Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Stephan Merl

 

Spielplätze der Verweigerung. Gegenkulturen im östlichen Europa nach 1956. Hrsg. von Christine Gölz / Alfrun Kliems. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2014. 506 S., 54 Abb. ISBN: 978-3-412-22268-0.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1045041610/04

 

Verbreitet findet sich eine dichotomische Einordnung von Kunst und Kultur in den sozialistischen Staaten: Auf der einen Seite steht die im Westen abfällig und negativ eingestufte „offizielle Kunst“, auf der anderen Seite die „wirkliche“ Kunst, die von Dissidenten in systemkritischer und entlarvender Weise geschaffen worden ist. Der vorliegende Sammelband macht deutlich, dass dies eine sehr einseitige und stark verzeichnende Wertung ist. Er betritt zum einen Neuland, wenn er den Blick über die Epochengrenze 1989/1991 hinweg auf die gesamte Zeit von Mitte der 1950er bis zum Beginn der 2010er Jahre wirft. Damit gelingt es, Wandel und Kontinuität in den künstlerischen Ausdrucksformen und Aktionen einzufangen. Kritik an den Verhältnissen unter den realsozialistischen Regimes ist dem Anprangern einer neoliberalen Politik oder der Rückkehr zu autoritären Herrschaftsformen gewichen. Zum anderen sind die hier eingeführten Begriffe „Spielplätze“ und „Verweigerung“ geeigneter als die binäre Schwarz-Weiß-Malerei mit „Dissens“ und Konformität, um sich mit den künstlerischen Ausdrucksformen zu beschäftigen. Sie erlauben eine abgewogene und genauere Verortung. Die vorgestellten Künstler entzogen sich dem offiziellen Kunstschaffen. Ihre Motive und ihre Breitenwirkung waren aber sehr unterschiedlich. Auch wenn sich in ihrem Umfeld „Dissens“ verbreitete, waren die meisten eher unpolitisch. Einige Künstler hatten vor allem den kommerziellen Erfolg im Westen im Blick. Begrüßenswert ist deshalb, dass einige Beiträge auch nach den Motiven der Künstler fragen oder die Rezeption bzw. die Diskussion im Lande über ihre künstlerischen Aktionen einbeziehen.

Die 21 Beiträge des Sammelbandes gingen aus dem BMBF-Projekt Spielplätze der Verweigerung. Topographien und Inszenierungsweisen von Gegenöffentlichkeit in Ostmitteleuropa hervor, das am Geisteswissenschaftlichen Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig von 2011 bis 2013 angesiedelt war. Es geht keineswegs nur um die Ausweitung des Spielraums für künstlerische Ausdrucksformen nach Stalins Tod. So bezieht sich die Mehrzahl der Beiträge auf die Zeit nach dem Ende der realsozialistischen Regimes. Bemerkenswert ist der sehr breite regionale Einzug. Thematisch sind u. a. Literatur, Film, Architektur, Plastik, Musik und Happening vertreten.

Das Projekt zielte in dem unübersichtlichen semantischen Feld auch auf Begriffsklärungen. In der Einleitung werden der konzeptionelle Hintergrund erläutert und die Begriffe definiert. Der Blick ist auf „Resistenzformen“ gerichtet, die nach Ansicht der Projekt-Initiatoren „ästhetisch nachhaltiger“ waren als Dissens oder zivilcouragiertes Auftreten. Die Künstler hätten überwiegend bewusst auf eine direkte gesellschaftliche Wirkung verzichtet, um sich ihre Radikalität zu bewahren. Deshalb wird von „Strategien der Verweigerung“ (S. 9) gesprochen. Unter „Verweigerung“ wird eine individuelle oder kollektive Haltung verstanden, die ein Sich-Verschließen gegenüber Systemansprüchen, eine ostentative Absage an Anpassung, Konformität und Zustimmung darstellt und die sich nur künstlerisch ausdrücken kann. Damit ist “Verweigerung“ weiter gefasst als das einschlägige Wortfeld um Rebellion und Widerstand. Das greift explizit eine häufig defensive Eigenperspektive auf. „Verweigerung betont dann die – auch vermeintliche – Option, sich konsequent zu entziehen: und zwar politischer Vereinnahmung genauso wie ästhetischen Strömungen und Ismen, seien sie gesellschaftlich oktroyiert oder subdominant“ (S. 11). Unter dem zweiten zentralen Begriff „Spielplätze“ verstehen die Herausgeber nicht bloße Schauplätze: „Vielmehr handelt es sich in unserem Sinn um metaphorisch verstandene Orte, die einen eigenen, vom gesellschaftlichen Normsystem abweichenden Existenzmodus zu entwerfen versuchten.“ (S. 10) Gemeint sind also Felder und Formationen von Kunst und Kultur. Zudem ist der Begriff Spielplatz im Diskurs der Moderne positiv verknüpft mit neu, avantgardistisch, aber auch mit unfertig. Er deutet auf den urbanen Raum. Zentral ist für viele Beiträge auch der Begriff underground. Die Herausgeber beziehen ihn auf eine spezifische künstlerische Strategie, die in ihrer Inszenierung von Verweigerung auch Pathos und Rotzigkeit sowie einen guten Schuss Infantilität einschloss (S. 12).

Die Beiträge werden in vier Abschnitten präsentiert. Der erste (Verweigerungspiele. Alltag, Sozialismus, Underground, S. 23–152) ist experimentellen Kunstformen vor 1989/91 gewidmet. Im zweiten Abschnitt geht es um Ansätze, das „sozialistische Erbe“ in Theater, Literatur, Kunst und Architektur neu zu verhandeln (S. 153–261). Im dritten Teil behandeln fünf Beiträge „Blöd-Sinn“ (S. 263–374). Spielarten der Figur des Schelms stecken in unzähligen Narren, Idioten, Einfältigen und Verrückten. Schließlich gehen die Beiträge der vierten Sektion (Art/Protest. Aktiv, Kritisch, Käuflich, S. 375–492) auf kontroverse Positionen ein, mit denen um die „rechte Kunst“ und das „richtige politische Handeln“ gefochten wird. Damit kommt der Bogen, den der Sammelband zieht, an ein vorläufiges Ende: „Vom spielerischen Moment scheint nicht mehr viel übrig geblieben zu sein, wenn künstlerische Positionen aufeinander prallen, erst recht nicht, wenn staatliche Gewalten erneut beginnen, mit Regulativen und Sanktionen in das Spiel einzugreifen“ (S. 21).

Ich möchte im Folgenden auf einzelne Beiträge und Aspekte verweisen, die mir aus der Perspektive des Historikers besonders interessant erscheinen und zugleich die Breite der verhandelten Themen andeuten. Im ersten Abschnitt befasst sich Rüdiger Ritter mit dem Jazz im Ostblock (S. 49–65). Jazz lasse sich nicht eindeutig einer offiziellen oder nicht offiziellen Kulturszene zuordnen, sondern habe zwischen spielerischer Verweigerung und staatlicher Instrumentalisierung gestanden. Kein einziger osteuropäischer Jazz­musiker habe offen Protest geäußert. Während die amerikanischen Akteure mit ihrem Setzen auf Jazz im Ostblock die Idee politischer Freiheit verfolgten, dominierte im Ostblock-Publikum selbst ein starker Wille nach persönlicher Freiheit. Die gesellschaftliche Kraft des Jazz sei deshalb aus der Möglichkeit erwachsen, individuelle Freiräume aufzubauen und sie zu erhalten. Heinke Fabritius stellt ein Netzwerk von underground-Akteuren vor, das nach der Militärintervention von 1968 entstand (S. 66–83). Gal Kirn befasst sich mit dem neuen jugoslawischen Film der 1960er Jahre (S. 85–105). Junge Amateure und experimentelle Künstler thematisierten negative Auswirkungen der jugoslawischen Modernisierung. Christine Gölz schildert einen Skandal von 1971 (S. 106–128). Ein Londoner Verlag publizierte damals eine vorgeblich aus dem russischen underground stammende Story über das Supergirl Octobriana. Das Märchen von der Kiewer politischen Pornografie bediente ideal das politische Feld des Kalten Krieges und eine provokant mit Sex und Nacktheit spielende westliche Kultur. Bereits nach einer Woche stand fest, dass es sich um eine Fälschung handelte. Agnieszka Couderq behandelte die Protestbewegung Orange Alternative, die in Polen mit der Form des Happenings gegen die Verhängung des Kriegsrechts protestierte (S. 129–152).

Im zweiten Abschnitt stellt Laura Burlon Pawel Demirskis Konzept des engagierten Theaters vor (S. 155–173). Er benutzte kanonische Texte, um die Zuschauer zu aktivieren und zu verändern. Dazu bezieht er sie in die Reflexion der Normen und Regeln des Dramas ein. Matteo Solombis fragt nach den Ursachen für das Revival des Partisanenthemas in der heutigen slowenischen Kunst und Literatur (S. 174–201). Linke Akteure nutzten die Tradition des Partisanenwiderstands für ihren neuen Kampf gegen Missstände der globalisierten Gesellschaft. Mehrere Beiträge wollen sich nicht mit der reinen Negativwertung der sozialistischen Moderne in der Architektur abfinden. Sie kritisieren die pauschale Übertragung westlicher Wertvorstellungen über die „Platte“ auf den Osten. Zunächst untersucht Dominik Bartmanskij am Beispiel des Warschauer Kulturpalastes, „Wie man als kommunistische Ikone den Kommunismus überdauert“ (S. 202–221). Obwohl das Bauwerk geradezu als „Phallussymbol des Stalinismus“ für die sowjetische Dominanz über Polen stand, gelang es, einen neuen Zugang zu finden. Anders als der „Palast der Republik“ in Berlin war der Standort kein sakraler Ort. Die Ikonizität des Kulturpalasts konnte von der Popkultur in Szene gesetzt werden. Mary Dellenbaugh setzt sich kritisch mit der Stigmatisierung Berlin-Marzahns auseinander. Sie führt die negative Konnotation der „Platte“ auf die „kulturelle Übernahme“ durch die aus dem Westen importierten Eliten zurück. Diese hätten ihre postmoderne Prägung mitgebracht und die semiotische Verknüpfung von Plattenbautechnik mit negativen sozialen Charakteristika auf die Neubauten von Marzahn übertragen. Dort seien die Plattenbauten aber weder Ergebnis des sozialen Wohnungsbaus noch soziale Brennpunkte gewesen, sondern vielmehr Wohnsitz einer politisch gut eingegliederten Elite (S. 222–237). Die Stigmatisierung erfolgte von oben, Presse und Bürokratie hätten daran einen entscheidenden Anteil gehabt. Auch Silviu Aledea prangert die Transformationen der postsozialistischen Stadtlandschaften durch die aggressive Übertragung der Kommerzialisierung der Stadt und der westlichen Kulturideologie an (S. 238–261). Ihm geht es um eine grundsätzliche Reflexion über die Rolle der Stadt, wobei er Funktionalität höher als ästhetische und historische Assoziationen bewerten will. Die sozialistische Moderne habe das Potential, als Anti-Gentrifizierungs- und Anti-Kommerzialisierungs-Strategie zu wirken.

Im dritten Abschnitt bezeichnet Raoul Eshelman Narren als „Epochenträger“ der osteuropäischen Kultur (S. 265–281). Er illustriert das mit Figuren aus tschechischen und polnischen Filmen zwischen 2002 und 2005 und stellt fest, dass sich in den letzten 15 Jahren im östlichen Europa ein Narrentypus herausgebildet habe, der sich strukturell stark von den karnevalesken, psychotischen und diskursiv bestimmten Narren der Postmoderne unterscheide. Reka Gulyas wirft einen Blick auf Idioten, Verrückte und Narren in der ungarischen Filmkunst (S. 282–303). Für ihn ist das Narrentum schlicht eine Folgewirkung einer ernsthaft verrückten Welt. Der Narr, wie er in Tradition vor 1914 und während des Zweiten Weltkrieges entwickelt wurde, werde jetzt wieder aktiviert. Ulrike Heine behandelt die künstlichere Strategie des russischen Künstlerensembles Blue Noses und das kuratorische Konzept (S. 317–336). Die beiden Künstler präsentierten sich als naive Hinterwäldler und Trunkenbolde. Als neue „Gottesnarren“ ging es ihnen um die Dekontextualisierung von Symbolen. Sie posierten, nur mit Unterhosen und schwerem Schuhwerk bekleidet, auf Straßen und Plätzen Moskaus vor Sakralbauten. Nacktheit diente ihnen als Symbol der Mittellosigkeit und schutzloser Naivität. Ihre Ausstellung SozArt. Politische Kunst in Russland führte zu einer Klage wegen der Verletzung der Gefühle der Gläubigen.

Im vierten Abschnitt untersucht David Williams am Beispiel des österreichischen Filmregisseurs Seidl, inwieweit die „voyeuristische“ Funktion von Sichtbarkeit vor allem eine raffinierte Strategie der Selbstvermarktung ist (S. 377–391). Er kritisiert Seidls Hang, Sex und Nacktheit explizit vorzuführen und Grausamkeit mit geopolitischen Obertönen zu versehen. Stephan Krause stellt zwei ungarische Künstler vor, die durch  inszenierte Naivität versuchen, Kritik an den politischen Verhältnissen unter der Regierung Orban zu üben und das national grundierte ungarische Geschichtsnarrativ anzugreifen (S. 392–418). Dabei decken sie die „instrumentalisierte Sprache des Politischen“ auf. Henrike Schmidt untersucht den Status des Obdachlosen in der bulgarischen Literatur der Transformationszeit (S. 419–443). Die Präsenz des Themas stehe in Umkehrrelation zum soziologischen Befund ihrer Unsichtbarkeit. Obdachlose dienten als Denkfigur in Zeiten prekärer Existenz. Matthias Schwartz schildert künstlerische Artikulationsformen der „Plattenbau-Generation“ in Polen (S. 444–464). Junge Prosa und Drama machten die Wohnblocksiedlungen an den Stadträndern zum Inbegriff des Scheiterns. Der Begriff „bloki“ (Blockbewohner) stehe für Prügeleien mit Todesfolge, Drogenhandel und Arbeitslosigkeit. Das diene als Projektionsfläche für Schreckensvisionen und Angstphantasmen. Schließlich beschreibt Matthias Meindl am Beispiel der Gruppe Vojna spektakuläre Aktionen des neuen Kunst-Aktivismus und die interne Auseinandersetzung russischer Künstler mit diesen Happenings (S. 465–492). Die Vertreter des Moskauer Aktionismus der neunziger Jahre würden ihren jungen Nachfolger vorwerfen, sich mit der Entgrenzung der Kunst in die Politik in eine Sackgasse zu manövrieren.

Der Band verdient durch seinen unkonventionellen Zugang Beachtung. Er präsentiert ein sehr breites Feld des künstlerischen Ausdrucks seit 1956. Die ausgewählten Kategorien erweisen sich als fruchtbar, um eine häufig umstandslos als „oppositionell“ eingestufte Kunstszene Osteuropas genauer zu differenzieren. Auf diese Weise kann nach nationalen Eigenheiten gefragt werden und die verschiedenen Motive der Künstler können auch jenseits des Politischen kontextualisiert werden.

Stephan Merl, Bielefeld

Zitierweise: Stephan Merl über: Spielplätze der Verweigerung. Gegenkulturen im östlichen Europa nach 1956. Hrsg. von Christine Gölz und Alfrun Kliems. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2014. 506 S., 54 Abb. ISBN: 978-3-412-22268-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Merl_Goelz_Spielplaetze_der_Verweigerung.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2017 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Stephan Merl. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.