige Dumaresolutionen zeigenvor Gebietsforderungen an benachbarte Staaten mit slawischer Bevölkerung nicht zurückschreckt, bzw. einfundamentalistischer, orthodox oder auch heidnisch-rassistisch geprägter Panslawismus, die gleichermaßen antiwestliche Feindbilder produzieren bzw. instrumentalisieren. Dass sich antiwestliche bzw. antireformerische Polemiken auch im nicht per se antiwestlichen Diskurs festgesetzt haben, zeigt Suslovs Formulierung von einerservile imitation and obedience to the West(S. 156) durch Russland in den 1990er Jahren eine weit verbreitete These, die angesichts westlicher Hilfen für Russland, aber auch westlich-russländischer Meinungsverschiedenheiten etwa in Bezug auf den Balkan und Čečenien zwar unhaltbar ist, aber dennoch zur Diskreditierung von Reformen nach westlichem Vorbild und von Kompromissen der Gorbačëv- und Elcin-Ära verwendet wird, um das heutige Russland umso strahlender davon abzugrenzen.

Wolfgang Mueller, Wien

Zitierweise: Wolfgang Mueller über: Rußlands Reformen und Reformer von Aleksandr II. bis Gorbačev und El’cin. Hrsg. von Leonid Luks, Nikolaus Lobkowitz, Alexei Rybakov, Andreas Umland und Gunter Dehnert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2011. 206 S., Abb. = Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 15 (2011), 2. ISBN: 978-3-412-20796-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mueller_Forum_15_2011_2.html (Datum des Seitenbesuchs)

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