Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Mark Edele: Stalinist Society 1928–1953. Oxford: Oxford University Press, 2011. XIII, 367 S., Tab., Graph. = Oxford Histories. ISBN: 978-0-19-923640-4.

Diese Geschichte der sowjetischen Gesellschaft während des Stalinismus aus der Feder Mark Edeles hinterlässt einen gemischten Eindruck. Der Autor hat das Buch als einen Essay konzipiert, der eine Antwort auf die Frage: „Was war die stalinistische Gesellschaft?“, liefern soll, und in neun Kapitel gegliedert ist. Zu diesem Zweck hat er die immer stärker ausufernde Literatur gründlich bearbeitet und setzt zu einer wahren tour de force angesichts der Materialfülle und der Themen an. Hierbei geht er in seiner Interpretation von einer „neo-totalitären Politökonomie des Stalinismus“ aus (S. 5). Was sich hinter diesem Ansatz verbirgt, erfährt der Leser erst am Ende des Essays. Eingangs betont Edele den Unterschied zwischen utopischem Anspruch des Regimes und ernüchternder Realität, die relative Schwäche des Staates sowie die eingesetzten ökonomischen Anreizmechanismen. Wie der Verfasser nun exakt seinen eigenen „neo-totalitären“ Zugang definiert, bleibt dem Rezensenten auch nach der Lektüre unklar, zumal sich das Stichwort nicht einmal im Schlagwortverzeichnis findet. Die „Politökonomie des Stalinismus“ entpuppt sich beim näheren Hinsehen gar als eine Binsenweisheit, obwohl sie der Verlag im Klappentext als die wesentliche Erkenntnis des Werks verkauft. Übersetzt in Alltagssprache wurde die fragmentierte Gesellschaft unter Stalin laut Edele nämlich von der wirtschaftlichen Notwendigkeit zusammengehalten, den formellen und informellen Regeln der stalinistischen Kommandowirtschaft folgen zu müssen, um nicht zu verhungern (S. 209). Nun gilt diese Art der Befolgung von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten für alle armen Gesellschaften und ist keine Besonderheit des Stalinismus. Und selbst in reichen Gesellschaften orientiert sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung an den Spielregeln des bestehenden Wirtschaftssystems. Hiermit möchte ich keinesfalls Vulgärmarxismus betreiben, sondern nur darauf hinweisen, wie einleuchtend und doch banal eine zentrale These Edeles ist. Sie lässt sich notfalls in Form eines knappen Aufsatzes belegen und bedarf wahrlich nicht der Buchform.

Um dem Autor gerecht zu werden, muss betont werden, dass er im Regelfall auf einem wesentlich höheren Niveau argumentiert und seinen Essay insgesamt höchst interessant und kenntnisreich aufgebaut hat. Die Frage, für wen er eigentlich schreibt, bleibt allerdings unbeantwortet. Der Spezialist wird sich an zu umfangreichen Erläuterungen des Bekannten stören, während zahlreiche Passagen für den Studenten zu dicht geschrieben sind, oder beispielsweise die Diskussion des Forschungsstandes im neunten Kapitel zu viel Vorwissen voraussetzt. Die Form des Essays ermöglicht es, schneller von Thema zu Thema zu wechseln; dies erschwert es wegen der Sprunghaftigkeit jedoch, dem Fließtext gut zu folgen. Störend ist der mitunter flapsige Ton – beispielsweise „old Karl“ anstelle von Karl Marx (S. 125).

Im ersten Kapitel verwendet der Verfasser einen Kunstgriff, um sein Thema praktisch einzuführen; er stellt eine „stalinistische“ Biografie vor und interpretiert diese. Damit gelingt es ihm, mehrere Themen bereits im Vorfeld einzuführen und eine gewisse Spannung aufzubauen. Das zweite Kapitel widmet sich dem Terror, wobei Edele weniger einen „Gärtner“- als vielmehr einen „Holzfällerstaat“ am Werke sieht. Hierbei ignoriert er aber zahlreiche neuere Arbeiten zu Unterdrückungsmaßnahmen im Spätstalinismus, die eben von Bürokratie, Kartotheken und polizeilicher Kleinarbeit getragen wurden, also tatsächlich dem „Gärtnerstaat“ nahe kamen. Im dritten Kapitel untersucht Edele das Chaos, wobei er eher auf verschiedene Formen der Mobilität – seien sie geographisch oder sozial – eingeht. Anschließend thematisiert der Verfasser die Familie als eine zentrale Einheit der stalinistischen Gesellschaft.

Das fünfte Kapitel untersucht unter der Überschrift der „hinkende Behemoth“ den Staat, der zerstören konnte, aber zu schwach war, etwas aufzubauen (S. 119). Dass der Staat unter Stalin eher ein schwacher und gleichzeitig extrem zerstörerischer war, darüber dürfte heute ein gewisses Maß an Einigkeit herrschen. Aber dieser Staat vermochte trotz aller Defizite, Institutionen aufzubauen, die bis zum Ende der Sowjetunion Bestand hatten. Auf dieses Paradox geht Edele nicht ein.

Bei der Wahl seiner Überschriften geht der Verfasser mitunter etwas kryptisch vor, hinter „Apokalypse, Dialektik und das Wetter“ verbirgt sich ein Kapitel zu ideologischen Fragen, wobei dieser Begriff sehr weit gefasst ist und auch Religion, Nationalitäten oder Kriegsgerüchte umfasst. Daran schließt sich ein Kapitel unter dem Titel „Danke, Genosse Stalin“ an, das hauptsächlich, aber nicht nur, verschiedene Nutznießer des Systems behandelt, aber auch die unterschiedlichen Methoden des Eskapismus. Edele gelingt es, viele Themen in knapper Form auf dem neuesten Forschungsstand auszuarbeiten, aber sie passen oftmals nicht in das Format eines Kapitels.

Die Ausführungen des Autors zur Wirtschaft in Kapitel 8 sind, wie oben angedeutet, nicht gerade originell und beruhen vielfach auf einem seit langem bekannten Stand. Dem Verfasser ist sicherlich beizupflichten, dass die Wirtschaftsgeschichte des Stalinismus seit Jahrzehnten vernachlässigt worden ist (S. 242). Würde er sich allerdings selbst auf dem Gebiet auskennen, wüsste er, dass es abseits der von ihm gescholtenen Ökonometrie eine Vielzahl von Methoden gibt, die sich auf den stalinistischen Fall anwenden ließen und vereinzelt bereits angewandt wurden.

Im Schlusskapitel liefert Edele eine Mischung aus Forschungsüberblick und teilweise polemischer Auseinandersetzung mit der englischsprachigen Fachliteratur. Hierbei geht er an einigen Stellen stark ins Detail, an anderen werden schlichtweg Rechnungen beglichen. Der Autor belegt überzeugend, wie komplex sein Untersuchungsgegenstand ist. In vielen Einzelfragen gibt es eben keine einfache Antwort, und wir benötigen viele verschiedene Erklärungsansätze.

Zusammenfassend gesagt, bleiben einige zentrale Thesen Edeles schwach, trotzdem ist ihm ein streckenweise anregender Essay zur stalinistischen Gesellschaft gelungen. Er lädt ein zum Nachdenken, zur Diskussion und zum Widerspruch.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Mark Edele: Stalinist Society 1928–1953. Oxford: Oxford University Press, 2011. XIII, 367 S., Tab., Graph. = Oxford Histories. ISBN: 978-0-19-923640-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mertelsmann_Edele_Stalinist_Society.html (Datum des Seitenbesuchs)

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