Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Stalin and Europe. Imitation and Domination, 1928–1953. Ed. by Timothy Snyder / Ray Brandon. New York: Oxford University Press, 2014. XII, 326 S., 2 Ktn. ISBN: 978-0-19-994558-0.

Inhaltsverzeichnis:

https://global.oup.com/academic/product/stalin-and-europe-9780199945580?cc=de&lang=en&#

 

Der zu besprechende Band hinterlässt einen etwas zwiespältigen Eindruck. Erstens ist es schwierig, diesen Titel wirklich als Zusammenfassung der zwölf Beiträge zu sehen. Die Themen sind zwar sehr vielfältig, aber nur die drei letzten Aufsätze beziehen sich explizit auf die Beziehungen zwischen Stalin und Europa, und auch dies nur bezüglich der Außenpolitik. Von der Imitierung europäischer Praktiken, die im Titel angekündigt wird, ist nur ausgesprochen wenig zu lesen, und die Dominanz über Europa wird maßgeblich nur in den drei bereits erwähnten Beiträgen behandelt. Anders gesagt, der Sammelband erfüllt nicht die durch den Titel geweckten Erwartungen. Zweitens kommt einem informierten Leser vieles bekannt vor. Nach Einschätzung des Rezensenten referieren mindestens die Hälfte der Aufsätze vorwiegend bereits Publiziertes und in der Forschung Geläufiges, während nur die zweite Hälfte mit neuen Studien aufwarten kann.

Timothy Snyder versucht in seiner Einleitung die Beziehung von Stalinismus und Europa in einem vierstufigen, chronologischen Schema zu verorten: 1. Die Anwendung eines europäischen Entwurfs der Modernisierung in der UdSSR; 2. Die Implementierung von gereiften sowjetischen Praktiken auf die von der sowjetischen Seite 1939 und 1940 annektierten Territorien; 3. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion und die Okkupation sowjetischer Gebiete; 4. Die Neuordnung Osteuropas nach dem Krieg als eine Pufferzone im Falle einer möglichen Aggression und der Export von Regimen sowjetischen Typs dorthin. Für jede Stufe sollen drei Aufsätze stehen. Doch es gelingt Snyder nicht wirklich, die Beiträge zu einem Leitthema zu verknüpfen, und das Schema erscheint ziemlich holzschnittartig. Daher wirkt der Band eher wie eine Festschrift oder die Publikation einer disparaten Vortragsreihe. Wie lassen sich auch der Gulag als Mittel der inneren Kolonialisierung, die Flucht aus Kasachstan nach China während der durch die Kollektivierung verursachten Hungersnot, Auslandsspionage, drei Aufsätze zu Ostpolen unter sowjetischer Herrschaft 1939–1941, drei Beiträge zur deutschen Okkupation in der Sowjetunion sowie drei Arbeiten zur sowjetischen Außenpolitik und ihren Intentionen zwischen 1939 und 1953 zu einem sinnvollen Ganzen verbinden? Snyders Einleitung ist weiterhin nachlässig geschrieben, er referiert die Beiträge fehlerhaft wie im Falle des Holocausts in der Ukraine (S. 10), oder er kennt die wesentlichen Fakten nicht, wenn er die komplette Deportation von Völkern in der UdSSR in der Nachkriegszeit verortet (S. 12).

Auf alle zwölf Aufsätze kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden, doch sie wurden mehrheitlich von renommierten Autoren verfasst und sind mit Sicherheit lesenswert. Wie erwähnt, fasst ein Teil bereits Bekanntes, oftmals Publikationen des Verfassers, zusammen, aber ein solider Überblick kann sicherlich nicht schaden. Wirklich interessant wird es aber erst bei den Beiträgen, die etwas Neues zu sagen haben oder etwas, was in der Forschung noch nicht breiter rezipiert wurde.

Sarah Cameron untersucht die Situation während der Hungersnot in Kasachstan und die Flucht nach China. Die Grenze war lange Zeit porös gewesen und die dortigen Nomaden waren es gewöhnt, sie zu passieren. Entgegen sowjetischer ideologischer Überzeugungen handelte es sich bei den Flüchtlingen oftmals um Vertreter der unteren Schichten, und die UdSSR schloss die Grenze schließlich mit Gewalt, wobei auch Fliehende erschossen wurden.

Hiroaki Kuromiya und Andrzej Peploński behandeln das Thema der deutschen, polnischen und japanischen Spionage gegen die Sowjetunion, die zu einem Leitmotiv des Großen Terrors wurde, aber letztlich keine reale Bedrohung darstellte. Stattdessen erwies sich die sowjetische Auslandsspionage als viel erfolgreicher.

Rafał Wnuk beschäftigt sich recht deskriptiv mit dem polnischen Untergrund im sowjetisch annektierten Ostpolen 1939–1941. Marek Wiezbicki betritt weitgehend Neuland, wenn er die sowjetische Wirtschaftspolitik in Ostpolen untersucht, er geht aber nicht wirklich in die Tiefe und kommt zu dem etwas überraschenden Schluss, dort seien schnell Subventionen Moskaus nötig gewesen. Aus dem deutlich besser erforschten Baltikum wissen wir um die großangelegte Ausbeutungspolitik nach der Annexion, und es steht zu erwarten, dass dies in Ostpolen nicht anders war.

Der bekannte Experte für den Kalten Krieg Mark Kramer ist gar mit zwei Beiträgen vertreten, interessanter als der Aufsatz über die Einrichtung eines kommunistischen Blocks in Osteuropa ist jedoch der über den Bruch Jugoslawiens mit Stalin und die Bestrebungen, das Land mit Hilfe der osteuropäischen Verbündeten möglicherweise in einem Krieg niederzuringen.

Zusammenfassend gesagt, die einzelnen Beiträge sind sicherlich lesenswert – ob als Überblick über den Forschungsstand oder als interessante Fallstudien –, doch dem Band fehlen die Kohäsion und ein durchgängiges Konzept. Vor dem Erwerb des Buches sollte sicherlich das Inhaltsverzeichnis gründlich konsultiert werden, um Enttäuschungen zu vermeiden. Der Titel leitet jedenfalls in die Irre.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Stalin and Europe. Imitation and Domination, 1928–1953. Ed. by Timothy Snyder and Ray Brandon. New York: Oxford University Press, 2014. XII, 326 S., 2 Ktn. ISBN: 978-0-19-994558-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mertelsmann_Snyder_Stalin_and_Europe.html (Datum des Seitenbesuchs)

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