Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Jennifer Siegel: For Peace and Money. French and British Finance in the Service of Tsars and Commissars. New York: Oxford University Press, 2014. XV, 306 S. = Oxford Studies in International History. ISBN: 978-0-19-938781-6.

Diese Studie wirft Licht auf die russische Staatsverschuldung im Ausland im Zeitraum von 1894 bis 1922 und ist die Frucht von umfangreichen Archivrecherchen in Frankreich, Großbritannien und Russland. Die Autorin verortet ihre Untersuchung nicht in erster Linie als eine Finanz- oder Wirtschaftsgeschichte, sondern als einen Beitrag zu den finanziellen und diplomatischen Beziehungen des Zarenreichs zu seinen beiden wichtigsten Verbündeten im Ersten Weltkrieg – Frankreich und Großbritannien. Hierbei betont sie besonders auch die Bedeutung von persönlichen Beziehungen der beteiligten Bankiers und Politiker. Das Werk liefert mit Sicherheit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Themas, dass jedoch, wie auf dem Buchumschlag vermerkt, diese tatsächlich zu „Gefangenen der russischen Schulden“ wurden, erscheint als überinterpretiert. Im Fließtext argumentiert die Autorin dann weniger provokativ.

Jennifer Siegel schreibt einen gut lesbaren Stil und zeigt eine große Meisterschaft darin, im Archiv und in veröffentlichten Quellen einschlägige Zitate der handelnden Personen zu finden. Auf die Dauer wird der Leser aber ein wenig durch die aufeinanderfolgenden, detaillierten Beschreibungen über die Verhandlungen zu Krediten und Anleihen Russlands ermüdet. Ein weiterer Schwachpunkt der Arbeit liegt darin, dass die Verfasserin den Verlauf der russischen Staatsverschuldung nicht tabellarisch aufarbeitet und ökonomisch analysiert. Wir erfahren zwar mehrfach im Text, Russland sei der größte Schuldner Europas gewesen, aber die wenigen Daten muss sich der Leser an mehreren Stellen zusammensuchen. Wie stieg die Auslandsverschuldung im Untersuchungszeitraum an? In welchem Verhältnis stand sie zur inländischen Verschuldung? Was war der durchschnittliche Zinssatz? Wie hoch war die Verschuldung pro Kopf, also war sie noch tragbar? Wie hoch lag die Pro-Kopf-Verschuldung in anderen europäischen Staaten? Der Rezensent hat nämlich den Verdacht, dass Russland eben als bevölkerungsreichstes Land des Kontinents zum größten Schuldner wurde. Aus heutiger Perspektive wäre es auch interessant, die Verschuldung in Relation zu einem geschätzten Bruttosozialprodukt zu setzen. Im Text werden wiederholt für die Auslandskredite Beträge in Rubeln genannt, doch es ist nicht immer eindeutig klar, ob es sich um Gold-, Silber- oder Pa­pier­rubel handelt. Einige Seiten wirtschaftliche Daten und Diskussion hätten den Gebrauchswert dieser Untersuchung deutlich erhöht.

Ursprünglich waren deutsche Banken die wichtigsten Kreditgeber des Zarenreichs gewesen, doch nachdem Otto von Bismarcks Russlandpolitik zu einer Abkühlung der Beziehungen geführt und den Finanzierungshahn zugedreht hatte, trat Frankreich an die Stelle des Deutschen Reichs. An dieser Stelle setzt Siegels Narrativ im Jahr 1894 ein, als die sprichwörtlichen französischen Rentiers begannen, in größerem Umfang russische Staatsanleihen zu zeichnen. Russland galt als ein guter Schuldner, und die vermittelnden französischen Banken vermochten es, entsprechende Kommissionsgebühren einzustreichen. In den folgenden Jahren wurden immer neue Anleihen platziert, und auch die Rothschilds kamen an Bord und unterstützten die Politik des russischen Finanzministers Sergej Vitte. Das Russische Reich benötigte das Geld zur Modernisierung wie zum Ausbau des Eisenbahnnetzes, zur Stabilisierung der Währung, zur Einführung des Goldstandards und zur Industrialisierung. Frankreich hingegen war damals ein Kapitalexporteur, auch weil es für die Anleger oftmals lukrativer war, ihre Ersparnisse im Ausland zu investieren als innerhalb des Landes. Laut Siegel ließen sich offensichtlich auch französische Zeitungen dahingehend beeinflussen, ein geschöntes Bild von der Situation in Russland zu zeichnen.

Im folgenden Kapitel geht die Autorin auf die Herausforderungen des russisch-japanischen Krieges und der ersten Russischen Revolution ein. Kurzzeitig erfolgte die Kriegsfinanzierung auch aus Deutschland, die Pogrome in Russland wurden von den Rothschilds negativ aufgenommen und mit John Baring von den Baring Brothers wurde ein wichtiger Partner im Vereinigten Königreich gefunden. Als Folge der britisch-russischen Annäherung kam es dann zu einer britischen Teilnahme am Darlehen 1906. Im dritten Kapitel wird der Wandel der Finanziers des Zarenreichs bis 1913 behandelt. Da die Möglichkeiten des Staats zur Schuldenaufnahme begrenzt waren, nahm nun die Bedeutung der Kreditaufnahme durch die Kommunen und für den Bau von Eisenbahnen zu. London gewann als Finanzplatz für das Russische Reich beständig an Bedeutung.

Sicherlich hat die Verfasserin recht, wenn sie die Entwicklung der finanziellen Beziehungen in ein Verhältnis zu den diplomatischen zwischen Russland und Frankreich und später auch Großbritannien setzt, doch mitunter wird die Bedeutung der russischen Schulden etwas übertrieben. Das Russische Reich konnte eben nicht seinen Gläubigern die Bedingungen diktieren. Es waren in erster Linie politische und nicht finanzielle Gründe, die zur Triple-Entente führten. An anderen Stellen überzeichnet Siegel ebenfalls die Wichtigkeit der Auslandsschulden. Wiederholt schlägt sie einen alarmierenden Ton an und der Leser hat den Eindruck, der russische Staat befinde sich in starker Abhängigkeit vom ausländischen Geld. Französische Gläubiger hielten laut der Autorin bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs 80 % der russischen Staatsschulden im Ausland; in britischer Hand waren 16 % (S. 2), zusammen belief sich dies auf 425 Millionen Rubel (S. 125), während der Staatshaushalt 1913 2,5 Milliarden Rubel betrug (S. 128). Kein EU-Land verfügt heute über so eine geringe Verschuldung. Selbst wenn die Inlandsverschuldung in einer ähnlichen Größenordnung lag wie die Auslandsschulden, war diese Verschuldung in Friedenszeiten keine wirkliche Belastung, es sei denn, Siegels Zahlen sind falsch.

Im vierten Kapitel geht es um die Finanzierung der enormen Kosten eines modernen Krieges, des Ersten Weltkriegs; dies war für alle europäischen Kriegsparteien nur durch eine starke Verschuldung zu leisten. Das Zarenreich bildete hier keine Ausnahme, sondern verfügte wegen seiner relativen Rückständigkeit über einen noch höheren Finanzierungsbedarf. Großbritannien trat an die Stelle Frankreichs als wichtigster Finanzier Russlands, doch wegen der Bedeutung einer zweiten Front ist dies auch gut nachvollziehbar. Leider erwähnt Siegel nicht, wie sich die Inlandsschulden im Krieg entwickelten, und sie behandelt die Februarrevolution zu kurz.

Das letzte Kapitel thematisiert die Zeit nach der Oktoberrevolution bis 1922. Ausländisches Vermögen wurde ebenso wie inländisches verstaatlicht, Schulden der zarischen Regierung wurden nicht mehr anerkannt. Trotzdem blieb der Wert der russischen Staatsanleihen anfangs noch relativ hoch. Es gab noch Hoffnungen, dass diese Anleihen trotz der Revolution von Frankreich und Großbritannien bedient würden. Doch diese Praxis endete im April 1918. Französische Gläubiger konnten ihre Anleihen zur Hälfte des Nennwerts in französische Staatsanleihen umtauschen. Die Interventionen der Entente im Russischen Bürgerkrieg standen sicherlich auch in einem Zusammenhang mit der Schuldenfrage.

Ein Epilog rundet die Untersuchung ab und geht auch auf die Frage der russischen Altschulden nach dem Ende der Sowjetunion ein; andererseits liefert er eine Zusammenfassung der Argumentation der Autorin.

Insgesamt handelt es sich um eine gelungene Darstellung, deren Stärke vor allem in der Betonung von Persönlichkeiten bei der finanziellen Diplomatie liegt. Leider sind die wirtschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge unterbelichtet, und mitunter wird der Text etwas deskriptiv. Auch überzieht die Autorin einige Thesen. Trotzdem wird der interessierte Leser viel Neues über dieses Thema entdecken.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Jennifer Siegel: For Peace and Money. French and British Finance in the Service of Tsars and Commissars. New York: Oxford University Press, 2014. XV, 306 S. = Oxford Studies in International History. ISBN: 978-0-19-938781-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mertelsmann_Siegel_For_Peace_and_Money.html (Datum des Seitenbesuchs)

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