Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Natalija Lebina: Mužčina i ženščina. Telo, moda, kul’tura. SSSR – ottepel’. Moskva: NLO, 2014. 205 S., zahlr. Abb. = Biblioteka žurnala „Teorija mody“. ISBN: 978-5-4448-0186-4.

Das zu besprechende Werk kann, trotz seines eher geringen Umfangs, als überaus gelungen bezeichnet werden. Die russische Sozialhistorikerin Natalija Lebina betritt weitgehend Neuland bei ihrer Untersuchung von Männer- und Frauenrollen während des so genannten Tauwetters in der Sowjetunion. Dies tut sie auf einer ausgesprochen breiten Literatur- und Quellengrundlage und wohl strukturiert. Der Text ist gut lesbar – einzig einige zu lange Zitate wirken etwas störend – und kommt weitgehend ohne Jargon aus. Denn die Autorin untersucht eher die Alltagsgeschichte, als sich zu sehr auf Gendertheorien einzulassen. Zahlreiche Fotos in der Mitte des Buches sorgen für eine Illustrierung des Geschriebenen.

Die Grundlage für ihre Untersuchung bilden Archivquellen, offizielle Verlautbarungen, zeitgenössische Zeitungen und Zeitschriften, die Ergebnisse von Umfragen und zeitgenössischer soziologischer Forschung, Memoiren, Kinofilme und schöne Literatur (darunter auch ausländische Werke, soweit sie das sowjetische Publikum damals erreichten), Dokumentarfilme und natürlich die Fachliteratur. Letztere rezipiert Lebina allerdings nur auf Russisch. Historiker, die nicht übersetzt worden sind, werden ignoriert. Trotz dieses kleinen Einwands erscheint das verwendete Material überaus reichhaltig und erlaubt ein differenziertes Bild. Auch setzt sich die Autorin kritisch mit der Problematik von Ego-Dokumenten auseinander, welche sie häufiger zitiert.

In ihrer Einleitung stellt die Verfasserin die Fragestellung vor. Sie lässt, wie dies bei vielen anderen Autoren der Fall ist, die Zeit der Entstalinisierung im Jahr 1968 enden und geht auf die große Bedeutung der gesellschaftlichen Liberalisierung an allen Fronten ein. Das stalinistische oder – wie sie sagt – das totalitäre Modell von ehelichen Beziehungen und Geschlechterverhältnissen, von Mutter- und Vaterschaft sowie des Sexualverhaltens änderten sich während des Tauwetters tiefgreifend. Das Privatleben wurde wichtiger, es formierte sich eine nichtformale Sphäre. Lebina gliedert, wie dies der Titel andeutet, ihr Thema in drei Problemblöcke, den Körper, die Mode und die Kultur. Während sich die ersten beiden Blöcke in jeweils fünf Kapiteln niederschlagen, wird Kultur eher als ein roter Faden verstanden, der sich durch das ganze Buch zieht durch die Verwendung von Dokumenten unterschiedlicher Typen, die Darstellung der staatlichen Einstellung zu verschiedenen Fragen, der Art des Erwachsenwerdens oder der Haltung zur Sexualität.

Auf die Einleitung folgen zehn Kapitel, die zwar auch einzeln als Aufsätze gelesen werden könnten, doch trotzdem ein ganzheitliches Bild entstehen lassen, und zum Schluss rundet ein mit drei Seiten etwas zu kurzes Fazit das Werk ab. Die Kapitel sind ähnlich aufgebaut. Erst führt Lebina in das Thema ein, dann behandelt sie ausführlich die Vorgeschichte, wobei sie mitunter bis zur Zarenzeit zurückgeht, und der Hauptteil bleibt der Periode der Destalinisierung vorbehalten, wobei sie auch in dieser Phase noch den Unterschied zwischen den fünfziger und den sechziger Jahren hervorhebt. Der Leser wird nicht nur bestens informiert und erhält neue Einblicke, sondern die Linie der Argumentation wird überzeugend in den sowjetischen Gesamtkontext eingeordnet.

An dieser Stelle ist kein Raum, um auf den Inhalt jeden einzelnen Kapitels vertieft einzugehen, doch eine Übersicht sollte gegeben werden. Die ersten fünf Kapitel behandeln Fragen des Körpers. Im ersten geht es um das Anknüpfen von Bekanntschaften und die Bedeutung von Tanzveranstaltungen, auf denen damals mehr als ein Viertel der sowjetischen Paare sich kennenlernte. War das Tanzen insbesondere von „westlichen“ Tänzen lange Zeit angefeindet worden, machte sich unter Nikita Chruščev eine Liberalisierung und Verwestlichung breit. Im nächsten Kapitel geht Lebina auf die Sexualität vor und in der Ehe, aber auch auf die mangelhafte sexuelle Aufklärung oder die fehlenden Räumlichkeiten für ungestörten Sex ein. Das dritte Kapitel thematisiert die Eheschließung und wie sich deren Rituale änderten. Leider untersucht die Autorin an dieser Stelle nicht näher kirchliche Trauungen, die es als „Relikt der Vergangenheit“ ja noch weiter gab. Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Reproduktion, dem Abort sowie der Verhütung und schließt sich somit an die Arbeiten an, welche diesen Themenbereich für die Periode des Stalinismus beschrieben haben. Der Abort wurde 1955 erneut legalisiert und die Zahlen der Abtreibungen nahmen zu, doch wegen des Mangels an Kontrazeptiva und des lückenhaften Wissens über Verhütungsmethoden war die Autonomie der Sowjetbürger bezüglich der Reproduktion sicherlich eingeschränkt. Das fünfte Kapitel thematisiert den Ehebruch sowie das Verfahren der Scheidung, welches im Untersuchungszeitraum deutlich erleichtert wurde. Daran schließen sich Kapitel zur Mode an. Im sechsten beleuchtet Lebina das „Geheimnis der Schönheit“ – das Verhältnis von Natürlichkeit und Künstlichkeit. In den sechziger Jahren wandelte sich das Schönheitsideal vom Natürlichen zum Künstlichen und somit auch die Weiblichkeit und die Männlichkeit. Frisurenmoden, Kosmetika, im Einzelfall auch plastische Chirurgie sorgten laut Lebina für eine Zunahme „künstlicher“ Schönheit. Anfang der sechziger Jahre befand sich die wichtigste Schönheitsklinik der UdSSR in Leningrad, die ein umfangreiches Programm anbot. Im Folgekapitel geht die Autorin auf die Genderlinie in der Mode ein und darauf, wie sich die Bekleidung entstalinisierte und verwestlichte. Kapitel 8 untersucht in bester sozialhistorischer Manier, wie die Menschen unter den Bedingungen der Mangelwirtschaft zurechtkamen und doch irgendwie Zugang zu modischer Bekleidung ergatterten. Die sowjetische Bekleidungsindustrie war zugunsten der Schwerindustrie lange Zeit vernachlässigt worden, und ihre ohnehin zu geringe Produktion galt eher als primitiv und nicht chic. Also sollten staatliche Schnei­der­ateliers für Abhilfe sorgen, doch sie waren für die breite Bevölkerung kaum zugänglich. Stattdessen wurde eifrig zuhause genäht, und Schneiderinnen oder Schneider, Schuster und andere Handwerker waren auf eigene Rechnung tätig, um die Bevölkerung einzukleiden. „Spekulanten“ versorgten den Markt mit Defizitwaren, die auch von ausländischen Touristen stammen konnten, und Beziehungen (blat) spielten eine große Rolle. Hinzu kamen noch legale Importe aus dem Ausland, die in den sowjetischen Handel gelangten. Im neunten Kapitel wird die Bedeutung synthetischer Stoffe als Material für die Bekleidung behandelt, und das letzte untersucht Unisex-Kleidung in ihrer sowjetischen Variante.

Alles in allem handelt es um eine sehr empfehlenswerte Untersuchung. Wer sich für die allgemeine Sozialgeschichte des Tauwetters interessiert, sollte sie ebenfalls unbedingt lesen. Das Verhältnis der Geschlechter wird zwar nicht so intensiv behandelt, wie Titel und Einleitung erwarten lassen, doch dies mindert den Wert dieser Pionierstudie kaum. Einen kleinen Kritikpunkt kann sich der Rezensent allerdings nicht verkneifen: Die Autorin verwendet immer wieder den Begriff Demokratisierung als Synonym für Liberalisierung, doch von einer Demokratisierung im Sinne des Wortes war die UdSSR noch weit entfernt. Trotz kleiner Einwände kann der Autorin zu diesem Werk nur gratuliert werden; es erweitert unser Wissen erheblich.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Natalija Lebina: Mužčina i ženščina. Telo, moda, kul’tura. SSSR – ottepel’. Moskva: NLO, 2014. 205 S., zahlr. Abb. = Biblioteka žurnala „Teorija mody“. ISBN: 978-5-4448-0186-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mertelsmann_Lebina_Muzcina_i_zenscina.html (Datum des Seitenbesuchs)

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