Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Stephan Merl

 

Guns and Rubles. The Defense Industry in the Stalinist State. Ed. by Mark Harrison. New Haven, London: Yale University Press, 2008. XXVI, 272 S., Tab. = The Yale-Hoover Series on Stalin, Stalinism, and the Cold War. ISBN: 978-0-300-12524-5.

Der Sieg über den Faschismus gilt einigen Historikern bis heute als Beleg dafür, dass die von Stalin eingeschlagene Politik richtig war. In den dreißiger Jahren wurden in der Sowjetunion enorme Rüstungsanstrengungen unternommen. Dennoch wissen wir bisher wenig darüber, wie der Rüstungssektor in der Praxis funktionierte. Erwies sich hier die administrative Kommandowirtschaft als geeignet, um die staatlichen Mittel mit maximaler Effizienz einzusetzen? Müssen wir zwei Teile der Sowjetwirtschaft unterscheiden: eine ineffiziente Zivil- und eine hocheffiziente Rüstungsindustrie? Und war die sowjetische Organisation des Rüstungssektors möglicherweise der westlichen überlegen? Der vorliegende Sammelband will diese Fragen auf Basis des jetzt verfügbaren Archivmaterials beantworten. Mark Harrison, ein ausgewiesener Spezialist für das Thema, hat ihn in Zusammenarbeit mit Paul Gregory konzipiert und ist zugleich der Hauptautor der Beiträge.

Harrison zieht zur Interpretation des Archivmaterials wirtschaftswissenschaftliche Modelle heran. Wo es um die Funktionsweise des Stalinschen Wirtschaftssystems geht, ist die Unterstellung von eigeninteressegeleiteten Akteuren in Anlehnung an die rational choice theory äußerst hilfreich. Wenn Harrison im ersten Kapitel auf Basis seiner Modelle aber auch Aussagen zum Terror oder zum Vergleich mit der Diktatur Hitlers machen will, zeigen sich schnell die Grenzen. Ohne sich mit der einschlägigen Literatur auseinanderzusetzen oder ein Vetorecht der Quellen anzuerkennen, bezeichnet er den Holocaust als Kampf gegen eine äußere Bedrohung durch die Juden und Stalin als guten Diktator, der durch seinen Widerstand gegen Hitler mehrere zehn Millionen Russen, Amerikaner und Europäer vor dem Tod rettete (S. 24 und 258–259). Dem Leser sei geraten, diese Abschnitte einfach zu überspringen.

Die einleitenden Kapitel gehen den Fragen nach, warum Stalin einen so gewaltigen Rüstungssektor wollte und welche Bedeutung dieser bei der Erlangung und Bewahrung seiner Macht spielte (Harrison), wie sich die Interessenlage von Rüstungsindustrie und Armee bis Ende der zwanziger Jahre entwickelte (Andrej Sokolov) und wie die Rüstungs- und Militärplanung in den dreißiger Jahren organisiert war (Harrison und Andrej Markevič). In den drei Kapiteln des Hauptteils zeigt Markevič die erheblichen Probleme auf, die Planung der Rüstungsindustrie zu koordinieren. Robert W. Davies untersucht die Qualität der Mobilisierungsplanung für den Angriffsfall, und Harrison und Markevič gehen auf die interne Organisation des Waffenmarktes ein. Die drei abschließenden Kapitel werfen ein Schlaglicht auf entscheidende Spezialfragen: Michail Muchin untersucht die Motivation der Arbeitskräfte in der Rüstungsindustrie, Harrison klärt am Beispiel der Entwicklung von Flugzeugmotoren, wie technologischer Fortschritt erzielt wurde. Abschließend untersucht er, wie sich die von Stalin angeordnete exzessive Geheimhaltung auf die Effizienz des Militärsektors auswirkte.

Die Beiträge belegen, dass Fragen der Rüstung im Zentrum von Stalins Diktatur standen. Doch Stalins Regime war keine Militärdiktatur. Stalin wollte militärische Macht, um sich vor äußeren Gefahren zu schützen, ohne seine eigene Machtposition aufs Spiel zu setzen. Die Beziehungen zwischen der Rüstungsindustrie und dem Militär gestaltete er so, dass ein seine Macht gefährdender Militär-Industrie-Komplex nicht entstehen konnte: „It was Stalin’s system of rule to keep the Army and Industry divided from each other, and to structure the incentives facing them so that they gained more from mutual rivalry, including shirking mutual obligations and cheating each other, than from setting out to cooperate“ (S. 256). Die Rüstungsindustrie wurde nicht der Kontrolle des Militärs unterstellt, vielmehr musste das Militär seine Bestellungen von Waffen und Ausrüstungen über einen vom Diktator befohlenen internen Markt an die Industrie richten, also „Kanonen für Rubel“ kaufen. Auch die Rüstungsindustrie war darauf angewiesen, sich erforderliche Ressourcen über Schwarzmärkte zu besorgen, weil die Pläne ihren Bedarf nicht korrekt regelten. Die Armee durfte zwar ihre Agenten zur Kontrolle von Produktion und Qualität zur Industrie entsenden. Doch wirksame Sanktionen standen den Agenten nicht zur Verfügung. Im Verborgenen kam es deshalb vielfach zu Aushandlungsprozessen, bei denen sich die Agenten des Militärs an der Fälschung der Berichterstattung der Rüstungsindustrie nach oben beteiligten, um im Gegenzug ein Mindestmaß an Qualität bei den Waffen zu erreichen (S. 165–179). In starken Militär- und Industrieführern erblickte Stalin vor allem eine Gefahr für seine eigene Macht. 1937 schaltete er deshalb Ordžonikidze und Tuchačevskij aus und nach dem Zweiten Weltkrieg diejenigen, die als erfolgreiche Wirtschafts- und Militärführer Ansehen errungen hatten (S. 255).

Der Rüstungssektor war zwar privilegiert, blieb aber in allen Bereichen ein Teil der sowjetischen Wirtschaft und Gesellschaft. Die Beiträge lassen keinen Zweifel daran, dass er unter den gleichen Mängeln wie die Zivilindustrie litt. Der Ressourceneinsatz war genauso verschwenderisch. Die Detailplanung erfolgte simultan in zwei getrennten Bürokratien: der militärischen, die Bedarfe formulierte, und der industriellen, die für die Lieferung zuständig war. Konkurrierende Zuständigkeiten und die Einmischung von dritter Seite aufgrund der dem Rüstungsbereich beigemessenen Priorität waren dafür verantwortlich, dass die Planung hier noch schlechter funktionierte als für die Zivilindustrie. Die Aufstellung der Pläne verzögerte sich häufig stark oder scheiterte sogar ganz. Die Geheimhaltung wirkte letztlich vor allem dysfunktional: „[…] secrecy was one of those structures of Soviet life to which everyone could adapt and from which anyone could learn to turn a ruble“ (S. XVII). Von ihr profitierte vor allem die Rüstungsindustrie, die dadurch die Weitergabe elementarer Informationen nicht nur an die Kunden, sondern selbst an die Kontrolleure und die Rüstungsplaner verweigern konnte. Harrison betont, dass auch in Marktwirtschaften die Märkte für Rüstungsgüter in der Regel nicht funktionieren, weil die wenigen großen Waffenbetriebe ihre Monopolsituation gegenüber Staat und Militär ausnutzen, um durch Lieferverzögerungen die Kosten nach oben und zugleich die Qualität nach unten zu treiben. Die Beiträge weisen nach, dass sich die sowjetische Rüstungsindustrie der gleichen Verhaltensweisen bediente. Auch die zentrale Kontrolle vermochte sie daran nicht zu hindern. Der technische Fortschritt im Flugzeugbau beruhte nicht auf der Weitsicht des Diktators, sondern eher auf systemwidrigem Verhalten: auf dem Ehrgeiz der Erfinder, die sich als Lobbyisten für ihre Ideen betätigten und sich auch durch Repressionen und Fehlschläge nicht unterkriegen ließen, und auf der Konkurrenz zwischen Armee, Rüstungsministerium und NKVD, die unabhängig voneinander Entwicklungsbüros, und sei es im Gulag, unterhielten, um den anderen im Wettkampf um Neukonstruktionen auszustechen.

In seinem eigentlichen Kompetenzbereich, den Aussagen zum Rüstungssektor, vermag der Sammelband unser Wissen um die Funktionsweise der Diktatur Stalins wesentlich zu erweitern. Er zwingt dazu, bisherige Vorstellungen von zentraler Kontrolle zu revidieren, indem er die regulierende Rolle des Diktators in Zweifel zieht. Jeder wirtschaftlich Handelnde versuchte die Kommandos zu beeinflussen oder zu ignorieren. Wenn wir die persönlichen Ziele der Manager, Arbeiter und Wissenschaftler in den Blick nehmen, dann erscheint die Organisation des Rüstungssektors gar nicht mehr als irrational, chaotisch und spannungsgeladen. Sie erweist sich vielmehr als beeinflusst von kalkulierten Aktionen rationaler Agenten, die aus ihrer jeweiligen Situation heraus eigene Interessen verfolgten und eben damit sicherstellten, dass die Förderung des Rüstungssektors nicht völlig im Chaos versank. In der alltäglichen Zusammenarbeit der Agenten vollzog sich ein illegales, aber höchst effektives Aushandeln, das die schlimmsten Mängel der Kommandos von oben beseitigte. Das Gesamtergebnis, gemessen an Waffen und Ausrüstung, reichte aus, um Deutschland zu besiegen. „The extent to which Stalin was able to secure these outcomes is one measure of his efficiency as a dictator“ (S. 257).

Stephan Merl, Bielefeld

Zitierweise: Stephan Merl über: Guns and Rubles. The Defense Industry in the Stalinist State. Ed. by Mark Harrison. New Haven, London: Yale University Press, 2008. XXVI, 272 S., Tab. = The Yale-Hoover Series on Stalin, Stalinism, and the Cold War. ISBN: 978-0-300-12524-5, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Merl_Guns_and_Rubles.html (Datum des Seitenbesuchs)

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