Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Michael Moser

 

Post-Panslavismus. Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert. Hrsg. von Agnieszka Gąsior, Lars Karl und Stefan Troebst. Göttingen: Wallstein, 2014. 487 S., 38 Abb. = Moderne europäische Geschichte, 9. ISBN: 978-3-8353-1410-8.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1044920505/04

 

Gerade angesichts der jüngsten politischen Ereignisse und deren ideologischer Legitimation durch die Russische Föderation kommt diesem Band ein ausgeprägter aktueller Stellenwert zu. Nach einem Vorwort der Herausgeber und einem aus zwei Beiträgen bestehenden wissenschaftlichen Prolog sind die Artikel in die Abschnitte Ideologien des Slavischen, Identitätskonzepte und Selbst-Verortungsstrategien, Mythologeme des Slavischen und Perzeptionen des Slavischen gruppiert. Einige Beiträge vermitteln eindringlich die ausgesprochen bedenklichen Momente der „slavischen Idee“: Wie die Herausgeber es im Vorwort anmerken, beruht diese ja auf „der Vorstellung eines sämtliche Slavischsprachige in Raum und Zeit verbindenden kulturellen, gar biologistischen Elements“, welches „periodisch als politisch wirksames Machtinstrument“ gebraucht wird (S. 9). Die „transnationale“ Komponente des Panslavismus erweist sich vor diesem Hintergrund letztlich als eine Chimäre; postuliert wird ja letztlich nicht etwa eine Überwindung nationaler Widersprüche, sondern lediglich eine Verlagerung auf eine vermeintlich höhere Ebene.

Stefan Troebst diskutiert in seinem Beitrag Post-Panslavism? Political Connotations of Slavic­ness in 21st Century Europe kundig die Geschichte der unterschiedlichen „slavischen Ideen“ vom Panslavismus über den Austroslavismus, Neoslavismus, Jugoslavismus bis zum Tschechoslowakismus und stellt sie in den Kontext der frühen 2000er. Vor allem zeigt er die Fragwürdigkeit der Konzeption „des Slavischen“ auf.

David Wiliams schreibt in seinem etwas aus der Reihe fallenden Beitrag Notes in/from the Margin. Slavic and East European Studies in the Anglo-American Academy vor allem über die jüngere Geschichte der Slavistik im angloamerikanischen Raum. Unter anderem beklagt er den alles erdrückenden Primat der Russistik innerhalb der ohnedies schrumpfenden slavistischen Wissenslandschaft.

In seinem zweiten Beitrag unter dem Titel Schwanengesang gesamtslavischer Einheit und Brüderlichkeit – Der Slavenkongress in Belgrad 1946 analysiert Stefan Troebst dieses Ereignis, welches einerseits als eine „Apotheose des slavischen Sieges über den Faschismus“ präsentiert wurde, andererseits aber auch den letzten Höhepunkt dieser Wiederbelebung der slavischen Idee darstellte, bevor im Jahr 1948 das jugoslawisch-sowjetische Zerwürfnis erfolgte.

Anschließend liefert Alexander Maxwell in The Legacy of Slavic Reciprocity in the First Czechoslovak Republic Belege dafür, dass Kollárs Ideen auch noch im 20. Jahrhundert fortwirkten.

Jan Claas Behrends zeigt in Stalins slavischer Volkskrieg. Mobilisierung und Propaganda zwischen Weltkrieg und Kaltem Krieg (1941–1949), dass die verlogene Legitimierung des Angriffs der Sowjetunion auf Polen am 17. September 1939 durch „eine Mischung aus sozial-revolutionären und völkisch-nationalen Argumenten“ (S. 79) erfolgte. Der panslavistische rhetorische Gestus erlebte einen weiteren Höhepunkt angesichts des Überfalls von Nazideutschland auf die Sowjetunion im Jahr 1941 und lebte noch fort zur Zeit der Ausbildung des Ostblocks, verlor aber nach dem Bruch Stalins mit Tito an Bedeutung. Eindeutig stellt Behrends fest: „Die sowjetische Interpretation der Slavischen Idee war ebenso imperial wie der Panslavismus des Zarenreiches“ (S. 107).

Jovo Bakić argumentiert in Der Jugoslawismus Josip Broz Titos – Kontinuität oder Diskontinuität auf eine diskussionswürdige Weise, dass die angebliche „kroatische Variante des minimalen Jugoslawismus“ in der Lesart Titos vor allem auf einer Schwächung Serbiens und des serbischen Nationalismus beruht habe.

Konstantin Nikiforovs Aufsatz Russland und die Slavische Idee heute – Moskauer Perspektiven wird von den Herausgebern eingeleitet, die darauf hinweisen, dass Nikiforov selbst an einer Wiederbelebung der „Slavischen Idee“ in der Russischen Föderation beteiligt war. Nikiforovs Beitrag ist entsprechend ideologisch aufgeladen. Der Autor operiert mit dem Begriffder slavischen Welt“ und beklagt sich über angebliche Versuche, „Russland von den übrigen Ländern und von Europa zu trennen“ (S. 129), sowie darüber, dass „die ostslavische Landmasse auseinandergerissen“ werde (S. 129). Er fügt hinzu, dass die Slaven dabei seien, „ihre Identität zu verlieren“ (S. 130), distanziert sich aber immerhin vom Eurasismus Aleksandr Dugins.

Ein wohltuendes Gegengewicht bietet Agnieszka Gąsiors kunstgeschichtlicher und reich illustrierter Aufsatz Slaventum und Staatspropaganda – Zofia Stryjeńskas Kunst in der Repräsentation der Zweiten Polnischen Republik.

Jenny Alwart zeigt dann in Der Eurovision Song Contest 2005 in der Ukraine – Vor­stellungen über das ,Slavische‘ und den Osten‘ in deutschen Tageszeitungen, wie in den Kommentaren zur Veranstaltung von 2005 ein ausgesprochen diffuses Bild des Slavischen konstruiert wurde. Die Autorin kommt zum überzeugenden Schluss, dass die Kategorien „Slavisches“ und „der Osten“ letztlich inhaltsleer blieben, und ruft dazu auf, „die Bilder vom ,Unbekannten‘ und ,Unberührten‘ der Ukraine aufzugeben und in der Berichterstattung zu einer wirklich ausdifferenzierten Darstellung zu gelangen“ (S. 177).

Danach erörtert Irina Sorokina in The Sokol Movement in Russia – History and Contemporary Revival, wie die in den 1860er Jahren in Böhmen entstandene Sokol-Bewegung seit den 1870ern zunächst vor allem an der Peripherie des Russischen Imperiums übernommen wurde, bis sie in den Jahren 1907 und 1908 offiziell anerkannt und für den russischen Nationalismus instrumentalisiert wurde. Außerdem weist die Autorin auf die Wiederbelebung der nun paramilitärisch ausgerichteten russisch-nationalistischen Sokol-Gruppen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hin.

Lars Karl zeigt in seinem umfangreichen Beitrag „‚Kosaken – das sind Russen, nur besser!‘ – Identitätskonzepte der russländischen Kosakenbewegung zwischen Slaventum, Nation und Imperium“, dass die russischen Kosaken seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zunehmend als „paramilitärische Verbände, quasimilitärisch organisierte Gemeinden und somit häufig auch“ als „Träger eines national-konservativen Gedankenguts“ (S. 196) in Erscheinung träten, die u. a. bei der Unterdrückung oppositioneller Ereignisse eine wesentliche Rolle spielten. Der Autor bietet eine gelungene knappe Geschichte des Kosakentums und seiner Widersprüche, zielt aber vor allem auf eine Darstellung der gegenwärtigen bedenklichen Situation ab (die Ereignissen in der Ukraine im Jahr 2014 erahnte man zum Zeitpunkt der Drucklegung des Bandes noch nicht).

Susanne Spahn bietet politologisch ausgerichtete, knappe Antworten auf die Frage, Warum die ostslavische Gemeinschaft der Russen, Belarussen und Ukrainer gescheitert ist, wobei sie sich ganz auf die postsowjetische Periode beschränkt.

Jolanta Sujecka behandelt dann Makedonien zwischen Slavischer Idee und Balkanföderation – Zentrale Begriffe und Topoi aus der Formierungsphase der makedonischen Nationalbewegung aus diskursanalytischer Sicht. Wie sie betont, spielte „die slavische Idee“ in Makedonien nie eine tragende Rolle.

Das Gegenteil gilt für den Gegenstand von Tanja Zimmermann: Die Schlacht auf dem Amselfeld im Spiegel der internationalen Politik – Permutationen eines panslavistischen Mythos vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Wie Zimmermann zeigt, wurde der Mythos nicht nur im serbischen, sondern auch im russischen nationalistischen Diskurs instrumentalisiert.

Andriy Portnov schreibt anschließend ausführlich und kenntnisreich über Die Herkunft der Rus in der russischen, ukrainischen und sowjetischen Historiografie – Variationen des Panslavismus der Theorien von Volodymyr Parchomenko, wobei er das Thema über Parchomenkos Ansichten und deren Rezeption hinaus ausleuchtet.

Rüdiger Ritter versucht in Nationalismus, Panslavismus oder Kultur der Region? – Die Konstruktion nationaler Musikkulturen am Beispiel Polens, Litauens und Weißrusslands, Panslavismus als einen „seiner Natur nach“ „übernationale[n] Ordnungsversuch mit einem grundsätzlich inklusiven Charakter“ darzustellen. Dies verwundert, da doch der Panslavismus alles „Unslavische“ ausschließt, wie ja gerade der hier einbezogene Fall der Litauer verdeutlicht. Dass vor allem die Musik eigentlich ein besonders ausgeprägtes transnationales Potenzial in sich birgt, überrascht nicht.

Über den slavischen Bereich hinaus blickt auch Ruža Fotiadis in Christenbrüder und Türkenfreunde – Griechisch-serbische Beziehungsbilder. Fotiadis zeigt anschaulich, wie es dazu kam, dass sich „die Vorstellung von der Existenz einer traditionellen und historischen griechisch-serbischen Freundschaft […] seit dem 19. Jahrhundert in der öffentlichen Meinung Griechenlands durchsetzen“ (S. 387) konnte.

Adamantios Skordos wiederum behandelt in seinem bemerkenswerten Beitrag Vom ,großrussischen Panslavismus‘ zum ,sowjetischen Slavokommunismus‘ – Das Slaventum als Feindbild bei Deutschen, Österreichern, Italienern und Griechen das Phänomen des Antislavismus als eine Reaktion auf den Panslavismus. Er meint, dass „die Vorstellung von einer Gemeinschaft aller Slaven bei nicht-slavischsprachigen Europäern stark verbreitet war – wohl stärker als innerhalb der betroffenen Gruppe selbst“ (S. 390), während nationale Feindseligkeiten trotz allem vorwiegend gegen „einzelne slavische Nationen“ (S. 390) gerichtet gewesen seien. Vor allem weist der Autor darauf hin, dass die Begriffe „Slaven“, „Slaventum“ und „Panslavismus“ „unreflektiert“ und „undifferenziert“ verwendet wurden (S. 390).

Konstantin Tsimbaev analysiert anschließend in Der sowjetische Topos vom deutschen ,Drang nach Osten‘ – Historische, ideologische und wissenschaftliche Ursprünge die Geschichte dieser Formel auf bestechend sachliche Weise.

Zaur Gasimovs abschließender Beitrag Vom Panslavismus über den Panturkismus – Die russisch-türkische Ideenzirkulation und Verflechtung der Ordnungsvorstellungen im 20. Jahrhundert betont, wie sich der Panturkismus in einer „Ideenzirkulation zwischen Russland und der Türkei, der slavischen und der türkischen Welt“ (S. 450) entwickelte, und zwar vor allem als Reaktion auf „die Türkei- und türkenkritische Haltung der Panslavisten“ (S. 470).

Im Anhang des Bandes finden sich ein knapp gehaltenes Verzeichnis der Autorinnen und Autoren, ein Abbildungsverzeichnis und ein farbig gestalteter Tafelteil.

Dieser facettenreiche Band ist ein echter Gewinn; der Herausgeberin und dem Herausgeber ist zu danken.

Michael Moser, Wien

Zitierweise: Michael Moser über: Post-Panslavismus. Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert. Hrsg. von Agnieszka Gąsior, Lars Karl und Stefan Troebst. Göttingen: Wallstein, 2014. 487 S., 38 Abb. = Moderne europäische Geschichte, 9. ISBN: 978-3-8353-1410-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Moser_Gasior_Post-Panslavismus.html (Datum des Seitenbesuchs)

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