Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reivews 7 (2017), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Małgorzata Ruchniewicz: Das Ende der Bauernwelt. Die Sowjetisierung des westweißrussischen Dorfes 1944–1953. Göttingen: Wallstein, 2015. 504 S., 17 Tab. = Moderne europäische Geschichte, 11. ISBN: 978-3-8353-1403-0.

Diese Monographie erweitert mit Sicherheit unser Wissen über das westweißrussische Dorf nach dem Zweiten Weltkrieg, doch sie weist auch einige Schwachpunkte auf. Das polnische Original erschien bereits im Jahr 2010 und es wurde dankenswerterweise übersetzt, doch die Übersetzung erscheint an manchen Stellen als etwas holprig vor allem wegen einiger Wortwiederholungen und gewisser Unsicherheiten in der Terminologie. Die Prosa der Verfasserin ist nicht immer leicht lesbar, sie tendiert zu überlangen Absätzen und einer bestimmten Faktenlastigkeit. Offensichtlich wurde die Arbeit aber um die neuere Literatur ergänzt. Aufgelockert wird der Text durch Tabellen, doch ein Tabellenverzeichnis fehlt ebenso wie ein Register. Der Band gehört zu einer ganzen Reihe von Forschungsarbeiten zur Sowjetisierung der von der UdSSR 1939 und 1940 annektierten Gebiete, doch ein Vergleich beispielsweise zum Baltikum oder zu Moldawien wird praktisch nicht gezogen.

Małgorzata Ruchniewicz hat vor allem in weißrussischen und polnischen Archiven gearbeitet, aber auch im Bundesarchiv. Die einschlägigen Moskauer Archive aber fehlen und hätten sicherlich einige Ergänzungen geboten. Weiterhin stützt sie sich auf zahlreiche Dokumentenpublikationen und auf eine etwas knappe Auswahl an Sekundärliteratur. Sie nutzt vor allem die Sicht des Staates, während die Perspektive der Betroffenen, der Bauern, etwas unterbeleuchtet bleibt. Hier hätten Lebensbeschreibungen und dergleichen abgeholfen, die jedoch laut Aussage der Verfasserin nicht in geeigneter Qualität vorliegen. Die Arbeit behandelt allerdings auch die Handlungsspielräume und die Reaktionen der Bevölkerung.

Aus Sicht des Rezensenten besteht eine große Schwachstelle der Monographie in einem zu geringen Eingehen auf die Landwirtschaft selbst, um die sich auf dem Dorf letztlich alles drehte. Wir erfahren zwar sehr viel über die Verteilung des Landbesitzes, aber wenig über Ernteerträge, Preise, die Zahl der Nutztiere usw., wovon sich ungefähr ableiten ließe, wie die wirtschaftliche Entwicklung verlief. Entsprechende Daten wurden ja von den zuständigen statistischen Behörden erhoben und sollten heute problemlos zugänglich sein. Eindeutig ist, dass Westweißrussland wie die übrigen Gebiete Ostpolens eine arme Region war, die unter Landmangel und zu kleinen Höfen litt, rückständig war sowie kulturell unterentwickelt.

Als sehr positiv erscheint hingegen, dass die Autorin umfangreich auf den Zeitraum vor ihrer Untersuchungsperiode eingeht, wenn auch im Wesentlichen nur auf Basis der Sekundärliteratur und von Dokumentenpublikationen. Sie behandelt die ethnische und die religiöse Frage kenntnisreich und weist auch sonst auf viele Details hin, die dem durchschnittlichen Leser unbekannt sind.

Die Arbeit verfügt über eine umfangreiche Einleitung, fünf Kapitel, eine Zusammenfassung sowie über ein Quellen- und Literaturverzeichnis. Die Einleitung führt gekonnt in das Thema und den aktuellen Forschungsstand ein. Die Gliederung erscheint insgesamt überzeugend. Im ersten Kapitel wird die Vorgeschichte tiefgreifend behandelt. Die sozioökonomische Situation der Region in der Zwischenkriegszeit wird ausführlich beschrieben, als das Gebiet Bestandteil der Kresy der Republik Polen war, ebenso wie die Bestrebungen zum Zurückdrängen des Weißrussischen in diesem hauptsächlich von Weißrussen, Polen und Juden besiedelten Gebiet. Am 17. September 1939 wurde Ostpolen dann von der Sowjetunion besetzt, und fast zwei Jahre der Sowjetisierung mit Verhaftungen und Massendeportationen schlossen sich an. Hierbei vergisst die Autorin zu erwähnen, dass Ostpolen zum Modell für später zu annektierende Territorien wurde, und sie geht auch nicht auf den sinkenden Lebensstandard wegen des Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft ein. Das Dorf war von einer Landreform betroffen, und erste Kolchosen bildeten sich. Die spätere Grenzziehung in den nordöstlichen Wojewodschaften Polens war noch nicht eindeutig geklärt, einige Territorien sollten an Litauen, andere an die Ukrainische SSR fallen, die Mehrheit aber an die Belorussische SSR. Die deutsche Okkupation und der Generalbezirk „Weißruthenien“ werden knapp, aber eindringlich dargestellt. Durch den Holocaust verschwand mit den Juden eine der drei dominierenden Ethnien der Region, der deutsche Terror sollte aber die ganze Gesellschaft treffen bei bis heute unbekannten Opferzahlen. Die Bauernschaft wurde durch die Agrar­politik der Besatzer demotiviert, es kam zu polnisch-weißrussischen Konflikten, und der Partisanenkampf spielte ebenfalls eine Rolle.

Im zweiten Kapitel kommt die Autorin dann zu ihrem eigentlichen Untersuchungszeitraum, der Nachkriegszeit. Sie schildert eindringlich die Rückkehr der Sowjets, die Auseinandersetzungen auf dem Dorf zwischen Bauern, sowjetischen Funktionären und Partisanen sowie die Migrationsprozesse. Es erfolgte ein „Bevölkerungsaustausch“ mit Polen und die Dörfer wurden weißrussischer. Die Region wurde langsam befriedet und der sowjetische Verwaltungsapparat aufgebaut, wobei zahllose Experten aus dem Osten der Sowjetrepublik mithalfen. Erneut kam es zu Säuberungen und Deportationen.

Im dritten Kapitel geht Ruchniewicz auf die Agrarpolitik der Jahre 1944–1947 ein. Die vor dem deutschen Überfall gegründeten Kolchosen sollten wiederhergestellt werden, doch an eine Zwangskollektivierung wurde vorerst nicht gedacht. Höfe sollten nach dem Krieg wiederaufgebaut und in das sowjetische Wirtschaftssystem eingebunden werden. Die Last der Zwangsablieferungen, für die viel zu niedrige Preise entrichtet wurden, und der Steuern war jedoch enorm. Die Verfasserin geht nicht auf die Folgen der Hungersnot von 1946–1947 ein, die überall im Westen der UdSSR zu spüren waren, auch außerhalb der Hungergebiete. Doch Heerscharen von Hungerflüchtlingen gab es sicherlich auch in Westweißrussland, sie wurden ja von den noch privaten Bauernhöfen angezogen.

Im Folgekapitel wird die Kollektivierung der Landwirtschaft behandelt, für die betroffenen Bauern sicherlich zumeist der tiefste Einschnitt ihres Lebens. Eingeleitet durch weitere Steuererhöhungen und den Kampf gegen Kulaken, begleitet von Propaganda und Druck, aber ohne Massendeportationen wie im Baltikum 1949, gelang es, innerhalb weniger Jahre die Zwangskollektivierung durchzuführen. Ausführlich beschreibt Ruch­nie­wicz die Überlebensstrategien der Bauern, doch sie behandelt nicht die wirtschaftlichen Motive, die hinter der Kollektivierung standen, nämlich die Steigerung der Ablieferungen der Landwirtschaft und das Niedrighalten des Lebensstandards der Bauern. Dies ist am Beispiel der Sowjetunion in den Vorkriegsgrenzen inzwischen hinreichend belegt.

Im letzten Kapitel untersucht die Autorin verschieden Maßnahmen der Indoktrinierung der Landbevölkerung wie den Kampf gegen die Religion, die allgemeine agitatorische Arbeit sowie die Hebung der sozialen Stellung der Frauen. Insbesondere die letztere Frage erscheint sehr interessant, während es über die atheistische Politik der Sowjetunion im Allgemeinen inzwischen schon reichlich Literatur gibt.

Insgesamt handelt es sich um ein lesenswertes Buch mit einigen Schwächen. Es eignet sich wohl nicht für den Nachttisch, doch der Leser erfährt viel Neues.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Małgorzata Ruchniewicz: Das Ende der Bauernwelt. Die Sowjetisierung des westweißrussischen Dorfes 1944–1953. Göttingen: Wallstein, 2015. 504 S., 17 Tab. = Moderne europäische Geschichte, 11. ISBN: 978-3-8353-1403-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mertelsmann_Ruchniewicz_Das_Ende_der_Bauernwelt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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